Göbel, Karl - Der ewig treue Gott und das immer halsstarrige Volk.
Wenn der Prediger Salomo sagt, es geschehe nichts Neues unter der Sonne, so meint er damit, dass in den Welthändeln, soweit sie Erzeugnisse menschlicher Gedanken und Taten sind, sich nur ein langweiliger Kreislauf kund gebe, der nichts aufzubringen vermöge, was nicht schon vorher dagewesen. Wirkliche Neuheiten und Neuerungen wirkt nur Gott im allmählichen Kommen seines Reiches, das eben nicht unter der Sonne, d. h. nicht von dieser Schöpfung ist. Obwohl Gott selbst der Unveränderliche ist, so schafft er doch von Zeit zu Zeit ein Neues, indem er im Gang seines Reiches den mannigfaltigen Reichtum seiner Herrlichkeit offenbart. Eine Bestätigung dieser Wahrheit wird uns unser Text liefern:
Da nun sich die Zeit der Verheißung nahte, die Gott Abraham geschworen hatte, wuchs das Volk und mehrte sich in Ägypten, bis dass ein andrer König aufkam, der nichts wusste von Joseph. Dieser trieb Hinterlist mit unserm Geschlecht und behandelte unsere Väter übel, und schaffte, dass man die jungen Kindlein hinwerfen musste, dass sie nicht lebendig blieben. Zu der Zeit ward Moses geboren, und war ein feines Kind vor Gott, und ward drei Monden ernährt in seines Vaters Hause. Als er aber hingeworfen ward, nahm ihn die Tochter Pharaos auf, und zog ihn auf zu einem Sohn. Und Moses ward gelehrt in aller Weisheit der Ägypter, und war mächtig in Werken und Worten. Da er aber vierzig Jahr alt ward, gedachte er zu besehen seine Brüder, die Kinder von Israel, und sah einen Unrecht leiden; da überhalf er, und rächte den, dem Leid geschah, und erschlug den Ägypter. Er meinte aber, seine Brüder solltens vernehmen, dass Gott durch seine Hand ihnen Heil gäbe; aber sie vernahmens nicht. Und am andern Tag kam er zu ihnen, da sie sich mit einander haderten, und handelte mit ihnen, dass sie Frieden hätten, und sprach: „Liebe Männer, ihr seid Brüder; warum tut einer dem andern Unrecht?“ Der aber seinem Nächsten Unrecht tat, stieß ihn von sich, und sprach: „Wer hat dich über uns gesetzt zum Obersten und Richter? Willst du mich auch töten, wie du gestern den Ägypter tötetest?“ Moses aber floh über dieser Rede, und ward ein Fremdling im Lande Madian; daselbst zeugte er zwei Söhne. - Apostelgesch. 7, 17 - 29.
Je weiter wir fortschreiten in der Betrachtung der Verteidigungsrede des Stephanus, desto nötiger ist es, dass wir uns immer wieder den Inhalt der Anklage, die gegen ihn vorlag, vergegenwärtigen. Sie lautete auf Lästerung wider Mosen und wider Gott, und zwar sollte das Lästerliche darin liegen, dass Stephanus den Namen Jesu und sein Werk verkündigte. Stephanus ruft in seiner Verteidigungsrede zur Abwehr der falschen Beschuldigung, die man ihm zur Last legte, die Geschichte des Alten Bundes gleichsam als Entlastungszeugin auf; die Führungen Gottes in der Vergangenheit wie in der Gegenwart sollen ihm bezeugen, dass das, was er in der Schule der Libertiner von Mose und von Jesu gesagt habe, nichts weniger als Lästerung sei, sondern die einzig richtige Auffassung und Beleuchtung der Taten Gottes. Stephanus will den Beweis liefern, dass die Wege Gottes mit dem Volk, mit Mose und mit Jesu dazu dienen müssten, seine Unschuld klar zu machen, und hebt dabei insbesondere zwei Wahrheiten hervor, nämlich:
l. Dass Gott derselbe sei jetzt wie damals.
II. Dass auch das Volk jetzt nicht anders sei wie damals, indem es sich jetzt gegen Jesum gerade so verhalte, wie es sich damals gegen Moses verhalten habe.
I.
