Auberlen, Karl August - Das Alte Testament und die Heidenwelt.

Auberlen, Karl August - Das Alte Testament und die Heidenwelt.

Wenn wir die Geschichte unseres Geschlechtes bis in die graueste Urzeit zurückverfolgen, so finden wir dasselbe bereits in verschiedene Völker mit eigenthümlicher Sprache und Religion zertheilt, die einander nicht verstehen, ja die sich gegenseitig bekämpfen und zerfleischen. Dies ist kein normaler Zustand, sondern ein Zustand der Zerrüttung. Das Schlimmste ist aber nicht die feindselige Trennung der Völker unter sich, sondern ihre Trennung von dem lebendigen Gott, ihr Versinken in Vielgötterei und Götzendienst, so daß nach biblischem Sprachgebrauch die Völker als solche Heiden sind. Denn Gott ist die Quelle alles Lebens und aller wahren Lebensfreude; ohne ihn sind die Nationen bei allem äußeren Schmuck und Glanze des Daseins doch nur wie eine Herde ohne Hirten, wie verlorene Söhne ohne Heimath. Wir müssen vermuthen, daß die Trennung der Völker unter einander und ihre Trennung von Gott in ursächlichem Zusammenhang stehen. Denn Gott ist, wie der tragende Grund, so auch das einigende Band aller Creaturen. Indem die Menschheit von Gott sich losriß, verlor sie den wahren Einigungspunkt und ward auch unter sich zerrissen. Es wird also eine große Urthatsache, eine weltgeschichtliche Katastrophe gegeben haben, in welcher die Menschheit als solche gegen Gott sich empörte und dafür in gesonderte Sprachen, Völker, Religionen zertheilt wurde, so daß feindselige Gegensätzlichkeit und Ausschließlichkeit an die Stelle der schönen Mannigfaltigkeit trat, in welcher sonst die verschiedenen Geschlechter zu Einer großen Gottesfamilie verbunden geblieben wären. Das Volk Israel, welches, weil die wahre Erkenntnis Gottes, auch die wahre Erkenntnis der Menschheit, die ungetrübte Erinnerung ihrer Urgeschicke besaß, nennt uns in seinen heiligen Urkunden als jene große urgeschichtliche Thatsache den Thurmbau zu Babel. So finden wir die Menschheit nach der Sündfluth wieder in einem Zustand allgemeinen Abfalls. Daß sie in heidnische, einander feindselige Völker zerspalten ist, das ist die große, universalgeschichtliche Erscheinung des in der letzten Vorlesung geschilderten Sündenzustandes. Aber mitten unter diesen Völkern tritt uns ein Volk entgegen, welches sich von den übrigen allen wesentlich unterscheidet, das schon genannte Israel. Während die andern viele Götter, die eben deswegen falsche sind, anbeten, finden wir hier die Erkenntnis und den Dienst des Einen, wahren Gottes. Wie erklärt sich diese auffallende Erscheinung? Sollte etwa Israel durch eine glückliche Naturanlage befähigt gewesen sein, die wahre Religion in ähnlicher Weise aus sich zu erzeugen, wie die Griechen das Höchste in der Kunst geleistet haben? Allein auch andere Völker haben in der Kunst Namhaftes, die Griechen nur das Vollkommenste geleistet; die israelitische Religion dagegen unterscheidet sich von den heidnischen Religionen als die wahre von den falschen; und wie Religion noch etwas anderes ist als Kunst, so ist der Wesensgegensatz zwischen wahr und falsch etwas Anderes als der Gradunterschied von vollkommen und unvollkommen. Außerdem wissen wir, daß der Irrthum, zumal der religiöse Irrthum eine Folge der Sünde ist, und von dieser war Israel so wenig frei als die andern Nationen. So wird also auch das jüdische Volk die wahre Religion so wenig haben aus sich erzeugen können, als man Trauben lesen kann von den Dornen oder Feigen von den Disteln. Damit stimmt auch das Selbstbewußtsein dieses Volkes, wie es sich in seinen heiligen Urkunden ausspricht, völlig überein. Israel macht in keiner Weise auf die Ehre der Urheberschaft seiner Religion Anspruch; vielmehr schildern die alttestamentlichen Schriften das Volk seiner Natur nach als widerspenstig gegen Gott und immer auf's Neue zur Abgötterei geneigt, kurz als ebenso heidnisch wie nur irgend ein anderes Volk. Die Gotteserkenntnis und Religion dagegen wird in ihrem Anfang und in allen ihren Entwicklungsstadien aus göttlicher Offenbarung abgeleitet. Es hängen aber die Aussagen über den Inhalt und über den Ursprung der Gottesidee im Alten Testament unauflöslich zusammen, und wenn man den ersteren Wahrheit zuerkennen muß, so kann man die letzteren nicht verwerfen, ohne sich des Widerspruchs und der Willkür schuldig zu machen.

