Bunyan, John - Pilgerreise - Achtzehntes Kapitel.
- Was soll ich thun, daß ich selig werde?
Nach einiger Zeit bemerkten die Pilger einen Mann von ferne, der langsam und ganz allein ihnen auf der Heerstraße entgegen kam. Da sagte Christ zu seinem Gefährten: „Dort kommt ein Mann, der Zion den Rücken gekehrt hat, auf uns zu. „
Hoffn. Ich sehe ihn. Laß uns nun auf unserer Hut sein, vielleicht ist er auch ein Schmeichler. — So kam er ihnen denn näher und näher und gelangte endlich zu ihnen. Sein Name war Atheist (Gottesleugner). Er fragte nun, wohin sie wollten.
Chr. Wir wollen zum Berge Zion.
Darüber brach Atheist in ein lautes Gelächter aus.
Chr. Warum lachet ihr?
Atheist. Ich lache, da ich sehe, was für dumme Leute ihr seid: ihr unterziehet euch einer so beschwerlichen Reise und habt am Ende für all' eure Mühen gar Nichts.
Chr. Wie so? Meint ihr vielleicht, wir würden nicht angenommen?
Ath. Angenommen? Es gibt überhaupt in dieser ganzen Welt keinen Ort, wie ihr euch träumen lasset.
Chr. Aber doch in der zukünftigen Welt.
Ath. Als ich noch zu Hause in meinen Vaterlande war, hörte ich das Nämliche, was ihr jetzt behauptet, und darauf hin machte ich mich auf, um mich umzusehen; da habe ich nun zwanzig Jahre lang jene Stadt gesucht, aber nicht mehr davon gefunden, wie am ersten Tage, als ich mich auf Reise begab. 1)
Chr. Wir aber haben es nicht nur gehört, sondern glauben es auch, daß man solch einen Ort finden kann.
Ath. Hätte ich's in der Heimath nicht auch geglaubt, so würde ich nicht so weit gegangen sein, um ihn zu suchen. Da ich ihn jedoch nicht gefunden (und sicher würde es geschehen sein, wäre er überhaupt zu finden, denn ich bin weiter gegangen, als ihr, ihn aufzusuchen) so habe ich den Rückweg angetreten, und will nun mich an Dingen ergötzen, die ich früher für Hoffnungen wegwarf, welche, wie ich jetzt sehe, nichts als leere Täuschungen sind.
Christ sagte hierauf zu seinem Gefährten Hoffnungsvoll: Ist es denn wahr, was dieser. Mann da behauptet?
Hoffn. Nimm dich in Acht! er ist auch einer von den Schmeichlern. Vergiß doch nicht, was es uns schon einmal gekostet hat, daß wir einem Menschen, wie dieser, Glauben schenkten. Wie! einen Berg Zion sollte es nicht geben? Haben wir nicht das Thor jener Stadt von den lieblichen Bergen aus bereits geschaut? Und sollen wir jetzt nicht im Glauben wandeln? 2) Laß uns vorwärts gehen, damit der Mann mit der Geißel nicht noch einmal über uns komme. Du hättest mir die Lehre geben sollen, die ich dir jetzt laut zurufen will: Laß ab, mein Sohn, zu hören die Zucht, die da abführet von vernünftiger Lehre. Ja, ich sage: Laß ab ihn zu hören und laß uns glauben, auf daß wir unsere Seelen erretten. 3)
Chr. Lieber Bruder, ich richtete meine Frage nicht deßwegen an dich, weil ich an der Wahrheit unseres Glaubens zweifelte, sondern um dich zu prüfen und die Frucht deines Glaubens an den Tag zu bringen. Ich erkenne wohl, daß der Gott dieser Welt den Mann hier verblendet hat. Laß uns miteinander weiter vorangehen, indem wir wissen, daß wir den Glauben an die Wahrheit haben, und daß keine Lüge aus der Wahrheit kommt. 4)
Hoffn. Nun freue ich mich in der Hoffnung auf die Herrlichkeit, die Gott geben wird.
