Calvin, Jean - Psalm 55.
Inhaltsangabe:
Viele Ausleger beziehen diesen Psalm auf die Verschwörung Absaloms, welche David veranlasste, die Königsburg zu verlassen und sich in die Wüste zu flüchten. Mir scheint es wahrscheinlicher, dass er auf die Nöte hinweist, die in Saul ihren Urheber haben, dass er nämlich eine Klage vor dem Angesichte Gottes über Sauls ungerechtfertiges Wüten ist. Es ist eine bewegliche Bitte voll heißer Leidenschaft. Alles führt David an, was Gottes Erbarmen hervorrufen könnte. Er spricht seine Wünsche aus, lässt seinem Schmerz freien Lauf und ringt sich dann zur Hoffnung auf Befreiung durch. Zum Schluss preist er Gottes Gnade, als sähe er schon seinen Wunsch erfüllt.
1 Dem Vorsteher im Saitenspiel: eine Unterweisung Davids. 2 Gott, höre mein Gebet und verbirg dich nicht vor meinem Flehen. 3 Merke auf mich und erhöre mich, wie ich so kläglich zage und heule, 4 dass der Feind so schreiet und der Gottlose dränget; denn sie wollen mir eine Tücke beweisen und sind mir heftig gram.
V. 2. Gott, höre mein Gebet usw. Aus diesem Worte erhellt, dass David von tiefem Schmerz erfüllt gewesen sein muss, als er dies Gebet sprach. Denn nur außerordentliches Ungemach oder ungewöhnliches Missgeschick konnte einen solchen Heldengeist, wie ihn der heilige Mann besaß, so sehr erschüttern. Eine schwere Notlage muss also der Grund seines Jammers und seiner Unruhe gewesen sein. Er beklagt sein bejammernswertes Geschick und sagt, dass er darum so kläglich zage und heule. Die genauere Ursache finden wir in V. 4: dass der Feind so schreiet und der Gottlose dränget.Manche verstehen unter diesem Schreien das Geräusch, wie es eine große Masse von Menschen hervorbringt. Der Feind wäre dann also als eine große Streitmacht gedacht. Ich verstehe Drohungen darunter. Denn ohne Zweifel hat Saul seinem schuldlosen Gegner nicht nur in Gedanken, sondern auch mit Worten den Tod in Aussicht gestellt. Die beiden Ausdrücke in der zweiten Hälfte des 4. Verses gehören enge zusammen: Tücke beweisen heißt nichts anderes als einen Menschen ungerechterweise in Elend und Verderben stürzen und alles aufbieten, ihn unschädlich zu machen. Vielleicht kann man auch folgenden Unterschied machen: gram sein heißt soviel wie offen mit aller Kraft einen Menschen vernichten wollen, und unter „Tücke beweisen“ mag man dann einen hinterlistigen, trügerischen Kampf verstehen. Gottlos nennt David seinen Feind nicht, um ihn anzuklagen, sondern um seine eigene Rechtschaffenheit zu bezeugen. Denn bei Verfolgungen gewährt es großen Trost, dessen gewiss sein zu können, dass man zu der Herausforderung keinen Anlass gegeben hat. Denn alsdann darf man auf die Hilfe des Herrn rechnen, der nach seiner Verheißung allen Elenden hilft und beisteht.
5 Mein Herz ängstet sich in meinem Leibe, und des Todes Furcht ist auf mich gefallen. 6 Furcht und Zittern ist mich ankommen, und Grauen hat mich überfallen. 7 Ich sprach: O, hätte ich Flügel wie Tauben, dass ich flöge und etwo bliebe! 8 Siehe, so wollte ich ferne weg fliegen, und in der Wüste bleiben. (Sela.) 9 Ich wollte eilen, dass ich entrinne vor dem Sturmwind und Wetter.
