Kapff, Sixtus Carl von - Anweisung zum Beten - V. Einzelne Ratschläge über das tägliche Gebet.
So viel über das Gebet im Allgemeinen. Nun möchte ich mir noch einige Ratschläge erlauben, die mehr Einzelnes betreffen. Je wichtiger das Gebet ist, desto nötiger ist es, zu wissen, wie man es anzugreifen hat, um dieses großen Segens teilhaftig zu werden. Ich meine jedoch gar nicht, dass es also müsse gehalten werden. Jeder lasse sich leiten, wie ihn der Geist treibt, denn alle Formen müssen aus dem Geist kommen; aber für die Schwächeren, die noch nicht wissen, wie sie beten sollen, ist es vielleicht nützlich, zu hören, welche Weise Anderen viel Segen gebracht hat.
Wenn du des Morgens erwachst, so wird dein verderbtes Herz gleich auf alle möglichen Gedanken kommen, irdische Bilder aller Art werden sich vor deine Augen stellen, Lüste erwachen, deine Geschäfte dich ergreifen und umtreiben, allerlei Sorgen dich beunruhigen. Gibst du dich nun dem Allem hin, ehe du betest, so wirst du immer tiefer hineingezogen, du entfernst dich dadurch von GOtt, und so entfernt sich GOtt von dir, und immer schwerer wirst du ihn finden, und so fängt schon mit dem frühen Morgen der Unsegen an. Mache es deswegen, wie Jesus im Tempel; er fand im Tempel sitzen, die da Ochsen, Schafe und Tauben feil hatten, und die Wechsler; und er machte eine Geißel aus Stricken, und trieb sie Alle zum Tempel hinaus samt den Schafen und Ochsen, und verschüttete den Wechslern das Geld, und stieß die Tische um. Solche Macht können dir drei Worte geben, nämlich die drei heiligsten Namen: GOtt, Jesus, Heiliger Geist. Spricht diese nicht bloß deine Zunge, sondern dein Geist, so wird eine heiligende Kraft davon in dich ausströmen. Deswegen rate ich dir, nach dem Erwachen die Worte zu sagen, und in den Tiefen deines Wesens wiederhallen zu lassen: GOtt, Jesus Christus, Heiliger Geist, hochgelobt in Ewigkeit. Die Ewigkeit zieht dich von der Zeit und dem Zeitlichen weg, und gibt deinen Gedanken einen Zug auf das Eine, was Not tut. Danach, wenn du dich angekleidet hast, und bist gleich zum Gebet lebendig genug, so falle auf deine Knie, so es die Umstände erlauben, und bete dein Morgengebet. Bist du aber schläfrig und träg, so bete zuerst nur kurz etwa ein Verschen oder zwei, worin Dank und Bitte um Segen kurz enthalten sind, wie ich dir nachher einige hersetzen will. Alsdann lies etwa aus dem Herrnhuter Losungsbüchlein die zwei Sprüche des Tages, welche vielleicht in der nämlichen Stunde vielen tausend Christen in allen Weltgegenden zum Segen werden, die können dich schon mehr aufwecken. Danach erfrische dich etwa durchs Waschen, besonders aber durchs Lesen im Wort GOttes. Dann wirst du zum längeren Beten gestimmt sein, und das solltest du dann nicht lang verschieben, auch wenn nötige Geschäfte da sein sollten. Je länger man das Beten aufschiebt, desto ungerner kommt man dazu, und desto schwerer findet man den HErrn. Fleißig gebetet ist halb studiert und halb gearbeitet. Ohne Gebet aber ist doch kein rechter Segen in dem, was du tust.
