Gess, Wolfgang Friedrich - Bibelstunden über den Brief des Apostels Paulus an die Römer - Neunter Abschnitt. Es ist unmöglich, aus dem Gesetz die Erbschaft der Güter Gottes zu erlangen, weil das Gesetz Zorn anrichtet Römer 4, 14-16.
14. Denn wenn die aus dem Gesetz Erben sind, so ist der Glaube leer gemacht und die Verheißung abgetan, 15. sintemal das Gesetz richtet Zorn an, wo aber kein Gesetz ist, ist auch keine Übertretung. 16. Darum aus Glauben, auf dass nach Gnade, damit fest bleibe die Verheißung, allem Samen, nicht dem aus dem Gesetz allein, sondern auch dem aus dem Glauben Abrahams.
1.
In 4, 1-5 und 10-13 hat der Apostel aus den Erzählungen des Alten Testaments über Abraham gezeigt, dass derselbe nicht durch Gesetzeswerke das Wohlgefallen Gottes und seine Segensstellung in der Geschichte der Menschheit erlangte, sondern nur durch glaubensvolles Hinnehmen der göttlichen Verheißung, durch Ergreifen des huldreichen Versprechens Gottes mit dem Glauben als der Hand des Herzens. Und mit dem Samen Abrahams sei es der gleiche Fall. In 14-16 fügt der Apostel hinzu, ein anderer Weg zum Ererben der Güter Gottes sei auch gar nicht möglich. Müsste dieses Ererben durch vorherige Leistung von Gesetzeswerken erkauft werden, so bliebe unsere Hand, wenn sie nach den verheißenen Gütern greifen wollte, leer, die Verheißung fiele dahin, es käme vielmehr Gottes Zorn über uns. Denn Sünder können nun einmal die dem heiligen Gesetze entsprechenden Werke nicht leisten. Nur wenn der Mensch einfach im Glauben ergreifen dürfe, was ihm unverdient von der Gnade dargeboten werde, bleibe die Verheißung fest, werde das Verheißene wirklich des Menschen Eigentum. Dann aber das Eigentum aller Gläubigen, nicht der aus dem Gesetzesvolk allein, sondern auch der Heiden, die Abrahams Glaubensweg gehen.
2.
„Aber“, höre ich nun Etliche sagen, „was soll für uns dieses Reden von Moses Gesetz und von dem was unter diesem Gesetze möglich oder unmöglich sei? Wir sind ja nicht Juden, so geht uns Moses Gesetz Nichts an!“
Es ist wahr: die vielen hundert Vorschriften Moses von verbotenen Speisen und gebotenen Waschungen, von Opfern, Festen, Sabbaten und dergleichen gehen uns gar Nichts an. Auch waren sie, wie Paulus den Kolossern schreibt, nur der Schattenriss, welcher dem Kommen Christi vorausgehen musste, dieses zu verkündigen.1) Das Gesetz sei eine Weissagung gewesen bis auf den Täufer Johannes, hat der Herr Jesus selbst gesagt.2) Diese Menge von Satzungen ist auch nur die vergängliche Schale gewesen, darin die Offenbarung des eigentlichen Gotteswillens an das Volk Israel kam. Dieser eigentliche Gotteswille, der Kern der Schale, ist nach dem Zeugnis des Herrn Jesu, dass wir Gott lieben sollen mit allen Kräften und den Nächsten wie uns selbst. Dieser Kern von Moses Gesetz aber ist ewig. Er gilt für uns so gut wie für Israel. Nicht deshalb gilt das Gesetz der Liebe für uns, weil Moses sie geboten hat. Wohl aber deshalb, weil Gott Gott ist und ich und du von ihm und zu ihm und in seinem Bilde geschaffen sind.