V. 5. Mein Herz usw. Hier wird es noch deutlicher, welch grausame Qualen David zu ertragen hatte. Es wird ihn niemand verweichlicht oder wehleidig nennen wollen. Dazu hatte er doch schon zu viele Beweise seines Heldensinns gegeben. Und doch klagt er hier nicht bloß über das bittere Unrecht, das ihm seine Feinde antun, sondern er bekennt auch, dass er vor Furcht und Schrecken keinen Ausweg mehr sähe. Sein Herz sei weich wie Wachs. Aus diesen Angaben erhellt die Schwere seines inneren Kampfes. Man kann jedoch zugleich daraus lernen: wenn Gott seine Knechte schärfer anfasst, lässt er auch die größte Tapferkeit zu Schanden werden, um uns den Selbstruhm der Unbezwingbarkeit zu nehmen. Wo es einen ernsthaften, heißen Kampf gilt, da zeigt sich unsere Schwachheit ohne Hülle. Dabei sucht der Satan uns zur Verzweiflung zu bringen, indem er uns einflüstert, Gott zeige ja, dass ihm unser Seelenheil gleichgültig sei, da er uns die Hilfe seines Geistes entziehe. Es ist der Beachtung wert, dass David in seinem schweren Ungemach und in dem Ringen mit der Furcht seines Herzens den Namen Gottes nur unter Klagen und Bangen anrufen konnte. Von des Todes Furcht spricht er, um anzudeuten, dass er ohne Gottes kräftigen Beistand sofort unterlegen wäre.
V. 7. Hätte ich Flügel usw. Einen Zufluchtsort in der Heimat hat er nicht, seine jammervolle Lage zwingt ihn sogar, aus dem Vaterlande zu fliehen. Nicht mehr wie ein Mensch, sondern wie eine Taube will er in irgendeinen verlassenen Winkel flüchten. Nur ein Wunder kann ihn retten. Nicht unter Menschen wird er sich als Flüchtling mehr aufhalten können, sondern seine Lage wird noch schlimmer sein als die eines Vögelchens. Mit einer Taube vergleicht sich David, weil er der Wut seiner Feinde entgehen möchte wie dies furchtsame und friedfertige Tier, das vor dem Habicht fleucht. Wie groß muss also seine Angst gewesen sein, dass er die ihm gegebene Verheißung, König zu werden, vergisst, nur noch an schmähliche Flucht denkt und bereit ist, das Vaterland aufzugeben und fern von Menschen und menschlichen Gewohnheiten irgendwo in der Wüste sich zu verstecken! Lange Irrfahrt scheut er nicht, von einem Aufschub will er nichts wissen, ohne Hoffnung, ohne Trost treibt's ihn in die Fremde. Es sind Worte eines verzweifelten Menschen, der alles gerne drangibt, um nur sein Leben zu retten. So ist es denn kein Wunder, dass solche Qualen sein Herz zu Tode verwundet haben. Sturmwind treibt den Wanderer zum eiligen Lauf, bis er ein schützendes Dach und einen Unterschlupf gefunden hat.
10 Mache ihre Zunge uneins, Herr, und lass sie untergehen; denn ich sehe Frevel und Hader in der Stadt. 11 Solches gehet Tag und Nacht um und um auf ihren Mauern, und Mühe und Arbeit ist drinnen. 12 Schadentun regieret drinnen, Lügen und Trügen lässt nicht von ihrer Gasse.