Lasst uns sehen, wie Stephanus diese Behauptungen durchführt. Er leitet den neuen Abschnitt, in den die Geschichte eintritt, mit den Worten ein: Da nun sich die Zeit der Verheißung nahte, die Gott dem Abraham geschworen hatte. Wenn Stephanus des Eidschwurs gedenkt, den der Gott der Herrlichkeit getan, so will er hervorheben, dass er seine Herrlichkeit namentlich durch seine Bundestreue kundgegeben habe. Gott offenbarte sich also zunächst als den Bundesgott, als den Treuen und Wahrhaftigen, der Glauben hält ewiglich. Gott erfüllt seine Verheißung Schritt vor Schritt in zwar langsamem, aber unaufhaltsamem Gang durch Jahrhunderte hindurch; er lässt sich durch keine Verkehrtheit der Menschen, durch keine Bosheit der Teufel von seinem Wege, sein Wort wahr zu machen, abbringen. Gottes Weg ist nicht der einer Lawine, die sich überstürzt und im Sturz alles vor sich niederwirft und zerstört, sondern der eines ruhigen, majestätischen Stromes, der segnend und fruchtbringend seinem Ziel zufließt. Die Untreue des Hauses oder Volkes Jakob konnte die Treue Gottes nicht aufheben, denn er hatte geschworen. Der treue Bundesgott heißt aber auch Wunderbar, denn wunderbar waren seine Veranstaltungen, um das vorgesetzte Ziel zu erreichen. Das erste Wunder war der Segen der Vermehrung: das Volk wuchs und mehrte sich in Ägypten. Aus dem Hause Israels war ein Volk geworden und es nahm unglaublich schnell zu, wenn gleich unter Druck und Drangsal der Fremdlingsschaft und Knechtschaft, wie es schon dem Abraham geweissagt war (vgl. V. 6). Die Drangsal kam von einem Pharao, der von Joseph nichts wusste (V. 18), oder nichts wissen wollte. Die zweite wunderbare Veranstaltung Gottes war die Erwählung eines Heilandes.
Als das Haus Jakobs Trübsal gehabt hatte in der Teuerung und Hungersnot, siehe, da war ihm in Joseph der Heiland schon zubereitet; als das Volk Jakobs Drangsal in der Knechtschaft Ägyptens erlitt, da sorgte Gott ebenfalls für einen Heiland in der Person Mosis. Wie wunderbar Joseph zum Heiland zubereitet wurde, haben wir in der vorigen Predigt gesehen, nämlich durch Misshandlung, Ausstoßung, Sklaverei, Unrechtleiden in Potiphars Haus, Gefängnis, Traumdeutung usw. Wie wunderbar Moses zum Heiland erwählt und erzogen wurde, haben wir heute zu betrachten, und wir werden dabei erkennen, wie Gott sich in diesem seinem Tun als der freie, allmächtige, allerhöchste Gott offenbart, der schaffen kann, was er will, und regieren, wie er will und erwählen, wen er will, mit einem Wort, wie er sich als den Gott der Herrlichkeit kund gibt.