Ein zweiter Punkt, durch welchen sich das jüdische Volk von den übrigen unterscheidet, ist die Messiashoffnung. Wie Gott das Princip des alttestamentlichen Lebens ist, indem sich Israel von Anfang an als Volk und Reich Jehovas weiß, so ist der Messias das Ziel. Während die heidnischen Völker und Reiche rettungs- und hoffnungslos untergehen, erhebt sich in Israel gerade beim herannahenden Untergang mit steigender Klarheit die Erwartung eines hohen, gottgesandten Retters, der das Gottesreich in neuer, die vorige weit überragender Heiligkeit und Herrlichkeit herstellen soll. Auch diese Idee wird von ihren Trägern, den Propheten, allenthalben auf göttliche Offenbarung zurückgeführt, und wir haben allen Grund, ihren Zeugnissen zu glauben. Denn nicht nur ist es ein Ungedanke, daß die Verkündiger der höchsten Wahrheiten in der Menschheit über den Ursprung derselben im Irrthum befangen gewesen sein sollten, sondern es liegt in der Natur der Sache, daß auch diese goldene Frucht nicht aus dem Dornstrauch des sündigen Menschenherzens erwachsen konnte. Sonst hätten doch wohl auch die edeln, großen Geister anderer Nationen, ein Sokrates und Platon, Zoroaster und Confucius, auf das Heil warten müssen; aber nur etwa dunkle Sehnsuchtslaute dieser Art vernehmen wir aus ihrem Munde. Nur als kraftloses Ideal wird in Zeiten des Verfalls der bessere Zustand von heidnischen Philosophen und andern ernsten Männern, wie Tacitus, dem entnervten Geschlechte vorgehalten; nur als verschwundenes Weltalter oder als poetisches Traum-, als politisches Schmeichelbild wird die goldene Zeit von heidnischen Dichtern besungen. Die Heiden haben keine Hoffnung, weil sie ohne Gott in der Welt sind (Eph. 2, 14.). In Israel dagegen tritt die Messiasidee nicht nur als Sehnsucht oder Dichtung oder Ahnung auf, sondern als bestimmte, durch Jahrhunderte hin sich immer bestimmter wiederholende Weissagung. Eine solche Weissagung zu geben, steht aber in keines Menschen Macht; die Prophezeiungen selbst eines so frommen Mannes wie Savonarola waren keine Weissagungen, denn sie blieben unerfüllt. Hier aber tritt der Weissagung auf eine in der Geschichte sonst beispiellose Weise die Erfüllung bestätigend zur Seite, indem sich, und zwar erst viele Jahrhunderte später, Jesus von Nazareth für den Messias erklärt und den Anbruch des von den Propheten verheißenen Gottesreichs verkündigt hat.

Dies führt uns auf eine dritte Eigenthümlichkeit, welche Israel vor den Heiden auszeichnet. Ich meine das Verhältnis seiner Religion zu der christlichen, welches von beiden als ein Verhältnis des alten Bundes zum neuen aufgefaßt wird (Jer. 31,31ff. Luc. 22, 20. 2 Cor. 3, 6. 14.). Das Christenthum erkennt im Alten Testament seine göttlich geordnete Vorstufe, während es im Heidenthum die Gewalt und den Dienst finsterer Mächte sieht. (Apgsch. 26, 18. 1 Cor. 10, 20.) Dies einzigartige Ineinandergreifen der beiden Bünde und ihrer verschiedenen Offenbarungsstufen in Verbindung mit dem Geiste, der aus diesem wunderbaren Ganzen uns anweht, ist ein weiteres Zeugnis für den göttlichen Ursprung der jüdischen (wie der christlichen) Religion. Wenn wir den Inhalt der alt- und neutestamentlichen Bücher mit gewissenhaftem Nachdenken überschauen, so tritt uns in den Geschichten und Lehren ein über Jahrhunderte und Jahrtausende übergreifender Zusammenhang und ein stufenmäßiger Fortschritt entgegen, welcher auf einen allumfassenden Plan hinweist, der unmöglich in dem Geiste kurzlebiger Menschen entstanden sein kann, sondern nur in jener göttlichen Ursächlichkeit, auf welche die Bibel selbst Alles zurückführt, seine vernünftige Erklärung findet. Und wenn wir die so gewonnene Erkenntnis näher prüfen und mit unsern übrigen Erkenntnissen zusammenhalten: so finden wir, daß die göttlichen Offenbarungen wie unter sich, so auch mit den Anlagen und Bedürfnissen der Menschennatur, mit den Grundverhältnissen der Welt und mit dem Wesen Gottes trefflich zusammenstimmen. Der Hauch einer unvergleichlichen Weisheit, Heiligkeit und Liebe weht aus der h. Schrift uns entgegen, und sie gewährt den Forderungen des Gewissens, wie dem Trieb nach Erkenntnis der höchsten Wahrheit ein volles Genüge. „Nichts habe ihn - sagt ein sehr nüchtern und verständig denkender schweizerischer Theologe, der die ganze alt- und neutestamentliche Geschichte gründlich bearbeitet hat, der ehrwürdige Antistes Heß von Zürich, - Nichts habe ihn von der Wahrheit des Christenthums (d. h. der Offenbarung überhaupt), der Geschichte und der Lehre, so innig überzeugt, wie das, daß er einerseits in den Offenbarungsurkunden gerade das fand, was den Bedürfnissen der Menschheit in Hinsicht auf ihre Bestimmung für Zeit und Ewigkeit vollkommen zusagt, andererseits in den eben darauf abzielenden göttlichen Veranstaltungen einen vom Kleineren zum Größeren, vom Besonderen zum Allgemeinen fortschreitenden Zusammenhang erblickte, der unmöglich von menschlicher Erfindung sein kann. „

Nach dem Bisherigen sind wir berechtigt und verpflichtet, Israel als das Gottesvolk im ungeschwächten, biblischen Sinn dieses Worts den Heiden gegenüberzustellen. Die israelitische Geschichte ist die Geschichte der göttlichen Offenbarung, die heidnische ist die der sich selbst überlassenen Menschheit. In jener stellt sich uns die positive, in dieser die negative Vorbereitung des Christenthums dar, sofern hier thatsächlich an's Licht kommt, wozu die Menschheit ohne Gott gelangt. Dort wird, um einen sinnigen Ausdruck des neuesten Geschichtsschreibers des alten Bundes, J. H. Kurtz, zu gebrauchen, das Heil für die Menschheit, hier die Menschheit für das Heil zubereitet. Indem wir nun diese beiden Entwicklungsreihen näher in's Auge fassen, werden wir in der ganzen Geschichte der alten Welt eine Vorbereitung auf und mithin einen Beweis für das Christenthum erkennen. Lassen Sie uns zuerst auf die göttliche Offenbarung in Israel und ihre Entwicklung, wie sie in den biblischen Urkunden sich darlegt, unsere Blicke richten!