V. 10. Mache ihre Zunge uneins usw. David hat sein inneres Gleichgewicht wieder gefunden und wendet sich mit seiner Bitte an Gott. Er wäre ja ein Tor, wenn er seine Klagen in die leere Luft hinaus rufen wollte. Irdisch gesinnte Leute machen es so, werden dadurch aber nicht erleichtert, sondern ermatten dabei. Bei den Gebeten der Heiligen hört man zwar auch wirre Stoßseufzer, aber zuletzt klingen sie doch in vertrauensvolle Bitten aus. Mit der Bitte: „Mache ihre Zunge uneins“ – scheint der Sänger auf die Sprachverwirrung zu Babel anzuspielen. Gemeint ist jedenfalls, Gott möge durch plötzliche Trennung die gottlosen Ratschläge zunichte und die ruchlosen Verschwörungen unschädlich machen. Er gedenkt jenes denkwürdigen Ereignisses, weil Gott dadurch ein für allemal bezeugt hat, dass es seine Sache sei, das enge Bündnis der gottlosen Verbrecher untereinander zu sprengen und dadurch ihre Macht und ihre Anschläge lahm zu legen. So verhält er sich täglich zu den verkehrten Anschlägen der Menschen, indem er die Widersacher seiner Gemeinde gegeneinander aufhetzt. Die Folge ist gegenseitige Eifersucht, Misstrauen, Entzweiung. Jeder will herrschen, keiner weichen, und so werden sie alle machtlos. Angesichts der Gottlosigkeit und Schlechtigkeit seiner Feinde macht sich David in seinem glaubensvollen Gebete die immer wieder gemachte Erfahrung zu nutze: je ungestümer die Menschen sich in das Sündenwesen stürzen, desto näher kommt die Rache Gottes ihrem unbesonnenen Treiben. David sieht also aus der Zügellosigkeit der Menschen die Hilfe Gottes für sich hervor wachsen. Denn es entspricht Gottes innerstem Wesen, dem Stolzen zu widerstehen und dem Demütigen Gnade zu geben (Jak. 4, 6). Zunächst versichert David nun, dass er nicht ohne Grund seine Feinde bestraft sehen möchte. Hat er doch ihr Unrecht, ihre Quälereien und ihre Bosheit am eigenen Leibe erfahren. Dass dies Treiben in der Stadt im Schwange geht, deutet schwerlich auf eine bestimmte Stadt, sondern will einfach besagen, dass solch sündhaftes Wesen sich offen breit macht. Dasselbe bedeuten die Worte: solches gehet um auf ihren Mauern.Die Städte sind von Mauern umgeben zum Schutz vor plötzlichen, heftigen Überfällen. Wenn nun David an Stelle der Festungswerke die Stadt von Streit und Frevel umgeben und ihre Mauern davon besetzt sieht, so gibt ihm diese Verkehrtheit berechtigten Anlass zur Klage. Er führt sie darauf zurück, dass (V. 12) Schadentun drin regiert, dass Lügen und Trügen nicht von ihrer Gasse lässt.Wo gottlose verdrehte Künste und die Begierde zum Betrügen zu Hause sind, da kann es nicht wunder nehmen, wenn es Leute gibt, die die Friedliebenden und Einfältigen berauben, brandschatzen und quälen. Wissen sie doch, dass keine Strafe sie treffen wird. Kurz, einer guten Staatsordnung stellt David die schändliche, verwerfliche Misswirtschaft gegenüber, wie sie da und dort unter Saul herrschte. Er will etwa sagen: Gerechtigkeit, Ordnung, Eifer für Recht und Billigkeit gibt es überhaupt nicht mehr. Mag nun von einer Stadt allein oder von mehreren die Rede sein, jedenfalls ist hervorzuheben, dass die, welche vorgeben, Gottes heiliges Volk zu sein, so tief ins Verderben gesunken sind, dass ihre Städte mit Räuberhöhlen verglichen werden. Festhalten muss man auch, dass die Städte so voll Mängel und Unsitten sind, dass sie nicht allein auf Grund von Davids Verwünschung, sondern nach des heiligen Geistes Urteil dem ewigen Verderben geweiht sind.
13 Wenn mich doch mein Feind schändete, wollte ich's leiden; und wenn mein Hasser wider mich pochte, wollte ich mich vor ihm verbergen. 14 Du aber bist mein Geselle, mein Freund und mein Verwandter, 15 die wir freundlich miteinander waren unter uns; wir wandelten im Hause Gottes unter der Menge. 16 Der Tod übereile sie und müssen lebendig in die Hölle fahren; denn es ist eitel Bosheit unter ihrem Haufen.