Wunderbar geht der Herr zu Werk in der Erwählung, das will uns Stephanus zu Gemüt führen in den Worten: Moses war ein feines Kind vor Gott (V. 20). Die Schönheit des Kindes in den Augen Gottes war der Grund der Erwählung. Bei einer anderen Gelegenheit sehen wir, dass die äußere Gestalt eher ein Grund der Verwerfung als der Annahme war, nämlich, als Gott zu Samuel, der den ältesten Sohn Isais zum König zu salben gedachte, sprach: „Siehe nicht an seine Gestalt noch seine große Person, ich habe ihn verworfen, denn es geht nicht wie ein Mensch sieht. Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an1)“. Will nun ein vorwitziges Menschenkind fragen: Warum tust du einmal so und das andere Mal anders, so antwortet der Herr: „Welchem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und welches ich mich erbarme, des erbarme ich mich,“ und Paulus setzt hinzu: Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich also?2)
Wunderbar geht ferner der Herr zu Werk in der Führung seiner Auserwählten. Es war der Ratschluss Gottes, dass Moses der Heiland seines Volkes werden sollte. Da hätte man nun denken sollen, Gott hätte eine Wache von Engeln um seine Wiege gestellt und mit Donner und Blitz seine Verfolger zurückgeschreckt. Aber nichts von Alledem geschieht, sondern es geht bei der Bewahrung und Rettung des Moseskindes so gewöhnlich, so natürlich zu, dass nur der Glaube die Hand Gottes erkennt und ein Ungläubiger Alles hatte auf den Zufall schieben können. Die Mutter muss das Kind drei Monate heimlich ernähren in seines Vaters Hause (V. 20). Der Mutter wird also die Wahl eines natürlichen Rettungsmittels nicht erspart und keine Sorge und kein Nachdenken beim Verbergen; und als es mit dem Verbergen nicht mehr gehen wollte, sinnt die scharfsinnige Mutterliebe auf einen klugen und zärtlichen Ausweg und trägt das Kind in einem Kästchen an den Nil, wo es die Tochter Pharaos findet (V. 21). Moses war also scheinbar von Gott preisgegeben, aber auch nur scheinbar, denn der Bundesgott lässt sich nicht von einer Mutter an Fürsorge übertreffen. Dass Alles, was mit dem Moseskind geschah, ein Werk Gottes war und ein viel herrlicheres Werk, als wenn es durch den sichtbaren Dienst der Engel und durch Zeichen und Wunder geschehen wäre, sehen wir aus Hebräer 11,23, wo es heißt: „Durch den Glauben ward Moses verborgen drei Monate von seinen Eltern und sie fürchteten sich nicht vor des Königs Gebot.“ Gott ist eben ein verborgener Gott, oder wie der fromme Volksdichter singt:
Er stehet, wo und wie ihr seid.
Euch heimlich hinter'm Rücken.
Die Zurückhaltung Gottes, dass er Mosis Rettung nur mit natürlichen, menschlichen Mitteln ausrichtete, war auffallend, aber im höchsten Grade befremdend waren die Maßnahmen Gottes bei der weiteren Erziehung des Moses, dass er nämlich dem israelitischen Levitenknaben durch die Tochter Pharaos eine königliche, ja sogar eine heidnische Erziehung geben ließ (V. 21). Was sollte der Levit am Hof als Sohn der Königstochter? was sollte der Israelit unter den Heiden? so musste ein Zeitgenosse Mosis fragen. Wir wissen aus dem weiteren Verlauf, wozu das gut war. Der Levit Moses sollte nicht ein Diener im Heiligtum sein, sondern ein Herzog, ein Gesetzgeber, ein Richter, mit einem Worte, seines Volkes Heiland und dazu bedurfte er einer königlichen Erziehung. Der Israelit sollte alle Weisheit der heidnischen Ägypter lernen, um sie nachher zum Besten seines Volkes zu verwenden und mächtig in Worten und Werken zu sein (V. 22). Freilich musste es einem steif orthodoxen Juden höchst ärgerlich sein, von Stephanus darauf hingewiesen zu werden, dass der hochverehrte Moses unter den Heiden hat erzogen werden müssen; aber Gottes Wege sind eben anders als der Menschen Wege. Nicht minder befremdend wie die Jugendgeschichte Mosis seinen Zeitgenossen war, musste dem damaligen Volk der Juden die Geschichte Jesu sein. Das Volk war jetzt in der Knechtschaft der Römer, wie damals in der der Ägypter und ein eisernes und blutiges Joch lag ihnen auf dem Nacken. Der Heiland wurde ihm geboren in tiefster Niedrigkeit und Hilflosigkeit, so dass Herodes ihm nach dem Leben trachten konnte, ohne dass ein einziger Arm sich dagegen erhoben hätte. Die Rettung geschah auf die schlichteste Weise ohne Zeichen und Wunder unter armseligen Umständen durch die Flucht nach Ägypten. War die Erziehung des Moses den Blicken des Volkes entzogen durch den Glanz des Königshofes, so war die Erziehung Jesu eine verborgene durch die tiefste Niedrigkeit einer Handwerkerfamilie in dem unbedeutenden Nazareth. Moses der Königssohn, Jesus der Zimmermann, waren beide gleich befremdliche Erscheinungen und alle menschlichen Vorstellungen und Gedanken mussten sich daran stoßen. So erwies sich Gott als derselbe zu Mosis wie zu Jesu Zeiten, als ein treuer Gott, der seine Verheißungen erfüllt, aber auch als ein wunderbarer, verborgener Gott, der nur den Augen des Glaubens seine Herrlichkeit offenbarte.