Gewissenhafte Menschen werden es ja alle Tage inne, dass sie verpflichtet sind durch ein unverbrüchliches Gesetz. Nur freilich dass wir Menschen von uns aus nie dazu gekommen wären, dieses Gesetzes Inhalt mit solcher Klarheit zu erkennen als wir denselben nun durch das Zeugnis Jesu wissen. Griechische Philosophen haben schon Jahrhunderte vor dem Kommen Christi auszusprechen gesucht, wohin unsere Verpflichtung ziele, es hat ihnen aber nicht recht gelingen wollen. Sie haben gesagt, der Mensch sei verpflichtet so zu leben wie es seiner vernünftigen Natur entspreche. Ja freilich, aber was ist es, das unserer vernünftigen Natur entspricht? Der deutsche Philosoph Immanuel Kant hat vor hundert Jahren mit großem Ernste darauf hingewiesen, in dem Innern des Menschen lasse sich ein kategorischer Imperativ vernehmen, das heißt, eine Stimme, die ganz unbedingt das Gute uns befehle, ob es uns angenehm dünke oder nicht. Für diesen Ernst gebührt dem Manne unsere hohe Ehrerbietung. Wollte man aber wissen, was denn das Gute sei, so fiel seine Antwort recht ungenügend aus. Er wusste nur zu sagen, wir sollen, ehe wir handeln, jedes Mal uns fragen, ob etwas Vernünftiges dabei herauskäme, wenn Alle nach der Regel handelten, von der wir uns nun wollen leiten lassen Diese Antwort verhält sich zu dem Worte des Herrn Jesu: „liebe Gott von allen Kräften und deinen Nächsten wie dich selbst“, wie sich die Rede eines stammelnden Kindes zu der eines gereiften Mannes verhält. Der Herr Jesus hat es auch sehr wohl gewusst, wie blöde das menschliche Auge für das Erkennen des Guten geworden sei und dass nur ihm, dem. heiligen Sohne Gottes, die Klarheit über den Willen Gottes inne wohne. Er hat daher als ersten Prüfstein für die Göttlichkeit seiner Lehre diesen angegeben: so Jemand will den Willen Gottes tun, der wird inne werden usw.3) Denn ein solcher Mensch wird die Erfahrung machen, dass, was Jesus von dem Willen Gottes lehrt, zu dem, was in unserem Gewissen über den Willen Gottes eingeschrieben ist, sich verhält, wie eine vollständige und mit scharfen klaren Zügen geschriebene zu einer teilweise verwischten teilweise verblichenen Schrift. Woher diese Klarheit bei dem Herrn Jesu? Daher, dass seine Lehre die Lehre Gottes selbst ist. Daher denn auch bei uns Christen die höchste Freude an dem Gesetze Gottes sich finden sollte. Haben doch Israeliten trotz der Rauheit der Schale, worin das Gesetz Gottes ihnen dargeboten wurde, eine so hohe Freude an ihm bezeugt (vgl. z. B. die Psalmen 19 und 119)! Uns aber liegt vor Augen der schöne Kern, unverhüllt. Und nicht bloß in Worten liegt er vor uns, sondern, was viel mehr ist als Tat und Leben. Denn nicht bloß gesprochen hat Jesus von der Liebe als des Gesetzes Kern, sondern sein Leben war das Leben der Liebe zu Gott von allen Kräften und der Liebe zum Nächsten als zu sich selbst.
3.
Ein anderes ist aber, an Gottes Gesetz sich freuen, ein Anderes, aus dem Gesetze heraus, wie Paulus in Vers 14 sich ausdrückt, zur Erbschaft gelangen wollen. Zu dem der sich freut an Gottes Gesetz sagt der Herr Jesus: „du bist nicht ferne vom Königreiche Gottes“ (Mark. 12, 34), zu dem welcher aus dem Gesetze heraus zur Erbschaft gelangen will, sagt sein Apostel: „das Gesetz wird dir Zorn anrichten“ (Röm. 4, 15).