Und so wandten sie sich von dem Manne hinweg, er aber lachte sie aus und zog seines Weges.
Nun sah ich ferner in meinem Traume, daß sie gingen, bis sie in eine gewisse Gegend kamen, wo eine Luft ist, welche die natürliche Eigenschaft an sich hat, daß sie die Fremden, welche dorthin kommen, schläfrig macht. Hoffnungsvoll fing an ganz träge und schlaftrunken zu werden. Er sprach daher zu Christ: „Ich werde so schläfrig, daß ich nur noch kaum die Augen offen halten kann. Laß uns hier ein wenig niederlegen und ein Schläfchen halten.
Chr. Nein, unter keiner Bedingung, damit wir nicht schlafen und nie wieder aufwachen.
Hoffn. Ei, lieber Bruder, warum sollten wir denn nicht schlafen? Der Schlaf ist ja für den Arbeiter süß. Ein Schläfchen würde uns erquicken.
Chr. Hast du vergessen, daß einer der Hirten uns warnte vor dem bezauberten Boden? Er meinte, wir sollten uns hüten vor dem Schlafe. Darum laß uns nicht schlafen, wie die Andern, sondern laß uns wachen und nüchtern sein!5)
Hoffn. Ich sehe meinen Fehler ein, und wäre ich hier allein gewesen, so hätte ich mich durch den Schlaf der Todesgefahr ausgesetzt. Ich sehe, wie wahr es ist, was der Weise spricht: „Es ist besser zwei, denn Einer. 6) Bisher ist deine Gesellschaft mir zum Segen gewesen, du aber wirst guten Lohn für deine Mühe davontragen.
Chr. Wohlan denn, sagte Christ, laß uns ein gutes Gespräch mit einander halten, damit wir an diesem Orte nicht in den Schlaf fallen.
Hoffn. Von Herzen gern.
Chr. Wo sollen wir denn anfangen?
Hoffn. Da, wo Gott anfing mit uns. Aber sei du so gut und mache den Anfang.
Chr. Ich will dir zuerst ein Lied singen:
In meinem Traume hörte ich das liebliche Lied und meine Seele ward so daran erquickt, daß ich in die Worte ausbrach:
Will, gläub'ge Seele, dich, hier wo du wachen sollst,
Des Schlafes Macht beschleichen,
Tritt zu den beiden Pilgern her
Und sieh's und hör', wie sie sich Hülfe reichen
Im wechselnden Gespräch,
Wie ernst den Schlaf einander sie vertreiben,
Daß ihre müden Augen offen bleiben.
Nicht, bleib allein, an Gläub'ge schließ dich an;
Es können Zwei, was Einer gar nicht kann:
Mit Kindern Gottes thue dich zusammen,
Dann bleibst du wach und bietest Trotz der Hölle Flammen.
Chr. Hierauf sagte Christ: ich will eine Frage an dich richten: Wie kamst du zuerst auf den Gedanken so zu handeln, wie du jetzt thust?
Hoffn. Meinst du, wie ich zuerst darauf gekommen, auf das Heil meiner Seele bedacht zu sein?
Chr. Ja, so meine ich's.
Hoffn. Ich ergötzte mich eine lange Zeit hindurch an den Dingen, die auf unserm Jahrmarkte ausgestellt und da zum Verkauf ausgeboten werden, — Dinge die mich, wie ich glaube, hätte ich mich weiter an sie gehängt, in's Elend und Verderben gestürzt haben würden.
Chr. Was für Dinge waren denn das?
Hoffn. All die Schätze und Reichthümer dieser Welt. Auch fand ich großes Vergnügen an Schwelgen, Fressen, Saufen, Fluchen, Lügen, unreiner Lust, Sabbathschändung und an Allem, was zum Verderben der Seele dient. Allein endlich fand ich, da ich von göttlichen Dingen hörte und darüber nachdachte (ich hörte sie ja von dir und deinem theuren Getreu, der um seines Glaubens und Wandels willen auf dem Eitelkeitsmarkt sterben mußte) daß das Ende aller weltlichen Dinge der Tod ist und daß um ihrer willen der Zorn Gottes über die Kinder des Unglaubens kommt. 7)
Chr. Hat diese Überzeugung denn sogleich Macht über dich bekommen?