II.
Nachdem Stephanus gezeigt, dass Gott derselbe geblieben, damals wie jetzt, will er ferner nachweisen, dass das Volk leider auch dasselbe geblieben und sich eben so schnöde gegen Jesum verhalten habe, wie einst gegen Mosen. Stephanus beginnt mit dem ersten Rettungsversuch den Moses machte: „Da er aber vierzig Jahre alt ward, gedachte er zu besehen seine Brüder, die Kinder von Israel, und sähe einen Unrecht leiden, da überhalf er und rächte den, dem Leid geschah und erschlug den Ägypter“ (V. 23. 24). Es ist fast zur Gewohnheit geworben, in diesem Totschlag des Moses eine Tat der Voreiligkeit und des fleischlichen Eifers zu sehen; aber man sollte doch ein wenig genauer darauf achten, wie die Schrift die Sache ansieht. Der Apostel Paulus sagt: „Durch den Glauben wollte Moses nicht langer ein Sohn der Tochter Pharaos heißen und erwählte viel lieber mit dem Volk Gottes Ungemach zu leiden, denn die zeitliche Ergötzung der Sünde zu haben“3). Und Stephanus sagt: „Moses meinte aber, seine Brüder sollten es vernehmen, dass Gott durch seine Hand ihnen Heil gäbe, aber sie vernahmen es nicht“ (V. 25). Eine Versündigung des Moses ist in diesen Worten durchaus nicht angedeutet. Stephanus macht es vielmehr den Israeliten zum Vorwurf, dass sie es nicht vernommen hätten, dass Gott ihnen durch die Hand Mosis Heil geben wollte, was er sich nicht hätte erlauben dürfen, wenn Mosis Tat aus fleischlichem Eifer entsprungen wäre. Nach dem Urteil des Stephanus erscheint also dieser Todschlag als eine rettende Tat, als ein Heilandswerk. Es ist zu erwägen, dass Moses kein Bürgersmann war, wie wir sagen würden, sondern für einen Königssohn galt, und einem Unrecht Leidenden mit bewaffneter Hand zu helfen, war eines Königssohnes vollkommen würdig. Wäre der Israelit, dessen Streit Moses Tags darauf schlichten wollte, nicht ein schlechter Mensch gewesen, der die rettende Tat des Moses auf hämisch verleumdende Weise vor die Ohren Pharaos bringen ließ; hätte ferner Moses nicht gerade einem Israeliten gegen einen Ägypter geholfen, so würde Freund und Feind alles in der Ordnung gefunden haben. Moses hatte durch seine hohe Stellung Beruf, zu richten und zu retten, und wie viel oder wie wenig von seinem alten Menschen sich eingemischt haben mag, kommt nicht in Betracht, genug, die Kinder Israel sollten nach Gottes Absicht vernehmen, dass Gott ihnen Heil durch Moses geben wollte; sie vernahmen es aber nicht. Moses hatte ein Heilandsherz, dem das Leiden anderer in die Seele schnitt und der nicht anders konnte als retten. So bindet er z. B. kaum dem Tode durch Pharao entronnen, gleich mit den midianitischen Hirten an und hilft den Töchtern des Priesters gegen der ersteren Gewalttätigkeit4). „So ist der Instinkt der Boten Gottes. Ihn bindet nicht, noch weniger leitet ihn das Gängelband der Regeln menschlicher Klugheit, er sieht, schlägt und hilft. Wenn er in Wüsteneien verwiesen würde, und Menschen nicht mehr helfen könnte, würde er das Lamm aus dem Rachen des Wolfes erretten. Seine Taten sind so durchgreifend, einschlagend, entscheidend, in aller Augen so überzeugend, dass vom Patent seines Berufes nicht mehr die Rede und Frage ist“. - Wie es die Schuld der Kinder Israel war, dass sie nichts davon vernahmen, dass Gott ihnen durch Mosis Hand Heil geben wollte, so zogen sich auch die Juden die schwerste Verschuldung dadurch zu, dass sie nicht erkennen wollten, wie Gott ihnen durch Jesu Hand Heil geben wollte. Wenn er als Prophet in der Schule lehrte, sagten die Leute von Nazareth: Woher kommt Dem solches? Ist er nicht der Zimmermann, Maria Sohn? und die in Judäa sprachen: Was kann von Nazareth Gutes kommen? Soll Christus aus Galiläa kommen? Aus Galiläa steht kein Prophet auf5). Wenn er als Heiland die Kranken heilte, und die Besessenen gesund und vernünftig machte, so sagten die Juden, er habe selbst den Teufel und treibe die Teufel aus durch den Obersten der Teufel; kurzum, sie behandelten ihren Erlöser als ihren ärgsten Feind und erkannten nicht, was zu ihrem Frieden diente. Wie Moses floh, als sein Volk nichts vernehmen wollte, so wurde Jesus in den Himmel entrückt, nachdem sein Volk ihn verworfen. Über vierzig Jahre kam Moses zum zweitenmal und nun erst waren sie ihm gehorsam; hätten sie ihn zum erstenmal erkannt, so wären sie vierzig Jahre früher aus Ägypten erlöst worden. Jesus wird auch zum zweitenmal kommen und alsdann bei seinem Volk Aufnahme finden; aber hätten sie ihn zum erstenmal erkannt, sie wären achtzehnhundert Jahre früher erlöst worden.