Ueber der Welt thront der ewige Gott, der die Liebe ist. Vermöge dieser seiner Liebe hat er von Ewigkeit her beschlossen, sich selbst der geschaffenen Welt immer völliger zu offenbaren und mitzutheilen, um so die Geschöpfe mit seinem eigenen Leben und seiner Herrlichkeit zu erfüllen, bis sie zur Vollendung ihres Daseins in Gott gelangen und Gott sei Alles in Allem. Diesen Liebesplan hat Gott nicht aufgegeben, nachdem die Sünde in die Welt eingetreten ist. Ihr gegenüber erweist sich seine Liebe nur desto herrlicher als die Gnade, welche das Verlorene rettet und die Vollendung der Welt auf dem Wege der Erlösung herbeiführt. Vermöge seiner freien, unausdenklichen Erbarmung hält Gott auch dem heidnischen Völkerabfall gegenüber seine Friedensgedanken über die Menschheit fest; er will durch seine fortgesetzten Offenbarungen zunächst die Erlösung und weiterhin die Vollendung, die Verklärung der Welt herbeiführen.

Welche Stellung sollte nun aber die göttliche Offenbarung gegenüber der falschen Bahn einnehmen, welche die Völker betreten hatten? Eine neue Sündfluth zur Vernichtung des gottlosen Geschlechtes durfte nicht wieder eintreten; das hatte Gott, nachdem ein für alle Mal jenes gewaltige Exempel seines Gerichtsernstes an die Spitze der Menschengeschichte gestellt war, ausdrücklich verheißen (1 Mos. 8, 21. 9, 15.); denn auf diesem Wege wäre ja keine Erlösung von der Sünde bewirkt worden. Ebenso wenig konnte die ganze Menschheit auf eine wunderbare Weise zu dem lebendigen Gott zurückgebracht werden; denn das wäre eine gewaltsame und zauberische Erlösung gewesen, während Gott die Freiheit der Menschen auf's Zarteste respektiert. So konnte er also das ganze Menschengeschlecht weder vernichten noch bekehren; es blieb nur übrig, daß er an einem einzelnen Punkte, wo noch die meiste Empfänglichkeit für seine Offenbarungen vorhanden war, seinen Hebel zur Rettung des Ganzen ansetzte. Gott mußte einen particularistischen Weg einschlagen, um das universelle Heil zu verwirklichen. Darum sonderte er, wie früher den Sethiten Noah, so jetzt den Semiten Abraham zum besondern Träger seiner Offenbarung aus. Abraham sollte in jener Zeit der Wanderzüge und des sich gestaltenden Völkerlebens der Stammvater einer einzigartigen Familie und weiterhin einer einzigartigen Nation werden. Während Gott alle Heiden ihre eigenen Wege wandeln ließ (Apgsch. 14, 16.), erwählte er Israel zu seinem Eigenthum und bereitete durch die geschichtliche Führung dieses Volkes die Erreichung des nächsten Offenbarungszieles, die Erlösung, vor, und zwar durch drei Stufen.

Sollte es nämlich wirklich zur Erlösung kommen, so mußte zuvor die Sünde in ihrer ganzen Tiefe als Widerspruch gegen den heiligen Willen Gottes und ebendaher gegen die Idee und Bestimmung des Menschen erkannt sein. Und Dies konnte nicht geschehen, ohne daß sich der Mensch in seinem innersten Wesen an Gott gebunden fühlte und es als seine Pflicht erkannte, vor Gott zu wandeln und fromm zu sein (1 Mos. 17,1.). Es mußte daher 1) der heidnischen Gottlosigkeit und Weltseligkeit gegenüber ein heiliger Lebenskreis in der Menschheit ausgesondert werden, in welchem Gott das zerrissene Band zwischen sich und den Menschen wieder anknüpfte und die letzteren zum Glauben zurückführte. Dies geschah in der patriarchalischen Offenbarung, die dem Abraham, Isaak und Jakob zu Theil wurde. Auf Grund dieser Offenbarung konnte nun 2), als die Familie sich zum Volke entwickelt hatte, der heilige Wille Gottes im Gesetz geoffenbaret werden, durch welches die Erkenntnis der Sünde kam (Röm. 3, 20.) Hieran schloß sich sodann 3) die Weissagung der Erlösung in der Prophetie, welche vom Gesetzt zum Evangelium, von Mose zu Christus überleitet. Patriarchenthum, Gesetz und Propheten, das sind die drei Offenbarungsstufen des Alten Bundes, die wir nun genauer in's Auge zu fassen haben.