Für das längere Gebet empfiehlt Luther Folgendes: „Des Morgens, so du aus dem Bette fährst, sollst du dich segnen mit dem heiligen Kreuz und sagen: das Walte GOtt, d. h. im Namen GOttes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes! Amen. Danach kniend oder stehend sprich den Glauben und das Vater Unser, so du Zeit hast, auch die heiligen zehn Gebot.“ Dazu könne man noch das Gebet beten, das ich nachher hersetzen will, das bekannte das Walte rc. „Ebenso soll man Abends beim Schlafengehen sich mit dem heiligen Kreuze segnen, und den Glauben, das Vater Unser und das Walte rc. beten, und alsdann flugs und fröhlich geschlafen.“
Diese Gebete enthalten so sehr Alles, was man nur beten kann, dass sie als der eigentliche Text aller Morgen- und Abendgebete angesehen werden können. Das Vater Unser sollte jedem Gebet zu Grund liegen, denn es ist das beste und vollkommenste Gebet, und ist wie ein Brunnen, der, so wie man ihn ausgeschöpft hat, sogleich wieder voll ist. Man muss es nur nicht so kurzweg abfertigen, wie gewöhnlich geschieht, sondern bei jeder Bitte, ja bei jedem Wort mit den Gedanken verweilen, dann schließt sich Alles, was man auf dem Herzen hat, in die Worte des HErrn ein, und man kann halbe Stunden, ja Stunden lang am Vater Unser beten, wie Luther sagt: „Ich sauge an dem Vater Unser wie ein Kind, trinke und esse davon wie ein alter Mensch, kann sein nicht satt werden.“
Luthers Gebet „das Walte“ rc. ist gleichfalls Muster und Text aller eigentlichen Morgen- und Abendgebete, in welchen die Hauptgedanken immer die gleichen sind; Luther hat sie kurz und gut zusammengefasst, und sie gehören alle in jedes Morgen- und Abendgebet. Doch bloß sie zu beten ist nicht genug. Du dienst den ganzen Tag über so viele Stunden dir selbst und den Dingen dieser Welt. Soll da der Dienst des HErrn - nämlich der förmliche - in einigen Minuten abgemacht sein? Nein! Der Gottesdienst, Gebet und Bibellesen, auch etwa Singen, habe sein Recht und seine Zeit an jedem Tage, auf dass dem HErrn aller Herrn die Ehre gegeben werde, die ihm gebührt, und dass der innere Mensch kräftige Züge tue aus der ewigen Lebensquelle und gestärkt werde, durch das arme Erdenleben hindurch dem Himmel zuzuwandeln. Deswegen muss das Gebet länger dauern, und wer sich nach der Heimat sehnt, betet gern lange, wie das Kind, das das Heimweh hat, mit größter Freude recht lange Briefe aus der Heimat liest und solche dahin schreibt. Solche Briefe von uns an den himmlischen Vater, Bruder und Lehrer, und von ihm an uns sollen unsere Gebete sein. Und da ist es am besten, wenn du Luthers „das Walte“ durch das Gebet aus dem Herzen erweiterst. Jeder Tag und jeder Mensch hat seine besonderen Erfahrungen und Bedürfnisse, über welche ein anderer uns nicht leicht vorbeten kann. Deswegen sollten die vier Stücke, die zu jedem Morgen- und Abendgebet gehören, Dank, Abbitte, Bitte, Fürbitte, lieber aus dem Herzen als aus dem Buch gebetet werden. Und sollte da nicht Jeder selbst die Worte finden können! Danken für die täglichen Wohltaten des HErrn, Vergebung aller Sünden erflehen, bitten um geistlichen und leiblichen Segen und bitten für Andere, wenigstens für die Angehörigen, das sollte Feder so gut können, als das Kind sagen kann: Vater, gib mir Brot.
Den Glauben oder das christliche Glaubensbekenntnis (das apostolische Symbolum) zu beten - nicht bloß herzusagen, sondern zu beten - bringt großen Segen. Diese drei Artikel sind das Band, das die ganze Christenheit umschlingt, Katholiken, Griechen und alle evangelischen Kirchen bekennen sich zu diesen Grundlehren der Heiligen Schrift. So ist dieses Bekenntnis ein Förderungsmittel der Einheit mit der heiligen christlichen Kirche, und je tiefer wir darin eingehen, desto mehr wirkt es die Gemeinschaft der Heiligen. Sodann enthält dieses Bekenntnis die wichtigsten Heilswahrheiten, die ein Christ täglich betrachten sollte, Wahrheiten, an die wir nie ernstlich denken können, ohne dass Kräfte der zukünftigen Welt daraus auf uns wirken. Ein Christ kann durch andächtige Betrachtung des Glaubensbekenntnisses täglich einen Christtag, Karfreitag, Ostertag, Himmelfahrt, Pfingstfest feiern, und bleibt so in lebendiger Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott. Daher haben schon viele Christen, die das Glaubensbekenntnis zu schätzen wussten, es erfahren als eine wunderbare Kraft GOttes.