Hoffn. Nein; Anfangs wollte ich mich nicht anschicken, das Verderben der Sünde und die Verdammniß, die sie im Gefolge hat, zu erkennen, sondern ich bemühte mich vielmehr, als meine Seele zuerst von dem Worte erschüttert ward, meine Augen vor dem Lichte desselben zu verschließen.
Chr. Was war aber die Ursache, daß du dich bei den ersten Wirkungen des heiligen Geistes in dir so verhieltest?
Hoffn. Die Ursachen waren folgende: 1) wußte ich nicht, daß dies das Wort Gottes in mir war. Es war mir nie in den Sinn gekommen, daß Gott die Bekehrung eines Sünders damit anfange, daß er denselben zur Erkenntniß der Sünden, bringe; 2) war die Sünde meinem Fleische noch sehr angenehm und war ich nicht geneigt, sie daran zu geben; 3) konnte ich mich nicht von meinem alten Gefährten losmachen, denn ihre Gesellschaft und ihr Treiben waren zu reizend für mich; und 4) waren die Stunden, in denen mich die Erkenntniß meiner Sünden ergriff, so beunruhigend und herzergreifend für mich, daß ich weder sie, noch auch den Gedanken daran ertragen konnte.
Chr. So wurdest du wohl, wie es scheint, zuweilen deiner Unruhe los?
Hoffn. Ja, wirklich, aber sie kam immer wieder, und dann ging es mir ebenso schlimm, ja noch schlimmer als vorher.
Chr. Aber was war es denn, was dir deine Sünden immer wieder auf's Neue zu Gemüthe führte?
Hoffn. Mancherlei, z. B. wenn ich draußen einem frommen Menschen begegnete; wenn ich Jemand in der Bibel lesen hörte; wenn ich Kopfschmerz bekam; oder wenn ich hörte, daß einer meiner Nachbarn krank sei; wenn ich die Todtenglocke läuten hörte; wenn ich daran dachte, daß ich selbst sterben müsse; oder vernahm, daß Jemand plötzlich vom Tode überfallen worden sei; besonders aber, wenn ich bedachte, daß ich sehr bald vor dem Gericht erscheinen müsse.
Chr. Und konntest du jemals die Schuld deiner Sünden leicht von dir abweisen, wenn sie sich auf die eine oder andere Art, wie du eben angegeben, über dich hinwälzte?
Hoffn. Nein, das konnte ich nicht, vielmehr drückte sie mich nur härter, und wenn ich daran dachte, wieder zur Sünde zurückzukehren, die mir doch im Innersten zuwider war, so stand ich doppelte Qual aus.
Chr. Was fingst du aber dann an?
Hoffn. Ich dachte, ich müßte mich bemühen, mein Leben zu bessern, denn sonst würde ich ganz gewiß verdammt werden.
Chr. Und bemühtest du dich denn wirklich, dein Leben zu bessern?
Hoffn. Ja, und ich floh nicht bloß meine Sünden, sondern auch die sündhafte Gesellschaft und schickte mich zur Erfüllung religiöser Pflichten an: Ich betete und las religiöse Bücher, ich weinte über meine Sünden, ich redete die Wahrheit zu meinem Nächsten und dgl. Diese Dinge that ich und viele andere, die hier zu erzählen zu weitläufig sind.
Chr. Und fühltest du dich dabei wohl?
Hoffn. Ja, eine kleine Weile, aber zuletzt überfiel mich meine Unruhe wieder, ungeachtet aller meiner Besserungsversuche.
Chr. Wie kam das, da du dich doch gebessert hattest?