Indem wir aber an diesen Gegenstand herantreten, liegen uns noch etliche Steine im Weg, die zuvor beseitigt werden müssen. Es kommen im Alten Testament, wie in der Bibel überhaupt zahlreiche Wunder vor, und daran nimmt das heutige Denken vielfach Anstoß. Die Frage, ob es Wunder geben könne, reduziert sich auf die andere, ob es einen lebendigen Gott gibt, der die Welt geschaffen, hat, und dem es daher zusteht, auch Neues in ihr zu schaffen. Daß wir allen Grund haben, ja durch unser Gewissen, wie durch ein richtiges Denken genöthigt sind, an einen solchen Gott zu glauben, ist in den zwei ersten dieser Vorträge gezeigt, und eben daher ist auch dort schon Wesen und Möglichkeit der Wunder, wenigstens in der Kürze, erörtert worden. In der That, jener einfache Satz, mit welchem Gabriel der Maria die Möglichkeit der übernatürlichen Erzeugung des Heilandes darthut: Bei Gott ist kein Ding unmöglich (Luc. 1,37.), erweist sich auch dem strengen, das Verhältnis Gottes zur Welt klar und lebensvoll auffassenden Denken als die treffendste Begründung des Wunders. In diesem Sinne sagt der berühmte Freiheitsmann J. J. Rousseau in seiner kräftigen Weise, es sei gotteslästerlich, die Möglichkeit der Wunder zu leugnen, und wer es thue, verdiene eingesperrt zu werden. Und einer der scharfsinnigsten neueren Denker, Richard Rothe, bemerkt: „Ich will es nur ehrlich beichten, daß ich bis auf diese Stunde niemals mir habe deutlich machen können, woran sich mein Denken doch stoßen könnte in dem Gedanken des Wunders. Es mag dies daher rühren, daß ich nun einmal von Haus aus eine so durchaus theistische Natur bin, die nie auch nur die leiseste Neigung und Anfechtung, weder pantheistischer noch deistischer Art in sich verspürt hat. „ Die Wunder gehören vielmehr zum Wesen der göttlichen Offenbarung und sind die nothwendigen Erscheinungsformen derselben; denn die Offenbarung besteht darin, daß Gott selbst handelnd und redend in die Menschheit eintritt, um in ihr ein Neues zu schaffen, das die Kreatur aus ihren eigenen Mitteln nicht hervorbringen könnte, und so die Welt der in ihrer ursprünglichen Idee liegenden Vollendung in Gott entgegenzuführen. Auch daß im Alten Testament andersartige und noch auffallendere Wunder erzählt werden als im Neuen, darf uns nicht stoßen. Denn auf den sinnlichen, nach Außen gekehrten Geist jener alten Zeit und des noch kindischen Volkes (vgl. Gal. 4,1.) mußte durch augenfällige, kolossale Wunder gewirkt werden, welche den mehr äußerlichen Charakter gewaltiger, zuweilen seltsamer Naturereignisse an sich tragen.

Es gibt aber auch andere Anstöße im Alten Testament, welche bedenklicher erscheinen, weil sie nicht bloß unser Denken, sondern unser sittliches Bewußtsein zu verletzen drohen, z. B. die Vielweiberei der Patriarchen, der Befehl zur Ausrottung der Kanaaniter u. dgl. Bei derartigen Fragen müssen wir nur so billig und so gründlich zu Werke gehen, daß wir das Einzelne aus dem Geiste des Ganzen heraus beurtheilen. Es ist ein ebenso unrechtes als unwissenschaftliches Verfahren, solche Einzelheiten aus ihrem Zusammenhang herauszureißen und als Waffen gegen das A. T. zu benützen. Ehe man das A. T. der Unsittlichkeit anklagt, wäre doch zu bedenken, daß die zehn Gebote, welche das eigentliche Fundament desselben sind, in alle christlichen Katechismen übergegangen und von allen christlichen Völkern auswendig gelernt, noch heute auch das Fundament der Sittlichkeit der ganzen gesitteten Welt bilden. Liegt hierin die unvergängliche, göttliche Wahrheit, die im Alten Bunde enthalten ist, angedeutet, so ist er ja auf der andern Seite eben nur der Alte Bund, noch nicht der Neue, nur die vorbereitende, noch nicht die vollkommene Offenbarung. Eine unbefangene, echt geschichtliche Betrachtung mißt daher die alttestamentlichen Thatsachen mit ihrem eigenen, nicht mit neutestamentlichem oder modernem Maßstabe. Sie macht mit der von Lessing ausgesprochenen, in der Schrift begründeten Idee einer göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts Ernst. Der göttlichen Erziehungsweisheit ist es vollkommen gemäß, daß Gott Manches, was auf einer höhern Offenbarungsstufe, nach geschehener Erlösung aus dem Fleischesbann wegfiel, wie z. B. die Vielweiberei und die Sklaverei, im Alten Bunde noch unter seiner Geduld stehen ließ; gewöhnt doch auch ein tüchtiger Lehrer oder Vater seinen Kindern ihre Unarten nur nach und nach ab, vom Leichteren zum Schwereren fortschreitend. Die Ausrottung der Kanaaniter ist nichts Anderes als das weltgeschichtliche Gericht, das immer die frischen Völker an den entarteten vollstrecken müssen, und welches z. B. später an den Juden selbst die Babylonier und Römer, an den Babyloniern die Perser, an den Römern wir Germanen vollzogen haben. Nur hat in Israel „der Herr seinen heiligen Arm geoffenbaret,“ d. h. das gerechte Gericht, das er sonst durch die verborgene Leitung der Weltgeschichte anordnet, hat er seinem Offenbarungsvolk, welches überdies ein besonders tiefgesunkenes, zur Bestrafung überreifes und dabei doch verführerisches Heidenthum sich gegenüber hatte, ausdrücklich befohlen. Natürlich kann es in dieser flüchtigen Stunde nicht unsere Aufgabe sein, alle etwaigen Fragen und Bedenken hinsichtlich des A. T. zu beantworten; es genügt, im Gegensatze zu dem jetzt freilich weitverbreiteten, oberflächlichen Räsonieren über und gegen das A. T. den wahrhaft wissenschaftlichen Standpunkt der Betrachtung festgestellt und für die ernstlich Suchenden angedeutet zu haben, daß auch hier Glauben und Wissen wohl mit einander vereinbar sind, ja wahrlich mehr als nur vereinbar.