Wenn du so des Morgens deine Andacht verrichtet hast, so wirst du finden, welcher Segen dich zu deinen Geschäften begleitet: wogegen ein Tag ohne Gebet ein Tag ohne Segen ist. Aber aus dem Gebet muss das Gebetsleben folgen, d. h. ein Handeln und Wandeln, ein Tun und Lassen, Denken, Reden. und Tun im Geist des Gebets, als vor GOttes Angesicht. Und das Gebetsleben soll ohne Unterlass fortgehen. Aber umso in der Gegenwart des HErrn zu leben, dazu ist nötig, dass du oft zu ihm aufblickst, und wenn's nur kurze Blicke sind, wenn du ihn nur wieder siehst, dich nur wieder vor ihm hinstellest. Bei den Meisten ist das Gebet, wie wenn ein Mann seinen Sonntagsrock anzieht, und ihn danach bald wieder ablegt. So soll es nicht sein unter uns. Wir sollen beständig den Rock der Gerechtigkeit anhaben, in den wir im Gebet gekleidet werden, und unter allen Geschäften trachten, diesen Rock nicht zu beschmutzen, sondern uns unbefleckt zu erhalten von der Welt.
Für alle Zeiten unseres Lebens sollte uns das ein Vorbild sein, was 4 Mos. 9, 15-23. erzählt wird: Das heilige Gezelt war während des Zugs durch die Wüste des Tags von einer lichten Wolke bedeckt, und des Nachts von einer Gestalt des Feuers. Und so wie sich die Wolke aushob von der Hütte, so zogen die Kinder Israel, und wohin sich die Wolke bewegte, dahin zogen sie auch, aber an welchem Ort die Wolke blieb, da lagerten sich die Kinder Israel, und wenn sie Monate lang blieb, so blieben sie auch ruhig und zogen nicht. Denn nach des HErrn Mund lagen sie, und nach des HErrn Mund zogen sie, dass sie auf des HErrn Hut warteten, nach des HErrn Wort. Darin liegt für uns die Wahrheit: Auf unserem Zug durch die Wüste dieses Lebens ist der HErr beständig mitten unter uns, so wir durch den Glauben an Christum zu seinem Volke gehören. Und seiner Hut müssen wir warten, d. i. seines Winks und Willens gewärtig sein, nach seinem Wort, wie er will, wandeln, nicht wie wir wollen. Deswegen ist nötig, dass wir oft hinblicken in sein Heiligtum, um zu sehen, was sein Wille ist. Ein jeder Stundenschlag könnte uns laut rufen, aus der Flüchtigkeit der Zeit zu denken an die Ewigkeit, und zu leben dem Vater der Ewigkeit.
Besonders rate ich auch, Mittags vor zwölf Uhr zu beten. Das Essen, die träge Stimmung des Mittags, der den Schatten außen zwar klein, aber innen oft groß macht, auch wohl Ermüdung durch die Geschäfte des Vormittags, bewirkt leicht eine Abspannung, wodurch der Geist dem Fleisch viel Raum lässt, deswegen sollte auf dem Höhepunkt des Tages auch der Geist sich in die Höhe heben, und wie der Morgen gesegnet wurde durchs Gebet, so hätte der Nachmittag das ebenso notwendig, ja, weil die meisten Zerstreuungen, Besuche und dergleichen auf den Nachmittag fallen, so bedarf dieser noch mehr der Sicherung und Segnung durchs Gebet. Man isst ja auch nicht bloß Morgens und Abends, sondern des Tags drei- oder mehrmals. Soll denn der Geist weniger bekommen als der Leib? Soll denn für das irdische Leben mehr als für die Ewigkeit gesorgt werden?