Stephanus will seine Zuhörer veranlassen, ihre Zeit mit der Zeit Mosis, und ihr Tun mit dem Tun der Kinder Israel in Ägypten zu vergleichen; wie, wenn wir uns dadurch bewegen ließen, unsere Zeit und unsere Zustände mit der Zeit Stephani und Mosis zu vergleichen? Welches Ergebnis würde herauskommen? Die Personen haben sich verändert, die Verhältnisse und Zustände sind im Wesentlichen dieselben geblieben und ebenso das Verhalten der Menschen. Wir haben auch einen Bundesgott, der da war und der da ist und der da sein wird, und einen Bundesmittler, der gestern und heute und derselbe ist in Ewigkeit, und wir sind ein Bundesvolk, gezeichnet mit dem Bundessiegel der heiligen Taufe. Das Tun Gottes ist dasselbe wie von Anfang, er erfüllt durch Leitung des Ganzen wie durch Führung des Einzelnen die Verheißung, welche er dem Abraham zugeschworen hat, dass alle Einzelnen selig werden, die durch den Glauben geistliche Kinder Abrahams geworden sind, und dass die der Gesamtheit des Samens Abrahams gegebenen Verheißungen zu ihrer Erfüllung kommen sollen. Die Verhältnisse und Zustande sind im Ganzen auch dieselben geblieben. Die Hinterlist die die Weltmacht - mag sie sich nun Ägypten, oder souveränes Volk, oder auch christlichen Staat nennen, der Name ändert nichts an der Sache - die Hinterlist, sage ich, die die Weltmacht mit der Gemeinde Jesu treibt, die üble Behandlung die letzterer widerfährt, wiederholt sich von Zeit zu Zeit, an diesem oder jenem Ort. Noch immer haben wir jeden Sonntag zu beten „für alle bedrängten Christen und Gemeinden“ und wir könnten Länder mit Namen nennen, wo im Norden wie im Süden unseres Vaterlandes die Kirche des Gebrauches ihrer Muttersprache, oder ihrer Lehrer und der gottesdienstlichen Freiheit beraubt ist. Es gibt nicht bloß alte Pharaonen und alte Ägypter, sondern auch neue, mit Fronvögten und Drängern. Und Einen Tyrannen kennen wir Alle, unter Einem Feind leiden wir Alle, das ist die Sünde, und in ihrem Gefolge das Übel in den mannigfaltigsten Gestalten. Dass die Sünde der Leute Verderben ist, und dass die Gerechtigkeit, die ein Volk erhöht, selten zu finden ist, lehrt ein einziger Blick in das ängstliche, sorgenvolle Gewühl der Menschen, um ihr Leben durchzubringen, in das Grämen und Kümmern, in das Murren und Seufzen gegen Gott und Menschen, in das Müdewerden der Geplagten, die selbst wieder andere Plagen, in das Hadern und Unrechttun der Dränger wie der Gedrängten, in das Fressen und Beißen untereinander. Der Heiland ist in all diesem Jammer und Elend Derselbe wie zu Stephani Zeiten; denn es ist heut wie damals in keinem anderen Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, darinnen sie könnten selig werden, denn allein der Name Jesu.