In der Bergpredigt lesen wir: mit welcherlei Maß ihr messt, wird euch gemessen werden. Dieses Wort des Heilandes bezieht sich zunächst auf das Maß womit wir Andere messen. Wer beim Richten über Andere einen strengen, der Barmherzigkeit vergessenden Maßstab anwendet, der möge sich auf dasselbe von Seiten Gottes gefasst machen, wenn er treten muss vor Gottes Richterstuhl. Und wer, was der Nächste ihm schuldig sei, nach der Strenge des Buchstabens, ohne Dreinsehen der Liebe bemisst, dem wird es nicht anders gehen, wenn der Allerhöchste rechnet mit ihm. Aber das Wort: mit welcherlei Maß ihr messt wird euch gemessen werden, gilt auch in anderem Sinn. Wenn du dir selbst so hohe Kraft zumisst, dass du das heilige Gesetz erfüllen könntest und erfüllt hast, also das Bitten um Gnade nicht für nötig hältst oder zum mindesten nicht übst, nun so wird dir dein himmlischer Richter dein Urteil auch zumessen nach diesem Maß, also es dir sprechen nach dem strengen Recht. Da wird dir denn das heilige Gesetz Gottes freilich Zorn anrichten. Denn in der Wirklichkeit bist du weit zurück hinter dem was das Gesetz verlangt und hast tausendmal gedacht, geredet, getan, was du vor dem Gesetz nicht verantworten kannst. So lastet Gottes Unwille auf dir, an dem Geiste Gottes bekommst du keinen Teil, musst ferne von Gott deinen Weg gehen durch die Welt, träumst vielleicht vom Wohlgefallen Gottes, wirst aber mit Schrecken erwachen aus deinem Traum, träumst vielleicht von einer gesegneten Stellung die du habest in Gottes Reich, träumst auch vom Himmel, der dir werden soll, und wenn du dereinst in der entscheidenden Stunde deine Hand ausstreckst nach den Gütern, die du dir erträumt, so bleibt sie leer. Die schönen Verheißungen Gottes gelten dir nicht, weil du ganz anders bist als das Gesetz es verlangt. Denn wo die aus dem Gesetz wollen Erben sein, ist der Glaube leer gemacht und die Verheißung abgetan, „denn das Gesetz richtet Zorn an.“
4.
Sich eine so hohe Kraft zutrauen dass man das heilige Gesetz Gottes erfüllen könne, und gar eine solche Treue dass man es wirklich erfüllt habe, dazu gehört freilich ein gewaltiger Selbstbetrug. Und ein sehr blödes Auge für den heiligen Inhalt des Gesetzes. Man denke doch: Gott lieben von allen Kräften, den Nächsten lieben wie sich selbst - was das heißen will! Ich denke kaum dass unter den Lesern dieser Blätter einer eine so dichte Hülle um seine Augen haben werde, deshalb auch kaum, dass einem derselben zu sagen sei: der Herr wird für dich keine Gnade haben, weil du keine haben willst, er beurteilt dich lediglich nach dem Gesetz, sein Zorn waltet über dir.
Aber woher kommt es denn dass unter den wirklich ernsten Christen so Viele hingehen, als waltete über ihnen ein göttlicher Zorn? ohne Freude des Herzens? ohne Gewissheit des Trostes? ohne kindliche Zuversicht in Bezug auf Tod und Ewigkeit? Oder zwar bisweilen in Freude, aber für kurze Zeit, indem bald wieder Ängstlichkeit und Zweifel in das Herz einziehen? Oder, mit den Worten des Paulus in Vers 14 zu reden, warum ist es bei vielen ernsten Christen, als wäre ihnen der Glaube leer gemacht, griffe die Hand ihres Glaubens vergeblich nach den göttlichen Gütern, nach Gottes Vergebung, nach Gottes Frieden, nach der Freude aus Gott? griffe in die Luft und brächte Nichts nach Haus? als wäre für sie die Verheißung abgetan? Es ist bei diesen Christen nicht etwa Vermessenheit in Betreff ihrer geistlichen Kraft und Treue, vielmehr schmerzliches Klagen über sich selbst und Verklagen ihrer selbst. Aber warum kommt es über das Klagen nicht hinaus oder nur auf kurze Zeit? Irgendwo muss doch ein Fehler sein. Denn ein gesunder Stand des inneren Lebens ist das nicht. Bei den Aposteln ist es ganz anders gewesen. Wie hätten sie auch sonst die Helden Gottes werden können? Ihr Heldentum entsprang aus dem Gebet, ihr Beten aus der freudigen Zuversicht zu Gottes Gnade. Soweit meine Erfahrung reicht, liegt von den Fällen leiblicher Krankheit abgesehen der Fehler