V. 13. Wenn mich doch mein Feind usw. Die Kränkungen sind deshalb besonders bitter, weil sie nicht nur von eingestandenen Feinden, sondern von trügerischen, heimtückischen Freunden ausgehen. Die Empörung wächst ja, wenn die, die unsere Helfer sein sollten, auf unser Verderben sinnen. Leiden heißt hier nicht so viel wie geduldig hinnehmen, sich etwas gefallen lassen, sondern dem Hiebe des Feindes begegnen, ihn auffangen, oder, wie man zu sagen pflegt, den Stoß parieren. Denselben Gedanken enthält auch der Ausdruck: wollte ich mich vor ihm verbergen. David beschwert sich also darüber, dass ihm die Möglichkeit genommen ist, den geheimen Nachstellungen die Stirn zu bieten, eben weil sie geheime waren. Er findet keinen Feind, mit dem er die Klinge kreuzen, keine Gegner, dessen Unheil bringendem Schlage er ausweichen konnte. Dass die Feinde „pochen“, wird besagen, dass sie sich stolz gebahren und gegen den andern auftreten, um ihm zu schaden. Also David beklagt sich, kurz gesagt, darüber, dass man ihn mit heimlichen Künsten zu Boden geworfen habe, denen zu begegnen er sich gar nicht in der Lage sah. Den Urheber nennt er nicht mit Namen. Er meint aber wahrscheinlich einen von den Höflingen, von dem man allgemein wusste, dass er in enger Beziehung zu David stand. Vielleicht sind es auch mehrere, da man sicher annehmen kann, dass nicht nur einer bundbrüchig geworden ist. Wer die Gnade des Königs nicht verscherzen wollte, der musste dem heiligen Gottesmanne Feind sein. Man könnte also an die Führer der königlichen Leibwache samt ihrem obersten Haupt denken. David wurde also nicht nur offen bekämpft, sondern auch in der schändlichsten Weise von Freunden verraten. Diese seine Lebenserfahrung ist auch die aller Frommen. Ein jeder von uns muss bereit sein, nach diesen beiden Seiten hin das Schwert zu führen. Denn nicht bloß mit Mord und Totschlag bedroht der Teufel die Gemeinde Gottes, sondern er hetzt auch die Hausgenossen auf, sie mit Lug und Trug anzugreifen. Ihnen entrinnen, sie verjagen ist beides unmöglich. Davids Feind mag übrigens gewesen sein, wer er will, - jedenfalls spricht David von ihm mit der Bezeichnung: mein. Er war ihm also viel wert, ja sein anderes Ich. Und gerade darüber führt David Klage, dass das Band wechselseitiger Gemeinschaft, das Gott von Mensch zu Mensch geschlungen, abgerissen ist. Von den Kriegern, die dasselbe Zelt teilen, erwartet man, dass sie in enger Verbindung zueinander stehen. So ist's auch in allen Lebenslagen recht und billig, dass gemeinsame Gewohnheiten und Bedürfnisse, ja auch der gemeinsame Beruf die Menschen untereinander zu Freunden macht. Wenn also zwei zu irgendeinem Amt zugleich berufen werden, so verbindet sie Gott gleichsam unter seiner Obhut, dass sie brüderlich einander helfen. Diese Erwägung lässt die Schuld des Verräters in Davids Augen noch größer erscheinen, ebenso aber auch die Erinnerung daran, dass er sein vertrauter Freund ist. Weiter macht er ihm den Vorwurf, dass er Heimlichkeiten mit der größten Liebenswürdigkeit paarte. Endlich gedenkt er noch daran, dass sie ja gemeinsame Gottesdienste gefeiert hatten. Er beklagt sich also, dass er von dem verraten worden sei, der nicht bloß bei irdischen Geschäften, sondern auch beim Gottesdienst sein Genosse und Lehrer war. Und die Gottesverehrung ist doch das heiligste Band zwischen den Menschen. Der heilige Geist verdammt alle die, welche die heiligen Naturbande brechen, durch die sie miteinander verknüpft sind. Es gibt ein Band, das die Menschheit in ihrer Gesamtheit umschlingt. Aber je näher sich zwei Menschen treten, desto heiliger ist das Band. Wissen auch die Weltleute nichts davon – wir müssen es doch festhalten: es ist nicht Zufall, sondern Gottes Vorsehung, dass Nachbarschaft, Verwandtschaft, gemeinsamer Beruf die Menschen untereinander verbinden. Das heiligste aber ist das Band der Frömmigkeit.