Aber wie verhält sich unser christliches Volk zu seinem Heiland? Wir reden nicht von denen, die ihn offen verwerfen und sich von ihm lossagen, denn solche sind Ägypter oder wenigstens Bundesgenossen derselben; sondern wir fragen nur: Wie verhalten sich diejenigen zu ihrem Heiland, die nach dem Namen Jesu genannt werden wollen? Vernehmen sie wirklich, dass Gott ihnen durch die Hand Christi Heil geben will und beweisen sie solches durch ihr Verhalten? Großenteils vernehmen sie's nicht, denn sie, verkennen meistens seine Rettungsmittel. Wenn der Herr mit Drangsal kommt, da meinen sie vielfach, das wäre vom Übel und lassen sich die Hitze befremden, statt darin die rettende Hand Gottes zu sehen. Wenn der Herr ein Neues schafft und neue Bahnen eröffnet, da sehen sie nicht, dass solche vom Herrn sind; der Herr soll hübsch beim Alten bleiben und nichts tun, was die trägen Menschen aus ihrem gewohnten Gleis bringt. Der Wind soll nicht wehen dürfen, wohin er will, und der Geist soll nicht die abgenutzten Formen zerbrechen dürfen, um neue zu schaffen. Aber, so wenig der Wind sich vorschreiben lässt, zu welchem Fenster des Hauses er hineinwehen soll, so wenig lässt sich auch der Geist des Herrn wehren, zu wehen, woher und wohin er will. Dem Einen ist der Herr nicht kirchlich genug, wenn er hier und da einen Leuchter wegstößt, oder den Geist des Totenschlafs auf die ordentlichen Propheten und Lehrer kommen lässt und sich dagegen auf außerordentlichem Wege außerordentliche Werkzeuge erweckt. Dem Anderen ist der Herr nicht konservativ genug, wenn er Zeit und Stunde ändert, Könige absetzt und Könige einsetzt6), oder wie Jesaias sagt, den Königen das Schwert abgürtet. - Vielfach wird ein Hauptrettungsmittel verkannt, durch das der Herr schon viel Heil gegeben, und das ist, wie man jetzt sagt, die innere Mission, oder wie die älteren Freunde der Sache sagen, das christliche Vereinswesen, was vor fünfzig Jahren in England entstanden ist und seitdem wie ein Netz die protestantische Christenheit umspannt und die schlummernde Kirche mächtig erweckt hat. Auch die Personen, die Gott zu Heilanden erweckt, sind Vielen nicht recht, sowenig Moses und Jesus ihren Zeitgenossen recht waren. Bald soll es kein Königssohn, bald kein Zimmermann sein, kein Galiläer und kein Privatmann; es soll ferner keiner ein Prophet sein dürfen, der nicht Examen gemacht hat und eine geschriebene Bestallungsurkunde aufweisen kann. Wenn es aber so viel Verkehrtheit unter den Christen gibt, wird die Frage doppelt wichtig, wie man das Heil und die Mittel und Werkzeuge des Heils unfehlbar erkennen kann? Antwort: durch das von Heilsbegierde geschärfte Auge des Glaubens. Solcher Glaube kann die Geister prüfen, Geist vom Fleisch unterscheiden, und die Früchte des Geistes erkennen. Zu all diesem ist der Glaube darum geschickt, weil er ein lebendiges Verlangen nach dem Heil hat und es mit allem Ernst und Eifer sucht. Wer krank oder wund ist, wird emsig die heilsamen Kräuter aufsuchen und scharfe Sinne erlangen, die wirksamen von den unwirksamen oder schädlichen zu unterscheiden. Wer gesunden Hunger hat, der lernt bald die Dinge unterscheiden, die ihn wirklich sättigen, von denen, die ihm nur eine augenblickliche, scheinbare Sättigung gewähren. In geistlichen Sachen ist Alles ein Rettungsmittel von Gott, was von der Sünde frei und darum stark macht. An dieser Wirkung kann man aufs sicherste die wahren Heilmittel erkennen und an diesem Prüfstein sollen wir alle Erscheinungen im Reich Gottes prüfen; bewähren sie sich dann in diesem Punkt, dass sie Macht geben wider die Sünde, so sollen wir sie annehmen, wenn ihr äußeres Ansehen uns auch noch so befremdlich dünkt.