Hoffn. Mancherlei erregte diese Unruhe in mir, besonders Sprüche wie: Alle unsere Gerechtigkeit ist wie ein unfläthiges Kleid;8) durch des Gesetzes Werke wird kein Fleisch gerecht. 9) Wenn ihr Alles gethan habt, was euch befohlen ist, so sprechet: wir sind unnütze Knechte10) — und mehrere ähnlichen Inhalts. Daraus machte ich nun den Schluß: Wenn all meine Gerechtigkeit nur ein unfläthiges Kleid ist, wenn kein Mensch durch des Gesetzes Werke gerecht werden kann, und wir, wenn wir alles gethan, doch nur unnütze Knechte sind: so ist es nur Thorheit zu glauben, daß man durch des Gesetzes Werke selig werden könne. Ich dachte ferner: Wenn Jemand bei einem Kaufmann hundert Thaler Schulden gemacht hat, und Alles, was er später kauft, auch bezahlt, so kann der Kaufmann, so lange die alte Schuld in seinem Buche nicht getilgt ist, ihn dafür gerichtlich belangen und ihn, bis er sie bezahlt hat, in's Gefängniß setzen lassen.
Chr. Richtig, aber welche Anwendung machtest du davon auf dich selbst?
Hoffn. Ich dachte so bei mir: Durch meine Sünden habe ich eine große Schuld in Gottes Buch zuwege gebracht und die kann ich durch meine jetzige Besserung nicht tilgen. Daher mußte ich bei all meiner Besserung mich doch fragen: wie soll ich frei werden von jener Verdammniß, in welche ich mich durch meine frühern Übertretungen gebracht habe?
Chr. Die Anwendung ist vortrefflich, aber sei so gut und fahre fort.
Hoffn. Noch etwas Anderes, was mich bei meiner Besserung immer beunruhigte, war, daß ich im genauen Hinblick auf meine besten Werke, doch Sünde und immer neue Sünde wahrnahm, die sich in meine besten Handlungen einmischte. Ich muß daher schließen, daß, wie hoch ich auch in thörichter Einbildung früher von mir und der Erfüllung meiner Pflichten dachte, ich doch durch meine Sünden an einem einzigen Tage die Hölle verdient habe, wäre auch mein früheres Leben ganz schuldlos gewesen.
Chr. Nun und was thatest du alsdann?
Hoffn. Ich wußte nicht, was ich thun sollte, bis ich vor Getreu mein Herz ausgeschüttet hatte; wir Beide waren nämlich gut bekannt mit einander. Er aber sagte mir, daß wenn ich nicht die Gerechtigkeit eines Mannes erlangen könne, der niemals gesündigt, so könne mich weder meine eigene, noch die Gerechtigkeit der ganzen Welt erretten.
Chr. Und schenktest du seinen Worten Glauben?
Hoffn. Hätte er mir das in der Zeit gesagt, da ich noch Freude und ein Genüge an meiner Selbstbesserung fand, so hätte ich ihn einen Narren genannt; nachdem ich aber meine eigene Ohnmacht und die Sünde, die meinen besten Werken anklebt, erkennen gelernt habe, fühle ich mich gedrungen, ihm beizupflichten.
Chr. Aber glaubtest du wohl, als er dir zum erstenmal davon redete, daß ein Mann wirklich gefunden werde, von dem man mit Wahrheit behaupten könne, daß er nie eine Sünde begangen habe?
Hoffn. Ich muß gestehen, daß mir die Worte anfangs sonderbar klangen, als ich aber etwas mehr mit ihm redete und umging, war ich vollkommen überzeugt von ihrer Wahrheit.
Chr. Und hast du ihn gefragt, was für ein Mann das sei und wie du durch ihn könntest gerecht werden?
Hoffn. Ja, und er sagte mir, es sei der Herr Jesus, der da sitzet zu der Rechten der Majestät in der Höhe. 11) „Durch Ihn“ — sagte er ferner — „mußt du gerechtfertigt werden, also daß du dein Vertrauen setzest auf das, was er in den Tagen seines Fleisches gethan und am Stamme des Kreuzes gelitten hat.„12) Ich fragte ihn weiter, wie die Gerechtigkeit dieses Mannes solche Kraft haben könne, daß Er einen Andern dadurch gerecht mache vor Gott. Darauf antwortete er mir: „Er war der allmächtige Gott und was er that, that Er nicht für sich selbst, sondern für mich, ebenso litt er auch den Tod, nicht um seinet-, sondern um meinetwillen. Sein Gehorsam und seine Verdienste werden aber mir zugerechnet, wenn ich an ihn glaube.