V. 16. Der Tod übereile sie usw. Jetzt wendet sich David gegen seine gesamten Gegner. Doch ruft er die Strafe nicht unterschiedslos auf das ganze Volk herab, sondern nur über die Führer und Bannerträger, die ihn grundlos so schändlich verfolgten. Ich wiederhole, er wünscht seinen Feinden diese Strafe nicht in blindem, falschem Eifer. Es handelt sich ja nicht um seine, sondern um Gottes Sache, und Gottes Geist hält ihn in Zucht. Dieses Gebet hat seine Wurzel also nicht in stürmischen, unbedachten Aufwallungen und Zornesausbrüchen, und darum berufe sich ja niemand auf David, wenn er irgendwie gekränkt, Verwünschungen und Schmähungen ausstößt. Ein Mensch, von seiner Rachgier gepackt, gleicht keineswegs dem heiligen Dichter, der hier in wohl bedachtem Eifer Gott als Rächer wider Gottlose, die schon dem ewigen Verderben verfallen sind, anruft. Manche glauben, in dem Wunsche Davids, seine Feinde möchten lebendig in das Grab hinabfahren, eine Anspielung auf die Strafe sehen zu wollen, die Korah, Dathan und Abiram mit ihrer Rotte getroffen hat (4. Mos. 16, 31). Mir hingegen scheint David darum seinen Feinden einen plötzlichen, unvermuteten Tod anzuwünschen, weil sie sich in ihrer Macht völlig sicher vor dem Tode glaubten. Er will sagen: Herr, da sie, geblendet von ihrer Macht, nicht mehr daran gedenken, dass sie sterblich sind, so mache du es, dass die Erde sie lebendig verschlingt. Der wohl verdienten Strafe kann sie also ihr Stolz nimmermehr entziehen. Die Wiederholung des Grundes für den Untergang seiner Feinde (V. 16) zeigt, dass David nicht so sehr seine persönlichen Feinde meint, als im Allgemeinen allen denen Strafe in Aussicht stellen will, welche Gottes Gemeinde mit ihren ungerechten Quälereien belästigen. Dass Bosheit unter ihrem Haufen ist, will nichts anderes besagen als, wo sie eine Wohnung aufschlagen, da ist viel Schlechtigkeit.
17 Ich aber will zu Gott rufen, und der Herr wird mir helfen. 18 Des Abends, Morgens und Mittags will ich klagen und heulen, so wird er meine Stimme hören. 19 Er erlöset im Frieden meine Seele von denen, die an mich wollen, und schaffet ihr Ruhe; denn ihrer sind viel wider mich. 20 Gott wird hören und sie demütigen, der allewege bleibt. (Sela.) Denn sie werden nicht anders und fürchten Gott nicht.
V. 17. Ich will zu Gott rufen usw. Damit ist Davids innerste Gesinnung zum Ausdruck gebracht, von der er allezeit erfüllt ist, die ihn nicht bloß zum eifrigen Bitten, sondern auch zum hoffnungsvollen Vertrauen antreibt. Obwohl er also keinen Ausweg mehr sieht und sich selbst als dem Tode verfallen betrachten muss, beharrt er doch im Gebet und hält es nicht für vergeblich. Der folgende Vers betont vor allem die Stetigkeit seines Flehens. Es genügt ihm nicht, nur zu sagen: ich will klagen.Denn so machen es viele, aber nur oberflächlich, und deshalb ermüden sie bald. Zunächst redet er von der Beharrlichkeit, dann von der Inbrunst seines Flehens. Abends, Morgens und Mittags betet er. Daraus darf man entnehmen, dass die Frommen gerade zu diesen Zeiten ihre Gebetsstunden hatten. Da im Tempel nämlich morgens und abends die regelmäßigen Tagesopfer dargebracht wurden, so musste dadurch jedermann erinnert werden, auch daheim zu beten. Die Mittagszeit war andern Opfern vorbehalten. Unsre Trägheit im Gebet erfordert kräftige Antriebe. Wenn wir uns nicht irgendwie in Zucht halten, so wird diese Hauptstück der Frömmigkeit bei uns brach liegen, ja sogar in Vergessenheit geraten. Durch Festsetzung bestimmter Zeiten für den Opferdienst wollte Gott unserer Schwachheit aufhelfen. Und wir sollen diesen Hinweis für unsre eignen häuslichen Gebete benutzen. Auch Daniel (9, 3) kann uns hierin ein Lehrmeister sein. Die Opfer sind nun zwar heutzutage abgeschafft. Aber die Trägheit, welche einst solche Reizungsmittel nötig machte, steckt noch in uns. Darum ist es wie für die Alten so auch für uns angebracht, sich bestimmte Stunden zum Gebet vorzunehmen, die man nie außer Acht lässt. – In dem Worte „heulen“ bringt David seinen ganzen Kummer und seine große qualvolle Angst zum Ausdruck. Aber kein Schmerz und keine Qual sollen ihn hindern, seine Klagen vor Gott zu bringen und die feste und gewisse Hoffnung auf Errettung in seinem Herzen zu bewahren. Er ist fest überzeugt, dass sein Gebet bei Gott Erhörung findet.