Eine trübe und betrübende Quelle der Verkennung des Werkes Jesu und ein Hindernis baldiger Erlösung von allem Übel ist der unselige Hader zwischen Brüdern (V. 26 - 28), dessen Augenzeuge Moses sein musste. Wie oft muss aber auch der neutestamentliche Mittler seine Brüder hadern sehen „und mit ihnen handeln, dass sie Frieden hätten,“ wie oft wird seine Friedensstiftung schnöde zurückgewiesen, wie von jenem gewalttätigen Israeliten geschah, der zu Moses sprach: Wer hat dich über uns gesetzt zum Obersten und Richter? - Wenn wir den Hader strafen, so meinen wir diesmal nicht den Privathader zwischen Einzelnen, sondern, um israelitisch zu reden, den Stammeshader, oder, um kirchlich zu reden, den Konfessionshader. Das ist ein böser Schaden am Leib der Kirche, der sie schwach macht und ihre Erlösung von allem Übel aufhält. Wie unklar die Erkenntnis in diesem Punkt ist, geht aus den widersprechenden Antworten hervor, die man auf die Frage bekommt: Wie sollen die Konfessionen zu einander stehen? Wenn einer sagte: Der eine (evangelische) Stamm soll mit dem andern hadern und der hadersüchtigste dann den Mittler denunzieren bei dem Feind, dem ägyptischen Dränger; wenn einer so sagte, so würde er freilich allgemeinen Widerspruch finden, aber trotzdem gibt's Eiferer, die also tun in der Hitze des Streites. Andere sprechen als Grundsatz aus: Die Konfessionen sollen möglichst weit von einander bleiben. Wer wir können nicht umhin, zu fragen: Wie weit? Nun, wie Nordpol und Südpol. Vortrefflich! und dann hinter der Todeskälte ihrer Eisberg sich gegeneinander verschanzen bis jede in ihrer Eisburg für sich erstarrt und erstirbt. Ich sollte meinen, wenn's erfroren sein muss, wäre es einerlei, ob man am Nordpol oder am Südpol erfriert. Noch einmal: Wie sollen die evangelischen Konfessionen denn zu einander stehen? Unsere Antwort ist: Wie Joseph und Benjamin, die einander um den Hals fallen und sprechen: „ich bin dein Bruder;“ oder wie Juda und Benjamin7). Juda wollte nicht Benjamin werden, nicht die Stämme vermischen und in einander aufgehen machen, aber für Benjamin bürgen und für ihn sein Leben lang die Schuld tragen. Wie diese beiden Brüder damals vor Joseph zusammenstanden und einer für den andern in den Riss trat, so haben ihrer Beiden Stämme auch später unter den Königen aus dem Hause Davids treu zu einander gestanden als ein Vorbild brüderlicher Einigkeit unter verschiedenen Stämmen desselben Volkes Gottes. Weil aber zu Mosis Zeit die Brüder in Israel nichts weniger als einträchtig bei einander wohnten, sondern mit einander haderten, darum vermochten sie nicht zu erkennen, dass die Stunde ihrer Erlösung geschlagen habe und mussten noch länger in Knechtschaft schmachten; denn Moses floh über der Rede dessen, der ihn von sich stieß und ward ein Fremdling im Lande Midian (V. 29).
Kommt die liebliche Einigkeit unter den evangelischen Konfessionen zu Schutz und Trutz gegen den gemeinsamen Feind und zur brüderlichen Aushilfe, Bürgschaft und Handreichung nicht zu Stande, so flieht Christus, d. h. er verbirgt sein Angesicht und überlässt die Hadernden noch länger dem Drängen des gemeinsamen Feindes. Gott sei es geklagt, dass unsere Liebe nicht stark genug ist, einiges Stückwerk im Wissen, einige Unvollkommenheit in der Erkenntnis und darum auch im Bekenntnis vertragen zu können. Das würde Stephanus Unbeschnittenheit an Herzen und Ohren nennen. Damit es besser werde sei unsere Losung:
Wir, als die von Einem Stamme,
Stehen auch für Einen Mann. Amen.