Chr. Und was thatest du nun weiter?
Hoffn. Ich machte zuerst allerlei Einwendungen gegen meinen Glauben, denn ich meinte, der Herr Jesus wäre nicht geneigt, mich selig zu machen.
Chr. Was sagte dir denn Getreu darauf?
Hoffn. Er sagte mir, ich solle zu Ihm gehen und sehen. Ich bemerkte aber, daß dies doch verwegen sein würde. „Nein,“ versetzte er, „denn du bist ja dazu eingeladen. „13) Sodann gab er mir ein Buch, vom Herrn selbst eingegeben, um mich desto mehr zu ermuthigen, daß ich zu Ihm gehen möge. Von diesem Buche sagte er, daß jeder Buchstabe und Titelchen darin fester stehe als Himmel und Erde. 14) Hierauf fragte ich, was ich thun müsse, wenn ich zu Ihm ginge. Er sagte, ich müsse auf meinen Knieen von ganzem Herzen und von ganzer Seele den Vater bitten, daß Er mir den Sohn offenbaren wolle. 15) Hiernach fragte ich ihn, wie ich denn meine Bitten einrichten müsse. Da sagte er: „Gehe hin, und du wirst sehen, daß Er das ganze Jahr hindurch auf einem Gnadenstuhl sitzt, Erbarmen und Vergebung zu schenken Allen, die zu ihm kommend. 16) Nun wendete ich ein, ich wisse nicht, was ich sagen solle, wenn ich zu Ihm käme. Er aber hieß mich also sprechen: „Gott sei mir Sünder gnädig, verleihe mir, daß ich Jesum Christum erkennen und an Ihn glauben möge, denn ich sehe ein, daß ich ohne seine Gerechtigkeit und ohne den Glauben an dieselbe verloren gehen muß. O Herr, ich habe vernommen, daß du ein gnädiger Gott bist und daß du deinen Sohn Jesum Christum zum Heiland der Welt verordnet hast, auch daß du bereit bist, ihn armen Sündern, wie ich bin, zu schenken. Und wahrlich, ich bin ein armer Sünder. So laß denn, o Herr, mich nicht unerhört von dir gehen, sondern verherrliche deine Gnade an mir durch die Errettung meiner Seele, um der Verdienste deines Sohnes, Jesu Christi, willen. Amen. “
Chr. Und hast du gethan, wie dir geheißen ward?
Hoffn. Ja, einmal über das andere und fort und fort.
Chr. Und hat der Vater dir den Sohn offenbaret?
Hoffn. Weder das erste noch das zweitemal, weder das dritte, vierte, fünfte, ja selbst nicht das sechstemal.
Chr. Was fingst du da an?
Hoffn. Was ich anfing? Ich wußte nicht, was ich thun sollte.
Chr. Kam es dir nicht in den Sinn, das Gebet daran zu geben?
Hoffn. Ja, unzähligemal.
Chr. Aber warum thatest du dies denn doch nicht?
Hoffn. Ich glaubte daran, wie mir gesagt worden war, daß mich nämlich die ganze Welt ohne die Gerechtigkeit Christi nicht selig machen könne: darum dachte ich, hörst du auf zu beten, so kommst du um, und mehr als umkommen kannst du am Thron der Gnade doch nicht. Dabei fielen mir die Worte ein: Ob auch die Erfüllung der Verheißung verzieht, so harre ihrer; sie wird gewißlich kommen und nicht verziehen. 17) Und so blieb ich am Gebet, bis der Vater mir den Sohn offenbarte.
Chr. Und wie ward Er dir denn offenbaret?