Abraham wurde von Gott aus dem ganzen Zusammenhang der bisherigen, in's Heidenthum hineinführenden Entwicklung herausgenommen; er mußte seine Familie, ja sein Vaterland verlassen und in ein fremdes Land, Kanaan, ziehen, das von jetzt an der Hauptschauplatz der göttlichen Offenbarung bleibt. Damit aber erkannt werde, daß diese Aussonderung Abrahams nicht ein vereinzeltes, gleichsam zufälliges Ereignis, sondern Grund und Anfang weiterer Offenbarungsentwicklungen sei, fügt Gott der Berufung des Erzvaters sogleich eine Verheißung hinzu (1 Mos. 12, 1-3. 7.), welche er dann später, um ihre Bedeutung recht einzuschärfen, mehrfach, auch dem Isaak und Jakob wiederholt. Der Inhalt dieser Verheißung ist ein dreifacher: 1) Der kinderlose Abraham soll Stammvater eines großen Volkes werden, 2) diesem Volke soll das Land Kanaan gehören, 3) durch Abraham und seinen Samen sollen alle Geschlechter der Erde gesegnet werden. So blickt die Verheißung von Anfang an in die ganze alt- und neutestamentliche Zukunft hinaus, und indem der particularistische Weg der Auswahl eines einzigen Mannes und Geschlechtes beginnt, wird doch sogleich das universelle Ziel, Segen und Heil für die ganze Menschheit, gezeigt. Dem Abraham für seine Person aber wird in dieser Verheißung reicher Ersatz geboten für das, was er Gott zuliebe aufopfert. Er muß seine Familie verlassen, dafür soll er nicht nur in seinem Alter noch Familie bekommen, sondern Vater eines großen Volkes werden; aus seiner Heimath muß er wegziehen, dafür wird ihm und seiner Nachkommenschaft ein ganzes, schönes Land zum ewigen Eigenthum angewiesen. So lohnet Gott. Aber diesen Lohn hat Abraham noch nicht in Händen; er wird ihm nur verheißen. Der sinnliche Augenschein und die natürliche, vernünftige Berechnung führt auf das Gegentheil. Abrahams Weib ist unfruchtbar, sie beide schon alt: wie kann er da noch zahlreiche Nachkommenschaft erwarten? Und in Kanaan hat er lebenslang als ein Fremdling umherziehen müssen und nichts vom Lande sein eigen genannt als ein Grab. Lediglich auf zukünftige Güter also war Abraham angewiesen, welche keine andere Gegenwart für ihn hatten, als im Worte der Verheißung. Da galt es nicht bloß, die natürlichen Bande der Verwandtschaft um Gottes willen zu durchbrechen, sondern es galt das noch Schwerere, in dem, was Gott als Ersatz bot, wider alle Natur und Vernunft Ihm und seinem Worte unbedingt zu trauen. Abraham mußte, wenn er zum Anfänger der neuen Heilsgeschichte taugen sollte, aus dem Naturboden völlig herausgehoben und ganz und gar in Gott und Seine Macht und Gnade eingewurzelt werden. Er mußte glauben lernen. Diesen Glauben hat Abraham bewiesen und ihn sein Leben lang als Glaubensgehorsam, selbst in den schwersten Proben, bewährt. Das ist der Abrahamsglaube, zu welchem noch die Apostel des Neuen Bundes, Paulus vor Allem, mit der tiefsten Ehrfurcht emporblicken, und welchen ihm Gott zur Gerechtigkeit gerechnet hat. Diese ganze Sache aber ist eine so hohe und doch wieder so heilig einfältige, daß sie den Stempel der Wahrheit und Geschichtlichkeit unzweideutig an der Stirne trägt. Kein späterer Israelit hätte die Geschichte Abrahams erfinden können; denn Keiner ist auf seiner Glaubenshöhe gestanden, auch die größten Gottesmänner des Alten Bundes sind nur in den Fußstapfen des Vaters der Gläubigen einhergegangen. So war nun also wieder ein lebendiges Verhältnis zwischen dem wahrhaftigen Gott und den Menschen eröffnet: dasselbe ruht göttlicherseits auf der Verheißung, menschlicherseits auf dem Glauben. Darum errichtete nun Gott seinen Bund mit Abraham, d. h. er stiftete feierlich eine besondere Gemeinschaft mit ihm vor andern Menschen und Völkern, er versprach ihm und seinen Nachkommen Gott im besondern Sinne zu sein, und sie sollten ihm hinwiederum in besonderem Sinne dienen. Jene Gnadenleistung von Seiten Gottes ist ausgesprochen in den Worten: Fürchte dich nicht, Abraham, ich bin dein Schild und dein sehr großer Lohn; diese Dienstforderung an Abraham in den Worten: Ich bin der allmächtige Gott, wandle vor mir und sei fromm! mit welchen beiden Worten die beiden feierlichen Bundschließungen eingeleitet werden (1 Mos. 15,1. 17,1.). Als Zeichen des Bundes aber setzte Gott für Abraham und seine Nachkommen die Beschneidung ein, womit schon ein Anfang gesetzlicher Anstalten gegeben ist. Weil der Glaube nicht auf dem Wege natürlicher Zeugung fortgeerbt werden kann, so wird der letzteren doch wenigstens ein äußeres Zeichen angeheftet, daß Abrahams Same nicht ein bloßes Fleischesgeschlecht und Naturvolk sein soll, womit zugleich vorbildlich hinausgewiesen ist auf den wahren, aus dem Heiligen Geist erzeugten Abrahamssamen, auf Christum. Das ist die höhere und heilige Bedeutung, welche die, freilich auch bei andern Völkern vorkommende Beschneidung beim Volke Gottes gewinnt. Der Alte Bund hat manche Formen und Gebräuche mit dem Heidenthum gemein, weil auch er noch in der der alten Welt überhaupt eigenen, sinnlich anschaulichen Bildersprache zum Volke redet, sowie man Kindern Anschauungsunterricht gibt; aber jene Formen sind im A. T. mit einem ganz anderen, heiligen Geist und Wesen erfüllt, als in den heidnischen Naturreligionen.

Verheißung und Glaube, Bund und Beschneidung sind es also, worauf das alttestamentliche Patriarchenthum beruht.