V. 19. Er erlöset meine Seele usw. Wie die vorhergehenden Verse Davids Bitten enthielten, so spricht er jetzt von dem Erfolg derselben. Dass seine Seele im oder zum Frieden erlöst ist, soll ihm ein Anlass zum Danken sein. Denn nur ein einzigartiges Wunder hatte ihn aus der äußersten Gefahr erretten können.
Ihrer sind viel wider mich.Dies ist auf seine Feinde zu beziehen, aus deren Macht ihn Gottes wunderbare Gnade errettet hatte. Andre wollen lieber übersetzen: „Ihrer sind viele mit mir.“ Damit wären dann die Engel gemeint, die in Scharen für uns kämpfen und ihr Lager um die her aufgeschlagen haben, die den Herrn fürchten. Das ist ein überaus tröstlicher Gedanke: Gott braucht keine fremde Hilfe zu unsrer Rettung. Ihm stehen viele Kräfte zur Verfügung, um unsrer Schwachheit aufzuhelfen. Für richtiger halte ich freilich die erstgenannte Bedeutung: David hebt die Menge der Feinde hervor, um dadurch die erlösende Macht Gottes desto mehr zu verherrlichen.
V. 20. Gott wird hören usw. Das bezieht David ohne Zweifel auf sich. Und dann fügt er hinzu, auf welche Weise er erhört werden wird: Gott werde ihn an seinen Feinden rächen und sie demütigen. Dabei wird Gott als der bezeichnet, der allewege bleibt. Damit mag sich ein frommes Gemüt wohl trösten, das sich in Not und Angst befindet. Hat nicht all die Ungeduld, die uns umtreibt, ihren Grund darin, dass wir nicht an Gottes Unvergänglichkeit denken? Es gibt nichts Törichteres, als wenn sterbliche Menschen, die schattengleich in einem Augenblick vergehen, Gott nach ihrem Maßstab messen wollen. Sie ziehen Gott von seinem ewigen Thron herab und unterwerfen ihn dem mannigfaltigen Wechsel dieser Welt. Sie werden nicht anders, wörtlich: kein Wechsel ist bei ihnen. Einige legen dies so aus: bei ihnen ist keine Hoffnung auf Besserung. Denn ihre Hartnäckigkeit ist so groß und ihre Bosheit so eingefleischt, dass sie zur Buße keinen Raum finden. In gleichsam angeborener Grausamkeit kennen sie keine Regung von Mitleid und menschlichem Empfinden. Für richtiger halte ich freilich die andere Auslegung, welche in diesen Worten eine Klage darüber sieht, dass den Feinden immer die Sonne des Glücks lache, als gäbe es für sie kein dunkles Gewölk wie für die anderen Menschen. Gottes Langmut, meint David, gereiche ihnen aber zum Verderben, so dass sie jegliche Furcht ablegten, als ob sie nie vom Los aller Menschen getroffen werden könnten. Sie ändern ihre Gesinnung nicht, und deshalb fürchten sie Gott nicht. Je länger man seinen Vergnügungen lebt, desto gefühlloser wird man selbst im Umglück. Wo Übermut herrscht, vergisst der Mensch solange, dass er Mensch ist, als Gott seiner schont. David tadelt aber mit diesem Wort auch zugleich die Torheit derer, die sich wie Halbgötter vorkommen, weil sie nicht wie andre vom Unglück heimgesucht werden. Denn wie kurz ist doch die Lebenszeit des Menschen im Vergleich zu der ewigen Herrschaft Gottes! Wir müssen uns also wohl in acht nehmen, dass wir im Glück nicht sicher werden und uns über Gott erheben.