Hoffn. Ich sah ihn nicht mit meinen leiblichen Augen, aber mit den Augen meines Verständnisses18), und das geschah in folgender Art: Eines Tages war ich sehr traurig, und ich meine, trauriger als sonst in meinem ganzen Leben. Diese Traurigkeit aber kam von der erneuerten Erkenntniß der Größe und Abscheulichkeit meiner Sünden. Und da ich nun Nichts als Hölle und ewige Verdammniß meiner Seele vor mir sah, meinte ich den Herrn Jesum zu schauen, wie Er vom Himmel auf mich niederblickte und mir zurief: Glaube an den Herrn Jesum Christum, so wirst du selig werden. 19)
Ich aber erwiederte: „Herr, ich bin ein großer, ein sehr großer Sünder!„ Und er antwortete: Laß dir an meiner Gnade genügen. 20) Darauf sagte ich: „Aber, Herr, was heißt denn glauben?“ Und aus den Worten: Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern, und wer an mich glaubet, den wird nimmermehr dürsten21) — wurde es mir klar, daß an Jesum glauben und zu Ihm kommen ein und das Selbe sei, und daß derjenige, welcher kommt, d. h. sich in Christi Herz hineinflüchtet, und ein wahres Verlangen hat durch Christum selig zu werden, wirklich an Ihn glaubet. Da standen mir die Thränen in den Augen, und nun fragte ich ferner: „Aber Herr, kann dann auch ein so großer Sünder wie ich bin von dir angenommen und selig gemacht werden?„ Da hörte ich ihn sagen: Wer zu mir kommt, den will ich nicht hinausstoßen. 22) Da fragte ich: „Aber, Herr, was muß ich von dir halten, wenn ich zu dir komme, auf daß mein Glaube rechter Art sei?“ Hierauf fügte Er: Christus Jesus ist in die Welt gekommen, die Sünder selig zu machen. 23) Er ist des Gesetzes Ende, wer an Ihn glaubt, der ist gerecht. 24) Er ist um unserer Sünde willen dahingegeben und um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt. 25) Er hat uns geliebt und gewaschen von den Sünden mit seinem Blut. 26) Er ist der Mittler zwischen Gott und den Menschen. 27) Er lebet immerdar und bittet für uns. 28) Aus allem diesem schloß ich, daß ich meine Gerechtigkeit in seiner Person und die Genugthuung für meine Sünden in seinem Blute suchen müsse; denn Alles, was er aus Gehorsam gegen das Gesetz seines Vaters gethan, und daß er die Strafe auf sich genommen, sei nicht geschehen für Ihn, sondern für die, welche Solches zu ihrer Seligkeit annehmen und Ihm dafür dankbar sind. Und nun ward mein Herz voller Freude, meine Augen gingen über von Thränen und meine Seele brach aus in Liebe über dem Namen, dem Volke und den Wegen Jesu Christi.
Chr. Dies war wirklich eine Offenbarung Christi an deine Seele. Aber sage mir doch insbesondere, was für eine Wirkung Solches auf deinen Geist hatte?
Hoffn. Ich lernte dadurch erkennen, daß die ganze Welt, trotz aller Gerechtigkeit, die sie zu haben vermeint, sich im Stande der Verdammniß befindet,29) und daß Gott der Vater, wiewohl Er selber gerecht ist, dennoch den Sünder, der zu ihm kommt, rechtfertigen kann. Ich wurde dadurch tief beschämt über die Abscheulichkeit meines frühern Lebens, so wie über meine eigene große Unwissenheit, denn vorher war niemals ein Gedanke in mein Herz gekommen, der mir die Schönheit Jesu Christ so gezeigt, wie jetzt. Auch ward dadurch die Liebe zu einem heiligen Leben und die Sehnsucht, Etwas zur Ehre und Verherrlichung des Herrn Jesu zu thun, in mir erweckt. Ja, ich dachte, hätte ich tausend Eimer Mut in meinem Leibe, so wollte ich sie bis auf den letzten Tropfen gerne vergießen um meines Heilandes willen.