In Aegypten wird nun die patriarchalische Familie zum Volk und dieses tritt jetzt unter Mose, einem der größten und geistesgewaltigsten Männer, welche die Erde getragen hat, in's Licht der Offenbarung. Gott wirbt um Israel und erwirbt es sich durch die gewaltigen Rettungswunder in Aegypten, im rothen Meer, in der Wüste zu seinem Eigenthumsvolk. Bei einer so zahlreichen Menge kann aber natürlich nicht auf den Glauben und Gehorsam jedes Einzelnen gerechnet werden. Und doch soll das ganze Volk ein göttliches Gepräge tragen. Dies kann daher nur in unvollkommener, äußerlicher Weise, nämlich auf dem schon mit Einsetzung der Beschneidung betretenen, gesetzlichen Wege erreicht werden, wodurch dann zugleich die inneren Mängel und Schäden nur desto sichtbarer an's Licht treten müssen. Staat und Gesetz sind ja die Form, worin das Leben eines Volkes sich ausprägt. In einer neuen, schöpferischen Liebesthat läßt sich demgemäß Gott herab, auf diese Grundform des nationalen Daseins einzugehen, indem er sich selbst zum König Israels erklärt und demselben eine Staatsund Kirchenverfassung, ein Gesetz, gibt, durch welches das natürliche und gesellige, das politische, sittliche und religiöse Leben so geregelt wird, daß ihm bis in's Kleinste und Einzelnste hinaus der Stempel der göttlichen Erwählung aufgedrückt und das gesamte Dasein zum Ausdruck des heiligen Gotteswillens gemacht wird. Auf Grundlage dieses Gesetzes, dessen Kern, die zehn Gebote, der göttliche König in feuerflammender Majestät persönlich verkündigt, und zu dessen Haltung sich das Volk freiwillig verpflichtet, wird am Sinai der Bund zwischen Jehova und Israel geschlossen, den wir den Alten Bund im engeren Sinne zu nennen pflegen. Sein Wahlspruch ist: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig. Damit ist also freilich noch keine innerliche Heiligkeit, noch keine lebendige Heiligung und Erneuerung des ganzen Menschen gegeben. Das Gesetz, obwohl es als Gottes Wille heilig, ja geistlich ist, ist doch noch nicht selbst lebendig machender Geist, sondern steht als bloßer Buchstabe dem menschlichen Fleisch gegenüber, es züchtigend und im Zaum haltend, ohne es wirklich ins Geistesleben umgebären, ohne die wahre Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, herstellen zu können. So ist das Gesetz noch nicht selbst heilbringend, sondern es ist nur ein Zuchtmeister auf den, der das Heil bringen sollte, auf Christum.

Näher betrachtet ist die Bedeutung des Gesetzes eine dreifache. Es ist 1) ein Zaun, welcher das Gottesvolk von den unheiligen Heidenvölkern abschließt und unter einer strengen Zucht und Gottesknechtschaft bewahrt. So wird durch dasselbe ein geweihter, heiliger Volksboden in der Menschheit ausgesondert, gleichsam mitten auf dem fluchbeladenen Acker ein umzäunter Garten, in welchem dann das eigentliche Heil erwachsen konnte. Daher bei den alttestamentlichen Frommen die Freude am Gesetz des Herrn, das sie als die auszeichnende Gnadengabe Gottes an sein Volk, als das köstlichste Kleinod Israels, worin allen Redlichen der Weg des Lebens gezeigt wird, in Psalmen, wie der 19. und 119. , besingen. Ist nun aber dadurch Israel den andern Völkern gegenüber zu einem heiligen Volk, zu einem Priesterkönigreich und besondern Gotteseigenthum geworden (2 Mos. 19, 5. 6.): so dient 2) das Gesetz dem Volke für sich selbst dazu, seine eigene Unheiligkeit dem heiligen Gotteswillen gegenüber an's Licht zu stellen. Das Gesetz ist, wie Paulus sagt (Gal. 3,19. vgl. Röm. 5, 20.), zwischen die patriarchalische Verheißung und die Erfüllung in Christo hineingekommen, um der Sünde willen, damit dieselbe in ihrer ganzen Größe hervortrete, d. h. theils zur vollen Entwicklung sich steigere, wie man etwa eine Krankheit aus dem Innern hervorlockt, um sie zu heilen, theils zum vollen Bewußtsein, zur unumwundenen, niederbeugenden Erkenntnis gebracht werde. Diese zweite Bestimmung des Gesetzes ist nicht etwa, wie es auf den ersten Blick scheinen kann, mit der ersten in Widerspruch. Der großen, fleischlichen Masse des Volkes war die Zucht des Gesetzes oft lästig, der Zaun reizte zur Durchbrechung, und die durch viele Jahrhunderte fortgehenden Abfälle in's götzendienerische Wesen zeigen in Israel eine Steigerung der Sünde über die heidnische hinaus; denn der höheren Offenbarung gegenüber ist der Fall ein um so tieferer. Dafür fand dann aber in Israel auch eine Rüge und Bestrafung der Sünde Statt, wie sonst nirgends: die Bußpredigten und Gerichtsverkündigungen der Propheten stehen in der ganzen alten Literatur, ja in der Literatur überhaupt einzig da; nie ist einem Volke und seinen Obrigkeiten mit so einschneidendem, heiligem Ernste die Wahrheit gesagt worden. So hat das Gesetz im Gewissen der Propheten seine Frucht getragen und sie für die ihnen bestimmten göttlichen Offenbarungen empfänglich gemacht. Aber auch für das Volk im Ganzen war der Zaun des Gesetzes doch nicht umsonst. Es wurde ihm dadurch doch ein einzigartiges, unheidnisches Gepräge aufgedrückt; auch kehrte Israel je und je nach den Abfällen und Gerichten wieder zu seinem Gott zurück, und namentlich nach der babylonischen Gefangenschaft wurde das Gesetz mit einer so ängstlichen Gewissenhaftigkeit bewahrt, daß der Messias vollständig innerhalb der alttestamentlichen Gottesordnungen aufwachsen und sich entwickeln konnte. Noch mehr aber zeigte es sich im Leben der einzelnen, frommen Israeliten, welche den eigentlichen Kern des Volkes bildeten, daß die Herstellung der äußern Heiligkeit und die Offenbarung der inneren Unheiligkeit durch das Gesetz mit einander nicht unvereinbar sind. Je mehr man sich von heidnischen Gräueln rein hält und mit der Erfüllung der Gebote Gottes wirklichen Ernst macht, desto mehr erkennt man, daß jene Reinheit nur eine äußerliche ist, die etwa vor Menschenaugen gelten kann, daß man aber dem innern Wesen, dem Herzen nach, welches Gott ansieht, das Gesetz nicht zu halten vermag, ja durch dasselbe eher zur Ausübung der verbotenen Lust gereizt wird (Röm. 4, 2. 2, 28. 29. 7, 7 ff.). So finden wir in dem Buche, welches uns die Wirkungen des Alten Bundes in den Gemüthern der frommen Israeliten darstellt, im Psalter, eine Tiefe und Lauterkeit der Sündenerkenntnis, wie sie sonst nirgends im Alterthum anzutreffen ist. Die Bußpsalmen sind die Frucht des Gesetzes im Gewissen der alttestamentlichen Gläubigen, welche durch dasselbe zubereitet wurden, im Geist „neue Lieder“ zu singen. Und jene Gerechten, die uns an der Schwelle des Neuen Bundes entgegentreten, und die in allen Geboten und Satzungen des Herrn untadelig wandelten, ein Zacharias und eine Elisabeth, ein Simeon und eine Hanna, es sind keine selbstgerechten Pharisäer, sondern es sind die Nämlichen, welche auf den Trost Israels, auf die Erlösung zu Jerusalem warteten (Luc. 1, 6. 2, 25. 38.). So hat das Gesetz gerade bei denen, die es gewissenhaft beobachteten, durch die tiefere Erkenntnis der Sünde zugleich die Sehnsucht nach Versöhnung und Erlösung geweckt. In dieser Beziehung dient das Gesetz auch der weiteren Entwicklung der Verheißung durch die Prophetie zur nothwendigen Voraussetzung und Grundlage.