So auch, wenn du an die Arbeit gehst, heilige sie und dich durchs Gebet, und wenn's auch ganz kurz ist, wenn du auch nur die Worte „der HErr segne uns“ betest. Nun denkst du, da müsse man doch auch gar zu viel beten. Versuche es zuerst, ehe du dich beschwerst, und wenn du erfahren hast, welchen Segen solche Gebetstreue in alle deine Geschäfte bringt, dann wirst du gern beten. Noch einmal: fleißig gebetet ist halb studiert und halb gearbeitet.
Abends verrichte deine Andacht wie Morgens, aber tue es nicht erst im Bett. Die Gefahr, über dem Beten einzuschlafen, ist gar zu groß, und wenn es geschieht, so ist es eine Beleidigung der heiligsten Majestät GOttes. Wenn du vor einem Menschen einschläfst, während du mit ihm redest, so hält er es billig für einen Beweis großer Nachlässigkeit und Geringschätzung. Soll denn vor dem heiligen HErrn aller Herren Alles erlaubt sein, was unter Menschen für unschicklich und gegen Höhere für sträflich gilt? Nein! was wir können, müssen wir tun, um nicht unter dem Beten einzuschlafen. Daher bete lieber, bevor du dich niederlegst, nimm aber dann vom Gebet hinweg die Gebetsstimmung, den Gebetsgeist, die Gebetskraft mit in das Bett, dass dich der Satan nicht versuche, und durch allerlei törichte und sündliche Bilder Herrschaft über dich bekomme. Die Nacht ist Niemands Freund - das gilt im Geistlichen für solche, die nicht mit Gebet einschlafen. Auf unsere Seele kann im Schlafe gar Vieles wirken. Das sieht man beim Erwachen. Oft erwacht man lebendig im Geist, freudig zum Gebet, fröhlich in GOtt, voll guter Gedanken, bewegt von hohen Dingen, oft dagegen erwacht man träg, fleischlich, mit bösen Begierden, stumpf zum Denken, missmutig, faul. Solche Verschiedenheit rührt von dem, was im Schlaf die Seele umtreibt. Deswegen suche vor dem Einschlafen durchs Gebet eine solche Stimmung und Verfassung, dass dein Herz sich verschließe gegen die Finsternis und nur für Lichtskräfte empfänglich sei. Der Engel des HErrn lagert sich um die her, so ihn fürchten, und hilft ihnen aus (Ps. 34, 8.). Schläfst du leicht ein, so bete im Bett noch kurz ein Verschen oder sonst ein Gebetlein, auswendig oder aus dem Herzen. Schläfst du lange nicht ein, so sage in Gedanken den Glauben her, und denke über jedes Stück nach, oder kannst du auch etliche der Sprüche, die du aus deinem. Spruchbuch gelernt hast, im Geiste bewegen. Das füllt deine Seele mit heiligen Bildern, und heiligt und erleichtert deinen Schlaf. So mache es, wie David sagt Ps. 63, 7.: Wenn ich mich zu Bette lege, so denke ich an dich, wenn ich erwache, so rede ich von dir.
Wenn man des Nachts aufwacht, und nicht schlafen kann, so wälzen sich Viele unruhig auf ihrem Lager und rufen düster: ist die Nacht schier hin? - Aber wer in GOtt lebt, der kann mit dem 119ten Psalm sagen: HErr, ich gedenke des Nachts an deinen Namen, und: Zur Mitternacht stehe ich auf, dir zu danken für die Rechte deiner Gerechtigkeit, und Ps. 42, 9.: Der HErr hat des Tages verheißen seine Güte, und des Nachts singe ich ihm und bete zum GOtt meines Lebens.
Selig das Herz, in welchem als einem Tempel GOttes solcher Gottesdienst fortwähret, selig, wer mit Jesaias (26, 8. 9.) sagen kann: Des Herzens Lust steht zu deinem Namen und deinem Gedächtnis. Von Herzen begehre ich deiner des Nachts, dazu mit meinem Geist in mir wache ich frühe zu dir.