21 Sie legen ihre Hände an seine Friedsamen und entheiligen seinen Bund. 22 Ihr Mund ist glätter denn Butter, und haben doch Krieg im Sinn; ihre Worte sind gelinder denn Öl, und sind doch bloße Schwerter. 23 Wirf dein Anliegen auf den Herrn; der wird dich versorgen und wird den Gerechten nicht ewiglich in Unruhe lassen. 24 Aber,Gott, du wirst sie hinunter stoßen in die tiefe Grube: die Blutgierigen und Falschen werden ihr Leben nicht zur Hälfte bringen. Ich aber hoffe auf dich.
V. 21. Sie legen ihre Hände usw. Wenn im Grundtext eigentlich die Einzahl steht: „er legt die Hände“, so blickt David damit auf den Urheber der Verschwörung. Er wirft ihm Friedensbruch vor, da er mitten im Frieden zu den Waffen gegriffen habe. Dadurch beschuldigt er ihn der Treulosigkeit. Denn ohne Herausforderung und ohne rechtmäßige Kriegserklärung hat er ihn plötzlich mit Waffengewalt überfallen. Es ist ja ein weit schwerwiegenderes Vergehen, wenn jemand ohne Grund seinen Verbündeten angreift, als wenn er das ihm widerfahrene Unrecht offen und frei rächt. Das führen die folgenden Worte noch weiter aus (V. 22): während seine Lippen von Butter und Öl triefen, ist das Herz mit Kriegsgedanken erfüllt, und seine Worte sind Wurfspieße. Wir wissen, dass es dem Saul an gewinnenden Worten nicht fehlte, wo es galt, alles zu versprechen. Er umschmeichelte den David, um ihn in sein Netz zu locken, und sicherlich halfen ihm seine Hofleute dabei. Das ist die Hauptgefahr, die Gotteskindern droht, dass verschlagene Menschen sie durch allerlei Verlockungen ins Verderben zu stürzen versuchen. Aber der heilige Geist verurteilt alle versteckten Anschläge, zumal Schmeicheleien und Betrug, und mahnt die Gotteskinder zur Übung in der Einfalt.
V. 23. Wirf dein Anliegen auf den Herrn usw. Eigentlich heißt es: „Wirf auf den Herrn, was er dir gibt.“ Die übliche Auslegung ist: wir sollen alle Sorgen und Beschwerden, die uns drücken, auf Gottes Schultern wälzen, denn nur seine Fürsorge kann unser bekümmertes Gemüt erleichtern. In der Schrift findet sich aber kein Beispiel für diesen Gebrauch des Wortes. Es dürfte darum die andre Auffassung vorzuziehen sein, die eine gute und reichhaltige Lehre in sich schließ, dass man unter dem, was Gott uns gibt oder geben soll, alle die Wohltaten versteht, die wir uns von Gott erbitten. Der Sinn ist also der: wir sollen die Sorge für alles, was wir brauchen, in Gottes Hand legen. Es genügt ja nicht, Gott darum zu bitten, dass er uns zu unsrer Notdurft verhelfe, wenn sich unsre Bitten und Gebete nicht auch zugleich mit seiner Vorsehung decken. Die meisten Menschen stürmen mit ihren Gebeten den Himmel und wollen in ihrer übermäßigen Erregung Gott zwingen, sich ihren Vorschriften anzupassen. So hat denn David guten Grund, Bescheidenheit im Gebete zu empfehlen. Die Gläubigen sollen dem Herrn die Sorge für die Erfüllung ihrer Bitten überlassen. Der Fehler allzu großer Ungeduld kann ja nur dann abgestellt werden, wenn wir es Gottes Rat anheim stellen, was er uns geben will. Ob nun David andre ermahnt oder seinen Zuruf an sich selbst richtet, hat wenig Bedeutung. Meine Meinung ist, er wollte allen Gläubigen an seinem Beispiel zeigen, wie man beten müsse. Das Folgende: Er wird dich versorgen, - bestätigt die obige Auslegung. Unser Leben hat viele Bedürfnisse, und darum sind wir fast immer in Unruhe und Aufregung. Da weist David darauf hin, dass Gott wie ein Hirte für all unsre Notdurft sorgen und uns darreichen werde, was wir brauchen. Auch werde er es nicht zulassen, dass die Gerechten ewiglich in Unruhe blieben. Wir sehen ja, wie die Gerechten manchmal schwanken – und, von mannigfachen Stürmen bald dahin, bald dorthin getrieben, geraten sie gar leicht in die Gefahr, zu fallen. Was gibt es aber Jammervolleres, als so hin und her geworfen zu werden! Darum stellt David ein Ende in Aussicht: Gott wird nicht zulassen, dass die Angst immer herrscht und Gefahren und Sorgen uns allezeit umgeben, sondern er wird einmal Ruhe schenken.