daran, dass viele Christen nicht dazu gebracht werden können, Gottes Herz zu messen mit dem göttlichen, von dem göttlichen Worte dargebotenen Maß. Sie verachten die Gnade nicht, o nein, Nichts wäre ihnen lieber, als wenn sie sich derselben getrösten könnten. Aber sie gehen so hin und messen Gottes Herz mit ihrem menschlichen Maß, deuten was von Gottes Vergeben gepredigt wird nach der Weise des menschlichen Vergebens, was von Gottes Liebe, nach dem menschlichen Lieben um. Das menschliche Vergeben ist freilich oft nur ein Vergeben in Worten, geschieht mit dem Vorbehalt, unter Umständen auf die Sache zurückzukommen, und das menschliche Lieben erkaltet gar bald. Einem Tagelöhner wird es schwer, die Gedanken eines Königs zu fassen, dem kleinen Menschenherzen noch schwerer, die Gedanken Gottes zu fassen. So kommt es, dass viele Christen zwar überzeugt sind, eine seligere Kunde könne es nicht geben als die, dass Gott um Christi willen wolle Gnade für Recht ergehen lassen, aber für sich selbst dieser Kunde doch nicht froh werden, weil ihr Messen Gottes nach ihrem menschlichen Maß ihnen das Evangelium unvermerkt wieder umwandelt in ein neues Gesetz. Das Evangelium spricht: glaube nur, dass Gott um Christi willen dir die Vergebung, die Kindschaft, den heiligen Geist schenken, und durch alle Versuchungen, in immer neuem Vergeben deiner Verfehlungen, dich hindurchbringen will, und zwar dies tun will geschenksweise, weil er dich nicht anschauen will, wie du an dir selbst bist, sondern, wie deine Hand an seinem Sohne sich hält. Die menschliche Umdeutung des Evangeliums spricht: werde nur ein neuer, Christo nachartender Mensch, so darfst du dich hernach der Gnade Gottes und seines schönen Himmels getrösten. Bei dieser Umdeutung des Evangeliums kann der Christ zwar für kurze Zeiten fröhlich sein, nämlich, wenn er meint, es gehe vorwärts in seiner Heiligung, aber nur für kurze Zeiten, weil jede neue Untreue ihn, und zwar, je gewissenhafter er ist, um so gewisser seines auf den Heiligungsfortschritt gebauten Trostes beraubt. So geht sein Weg nur selten in freudiger Höhe, gewöhnlich in der Tiefe hin. Kommt noch ein sanguinisches Temperament hinzu, so ist sein Leben ein Wechsel seliger Gefühle und schweren Bangens, doch also dass das letztere viel häufiger ist. Wogegen, wer Gottes Herz nicht nach seinem eigenen Herzen, sondern nach dem göttlichen Worte misst und das Evangelium Evangelium sein lässt, statt es zu verwandeln in ein neues Gesetz, zwar täglich Ursache findet, um neue Vergebung zu bitten, und im täglichem Streite stehen muss gegen sich selbst, aber den Frieden Gottes behalten darf, weil er ihn auf den Fels der göttlichen Gnadenverheißung, nicht auf den Sand menschlichen Eifers oder gar auf die stets wechselnden Wellen menschlicher Gefühle baut. Vergleiche Pauli Wort in Vers 16: „darum aus Glauben, auf dass nach Gnade, auf dass fest bleibe die Verheißung.“
5.
Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen, und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahin müssen; denn unsere Missetat stellst du vor dich, unsere unerkannte Sünde in das Licht vor deinem Angesichte“, betet Moses in tiefem Schmerz, als er das ganze Geschlecht, das er aus Ägypten geführt hat, in der Wüste hinsterben sieht.4) Dieses Gericht ist eine furchtbar erhabene Beleuchtung des Wortes: das Gesetz richtet Zorn an. Am Sinai der göttlichen Gesetzgebung gewürdigt lud sich Israel durch sein Widerstreben gegen die Führungen seines Gottes umso schwerere Verantwortung auf. Je klarer das Wissen, desto schwerer die Schuld. Von hier aus muss man sagen, es könne eine Zeit kommen, da auch das Evangelium Zorn anrichte, ja den schwersten Zorn. Denn erst das Evangelium gibt die volle Klarheit der Erkenntnis. Und während ein Mensch der durch Ungehorsam gegen das Gesetz sich belastet hat mit Zorn, sich flüchten kann zum Evangelium, gibt es für den, dessen Ungehorsam gegen das Evangelium das Vollmaß erreicht hat, keine weitere Zuflucht mehr.
6.