Aber nicht nur das, sondern das Gesetz selber schon bot, zwar noch nicht die wirkliche Versöhnung und Erlösung, aber doch eine äußere Sühne und Reinigung von den Uebertretungen dar. Und Dies ist sein dritter Zweck, welcher namentlich in den gottesdienstlichen Gebräuchen, insbesondere in dem Priester- und Opferwesen, hervortritt. Es wurde hier in der äußerlich sinnbildlichen Weise des Alten Bundes gezeigt, daß nur durch eine Büßung der Sünde mit dem Tode, durch ein in freiem Gehorsam dargebrachtes Opfer die Gemeinschaft zwischen dem heiligen Gott und dem sündigen Menschen hergestellt werden könne. In dieser Seite des Gesetzes vorzüglich erweist sich dann das Sinnbildliche zugleich als das Vorbildliche, das Symbolische als das Typische. Der Alte Bund hat die Bedeutung, durch sinnlich anschauliche Vorausdarstellung auf die geistigen und wesentlichen Güter des Neuen Bundes vorzubereiten.

Fassen wir nun diese dreifache Bestimmung des Gesetzes noch in einige kurze Sätze zusammen! Dasselbe diente dazu, das Volk Israel nach außen von den Heiden abzusondern als heiliges Gottesvolk und ihm nach innen einerseits Erkenntnis der Sünde, andererseits wenigstens ein Vorbild der Erlösung zu gewähren. Jene erste Bestimmung kommt dem Gesetz vorzugsweise nach seiner politischen, die zweite nach seiner moralischen, die dritte nach seiner rituellen oder gottesdienstlichen Seite zu. In der ersten Beziehung war die alttestamentliche Heilsanstalt die Anbahnung, in der zweiten die Vorbedingung, in der dritten das Schatten- und Vorbild der neutestamentlichen. In diesem Zusammenhang zwischen dem Alten und Neuen Bund, zwischen Gesetz und Evangelium zeigt sich eben jener höhere Plan, welchen, wer streng und rationell denkt, auf die Weisheit und Liebe eines persönlichen Gottes zurückzuführen genöthigt ist. Unsere Ungläubigen fehlen nicht darin, daß sie zu viel, sondern daß sie zu wenig denken.

Wir gehen zur dritten Offenbarungsstufe, der prophetischen, über. Es bedurfte lange Zeit, bis der durch das Gesetz beabsichtigte Zustand des Volkes wirklich hergestellt war. Vollständig wurde Dies erst unter David und Salomo erreicht, deren Regierung den Höhe - und Glanzpunkt der israelitischen Geschichte ausmacht, welcher selbst wieder vorbildlich und weissagend mit seinen messianischen Psalmen in eine noch herrlichere Zukunft hinausleuchtet. Zunächst aber ging es von da an wieder abwärts. Schon unter Salomo begann das Verderben und wuchs in den getheilten Reichen. Das nördliche Reich suchte seine Stärke dem südlichen gegenüber im Abfall vom reinen Gottesdienst zu Jerusalem und in der Hingabe an halb oder ganz heidnisches Wesen. Das Reich Juda besaß noch die heilige Stadt und den Tempel, sowie das gesegnete davidische Königshaus, aus welchem eine schöne Anzahl frommer Fürsten hervorgingen. Hier bestand das Uebel in äußerlicher Gottesdienstlichkeit und heuchlerischem Lippendienst, zu welchem sich indes immer mehr auch der heidnische Abfall gesellte, indem, um den prophetischen Ausdruck zu gebrauchen, Juda Ephraim nachhurte. Diesem Verderben stellte nun die Propheten entgegen, welche seit Samuels Tagen (vgl. Apgsch. 3, 24.) den Königen als Boten des himmlischen Königs, als Verkündiger des göttlichen Willens zur Seite gestanden hatten. Es waren Männer aus den verschiedensten Volksklassen, welche er durch besondere Offenbarungen berief, je und je mit seinem Geist machtvoll durchdrang und als kühne, unerbittliche Zeugen seiner Wahrheit vor den Königen und dem Volke auftreten hieß.