V. 24. Aber du, Gott usw. Wieder wendet David den Blick auf seine Feinde, um den Unterschied zwischen ihrem und seinem Ende zu zeigen. Mögen sie auch manchmal im Siegesjubel schwelgen, während die Frommen sich unter ihren Füßen winden, so bleibt doch diesen der Trost, dass für sie eine Ruhe bereitet ist, eine Hoffnung, die sie unter den mancherlei Kämpfen kaum mit Zittern festhalten können. Aber ihr Glaube schaut auch das Endurteil, das ihre Feinde trifft. Nicht nur eine zeitliche Niederlage droht ihnen: ewiger Untergang erwartet sie. Dadurch unterscheiden sie sich von den Gläubigen: diese fallen auch oft in tiefe Gruben der Bosheit, aber sie kommen wieder heraus. Doch die Feinde tun einen tödlichen Fall. Denn Gott stößt sie ins Grab, in dem sie vermodern.
Die Blutgierigen werden ihr Leben nicht zur Hälfte bringen.Dieser allgemeine Grundsatz dient zur Bekräftigung dessen, was David soeben sagte. Denn wenn Gottes Rache alle grausamen und hinterlistigen Menschen trifft, so können auch die Feinde, deren Wut und List David am eigenen Leibe erfahren hat, derselben nicht entschlüpfen. Und doch widerspricht dem seine Erfahrung. Es gibt ja nichts Blutgierigeres als Tyrannei, die ein ganzes Menschengeschlecht willkürlich dem Untergange weiht. Und doch kann ein Tyrann, der 300.000 Menschen umgebracht hat – von solchen redet David und nicht bloß Meuchelmördern – vielleicht alt werden. Dagegen müssen wir bedenken, dass Gott zwar nicht immer sofort mit seiner Strafe kommt, dass aber doch Beispiele genug das bestätigen können, was der Psalmist hier ausspricht. Es genügt oft, zeitliche Strafen zu sehen. Man muss dafür nicht immer das gleiche Maß fordern (vgl. Ps. 37). Wenn verruchte Menschen auch länger leben, so haben sie doch ein ruheloses, unzufriedenes Dasein. Sie weilen unter den Schatten des Todes, ja, streng genommen leben sie überhaupt nicht mehr. Wenn aber ein Leben, das so vom Herrn verflucht ist, schlimmer ist als irgendein Tod, so hat es gar kein Anrecht mehr, Leben genannt zu werden, zumal wenn Gewissensqualen als die grausamsten Henkersknechte darin ihr Wesen treiben. Bei der Erwägung, wie ein rechter Lebenslauf beschaffen sein muss, finden wir, dass nur der Mensch ans Ziel kommt, der für Gott lebt und stirbt, denn nur für den ist Sterben und Leben Gewinn. Darin liegt ein überwältigender Trost: so oft die Gottlosen uns mit Schwert und List befehden, werden sie nicht lange als Sieger dastehen, sondern Gott wird sie mit Sturmeseile plötzlich dahinraffen. Wie Nebel sich zerstreuen, so wird ihr Vorhaben zu Schanden werden, durch das nach ihrer Meinung die ganze Welt vernichtet werden sollte. Der Schluss des Psalms: Ich aber hoffe auf dich – erinnert daran, dass nur Glaube und Geduld ein solches Gericht schauen werden. Denn David muss es auf Hoffnung stellen, dass Gott ihn retten und behüten werde. Daraus können wir den Schluss ziehen, dass es mit den Gottlosen nicht so bald ein Ende haben wird: sie dürfen uns vielleicht mit ihren Gewalttätigkeiten noch bis zum Überdruss quälen.