Ich habe das Wort „das Gesetz richtet Zorn an“ ausgelegt von Gottes Zorn. Diese Auslegung ist erfordert von dem Zusammenhang. Übrigens kann das Gesetz auch im Herzen des Menschen Zorn anrichten. Wenn ein Mensch sich redlich abmüht, Gottes heiliges Gesetz zu erfüllen, Gott mit allen Kräften zu lieben, den Nächsten zu lieben als sich selbst, nach keinerlei Bösem sein Herz gelüsten zu lassen, und es gelingt ihm immer und immer nicht, so kann es geschehen, dass er voll Unmuts wird, nicht bloß über sich selbst und seine Schwäche, sondern auch über Gottes Gesetz, dass es zu schwer, und über Gott selbst, dass er zu streng sei. Doch darüber will ich nicht hier, sondern bei 7, 7-13 reden. Hier dagegen weise ich auf Folgendes hin: Die Menschen sollen zu Gott stehen wie rechte Kinder zu einem rechten Vater, untereinander sollen sie wie die Geschwister sein. Gott ist der rechte Vater über Alles was Kinder heißt. Die Treue der Vaterliebe, die Innigkeit und Aufopferungskraft der Mutterliebe soll uns predigen, was es erst sein müsse um Gottes Lieben. Wiederum soll die Ehrerbietung, das Vertrauen, die Liebe, welche wir bei unsern Kindern sehen wollen gegen uns, eine Predigt sein von der Ehrfurcht, dem Vertrauen, der Liebe, welche wir unserem Vater im Himmel schuldig sind. Wie Vieles wäre, auch noch für die Gereiftesten unter uns, aus diesem Elementarunterricht zu lernen, wenn wir die rechte Lust und Einfalt zum Lernen hätten! Dem entspricht weiter, dass uns Gottes Erziehen der Menschheit vorbildlich werden soll für unser Erziehen der uns anvertrauten Kinder. Hätten die Pädagogen mehr Verständnis für den in der Schrift verzeichneten Erziehungsgang Gottes gehabt, so wären viele Torheiten ihnen erspart geblieben. Zu der Erziehungsweise Gottes nun gehört, dass er im Paradiese den Menschen nur dieses Eine Verbot gegeben hat: von dem Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen. Und dem Abraham hat er für sein tägliches Leben nur das Eine Gebot gegeben: wandle vor mir. Und für uns Christen ist das Eine Gebot das der Liebe. Dem Volke Israel hat allerdings Moses hunderte von Verboten und Geboten gegeben. Aber eben dem Volke. Das religiöse und bürgerliche Leben eines Volkes kann freilich nicht durch eine einzige Vorschrift geregelt werden. Vollends nicht, wenn dieses Volk viele Geschlechter hindurch unter einem harten Joche menschlicher Tyrannen so verwildert ist, dass es fragen muss: „wie heißt denn der Name des Gottes unserer Väter“ (2 Mos. 3, 13). Und doch war dieses aus so vielen Satzungen bestehende Gesetz nur gemeint auf eine bestimmte Zeit, als ein Zuchtmeister, bis die Zeit zur Freiheit erfüllt war (Gal. 3, 21 bis 4, 4). Und von eben diesem Gesetze sagt Paulus: das Gesetz richtet Zorn an. Wie verkehrt muss gegenüber von dieser göttlichen Erziehungsweise, welche sich im Paradiese und bei Abraham und bei den Christen auf ein einziges Gebot beschränkt, die Weise vieler Eltern und sonstiger Erzieher erscheinen, ihren Zöglingen Gebot über Gebot, Verbot über Verbot vorzuschreiben! Haltet ihr nun mit Strenge auf eure Gesetze, so richtet ihr Zorn in ihren Herzen an, dass sie gar keine Freiheit haben sollen; haltet ihr aber nicht auf dieselben, sondern sehet der Übertretung ohne Bestrafen zu, indem ihr wohl selbst fühlet, dass eure Gesetze ohne Weisheit gegeben sind, so bringt ihr all euer Vorschreiben in Missachtung. Wie viel besser wäre es, wenn ihr euch beschränken würdet auf das: „wandle vor Gott“ oder „liebe Gott“! Freilich vorausgesetzt, dass euer eigener Wandel vor Gott und in der Liebe zu Gott und dem Nächsten geschieht. Denn im andern Fall macht euch euer Predigen dessen, was ihr selbst nicht tut, den Kindern, je mehr sie heranwachsen, umso mehr zum Gegenstand der Geringschätzung. Oft ist das viele Gebieten und Verbieten, das viele Schelten und die Härte des Bestrafens nicht Anderes, als der Versuch, den Mangel an Zucht gegen sich selbst zu bedecken durch die Zucht gegen die Zöglinge.