Kapff, Sixtus Carl von - Anweisung zum Beten - 1. Was heißt Beten?
Das Gebet ist die Himmelfahrt des Geistes. Wie der Sohn GOttes sichtbar gen Himmel gefahren, so soll ein Kind GOttes täglich sich erheben dahin, wo Er ist. Darum müssen wir austreten aus der Welt und aus dem, was in der Welt ist, uns emporschwingen über die Erde und auch ihren Staub von unsern Füßen schütteln. So entfesselt und frei, kann der Geist aufsteigen zu seiner Heimat und suchen das Antlitz seines Vaters im Himmel. Aber nur im Sohn sehen wir den Vater; denn ohne den Sohn müssen wir sterben in unsern Sünden und zittern und beben vor dem Richter. Der Sohn allein ist der Weg zum Himmel und die Wahrheit und das Leben des Geistes. Niemand kommt zum Vater, denn durch ihn, durch die Kraft seines blutigen Versöhnungswerkes; deswegen kann unser Geist nur durch den Sohn und in dem Sohn beten zum Vater. Und so ist zu allem Gebet das Erste, dass wir Jesum Christum vor Augen und im Herzen haben. Unsere Augen müssen ihn sehen, unser Herz muss mit allen Kräften ihn umfassen. In seiner verklärten Menschheit muss er wie leibhaftig vor unserm inneren Auge stehen, und wir, gekleidet in das reine Gewand seiner Gerechtigkeit, sehen sein Gnadenantlitz leuchten über uns und werfen uns nieder zu seinen Füßen und sind mit allen Kräften Leibes und der Seele auf ihn gerichtet, und sagen ihm in sein großes, weites Herz hinein Alles, was auf unsrem armen Herzen lieget, und benetzen seine Füße mit den Tränen unsres Dankes, unsrer Schmerzen und unsrer Sehnsucht, und rufen ihn an, dass er uns gebe, was wir nötig haben nach Leib und Seele, für Zeit und Ewigkeit.
Das heißt beten - reden mit JESU und durch ihn mit dem Vater, reden wie ein Kind über Alles, was uns bewegt, über das Kleinste, wie über das Größte, denn vor Gott ist nichts klein. Das Kleine ist vor ihm groß und das Große klein. Darum darfst du ihm vortragen den kleinsten Umstand, der dir vorkommt, danken für jeden Bissen Brotes und jeden Atemzug, ihn anrufen entweder um Gebung des Guten oder um Abwendung des Bösen, sowohl im Leiblichen als in dem Geistlichen. Solches Anrufen heißt Beten. Viele meinen, das sei gebetet, wenn sie an Gott denken, von ihm reden, andächtige Gefühle haben, die Natur mit Empfindung und Dank betrachten, aus einem Buche etwas herlesen oder aus dem Kopf etwas hersagen. Aber das sind nur Anfänge. Das Gebet ist eine Rede von und aus dem Herzen zu GOtt, ein Wallen des Herzens zu Gott hin, ein Umgang mit GOtt, da wir aus der Tiefe zu ihm, als dem Gegenwärtigen rufen und mit „Du“ ihn anreden; aber nicht allein und nicht notwendig mit äußerlichen Gebärden, da könnte es kein Beten ohne Unterlass geben, der Umgang mit GOtt soll, wie das heilige Feuer im Tempel, nie erlöschen, und auch unter den Geschäften soll die zu GOtt geschaffene Seele oft mit ihrem HErrn und Heiland reden und in ihm leben, dass unser Wandel sei im Himmel. So wird das Gebet ein Opfer, darin wir Leib, Seele und Geist ihm heiligen, von und zu welchem wir Alles sind und haben, und solchen Opfers Räuchwerk steigt als ein süßer Geruch auf zu dem HErrn.