Man begreift nach dem Gesagten, daß die Propheten mit dieser öffentlichen Wirksamkeit zuerst im Reich Israel hervortraten. Als hier unter Ahab und Isabel der Baalsdienst auf's krasseste herrschte, versuchten Elia und Elisa eine Reformation im Sinne des wahren Gottes und seines Gesetzes zu bewirken. Der Ungeheuern Macht des Abfalls gegenüber, der vom Hofe aus das ganze Volk zu verführen drohte, war eine außerordentliche Erweisung Jehovas in seiner Realität und Alles übermögenden Kraftfülle nothwendig; deswegen wurden jene Propheten mit dem Vermögen der Wunder ausgerüstet, wie einst Mose gegenüber von Pharao und den Aegyptern. Dafür aber war ihre Wirksamkeit im Wort noch nicht von solcher Bedeutung, daß sie selbst zur schriftlichen Aufzeichnung der empfangenen Offenbarungen veranlaßt gewesen wären. Die Schriftprophetie begann erst später, als im nördlichen Reich Amos und Hosea, im südlichen Joel, Jesaja, Micha auftraten; denn von da an tritt bei den Propheten das Wunder zurück und die Weissagung, welche für die kommenden Geschlechter aufbewahrt werden mußte, hervor. Zunächst aber hatten auch diese Propheten mit persönlichem, mündlichem Zeugnis vor Fürst und Volk zu treten und die Abfallenden zur Umkehr zu rufen. Im südlichen Reich galt es besonders, der mit viel Sündentreiben verbundenen Scheinheiligkeit gegenüber auf wahre Bekehrung und rechtschaffene Früchte der Buße zu dringen. „Was soll mir die Menge eurer Opfer?“ ruft der Herr gleich im 1. Kapitel Jesajas aus; „bringet nicht mehr Lügenopfer! das Rauchwerk ist mir ein Gräuel, Neumond und Sabbath, Berufung der Gemeinde; ich mag nicht Frevel und Festversammlung. Waschet euch, reiniget euch, schaffet eure bösen Werke mir aus den Augen, höret auf zu freveln; lernet Gutes thun, trachtet nach Recht, helfet dem Unterdrückten, schaffet dem Waisen Recht und helfet der Witwen Sache!“ So haben die Propheten mit ihrem Volke bereits einen ähnlichen Kampf um die bessere Gerechtigkeit (Matth. 5,20.) gekämpft, wie später Jesus mit den Pharisäern. Zu Gottes Ordnung und Recht zurückrufend, wurden sie dahin geführt, der bloß äußern Gesetzlichkeit gegenüber das Gesetz mehr und mehr nach seinem innern Geist und Wesen aufzufassen. Die Prophetie ruht also auf der Basis des Gesetzes, ist aber selbst eine neue, fortgehende, mehr und mehr sich verinnerlichende Offenbarung. Stellt sie schon hiedurch den Uebergang vom Gesetz zum Evangelium, vom Alten zum Neuen Bunde dar: so begreifen wir, daß ebendamit die Propheten zugleich befähigt wurden, Blicke in den Neuen Bund und sein geistliches Wesen zu thun.

Hiemit sind wir auf diejenige Seite der prophetischen Thätigkeit geführt, die man gewöhnlich voranstellt, die aber also keineswegs als die erste und ausschließliche betrachtet werden darf, auf die Weissagung. Diese ist selbst wieder eine zweifache, Gerichts-Verkündigung und Heilsverheißung. Die Bußrufe verhallten bei der großen Mehrzahl des Volkes wirkungslos; schon dem Jesaja wird gleich bei seiner Berufung (6, 9. 10.)das schwere Wort gesagt, er solle das Herz des Volkes verstocken. An eine gründliche und nachhaltige Besserung der Herzen und der Zustände war also nicht mehr zu denken, und so siel die Sünde, die man nicht durch Buße zurücknehmen wollte und dann nicht mehr zurücknehmen konnte, der Strafe anheim. Der Gott, der die Heils- und die Weltgeschichte mit einander lenkt, hatte auch schon seine Zuchtruthen für das abtrünnige Volk bereitet. Mit dem Abfall Israels traf das Emporkommen der großen, vorderasiatischen Weltreiche, Assurs und Babels, und ihre Ausbreitung nach dem Westen bedeutungsvoll zusammen. Je mehr nun das Volk Gottes in seinem ungöttlichen, heidnischen Sinne sich verfestigte, desto bestimmter mußten die Propheten verkündigen, es solle den Heiden, denen es sich innerlich gleichgestellt, auch äußerlich preisgegeben und aus dem heiligen Lande der Väter weggeführt werden. Wir wissen, wie diese Gerichtsverkündigungen in der assyrischen und babylonischen Gefangenschaft erfüllt worden sind.

Aber der Bund Gottes mit Israel stand dennoch fest; die alten, schon dem Abraham gegebenen und dem David erneuerten Verheißungen waren noch nicht erfüllt und konnten nicht wanken. Gottes Volk und Reich konnte nicht vernichtet, nicht für immer den Heiden preisgegeben sein, zumal da diese die ihnen verliehene Macht übermüthig mißbrauchten. Wenn daher Israel durch die Heiden gezüchtigt ist, so gehen auch diese ihrem Gericht entgegen, und dann, wenn alles Fleisch sich vor dem HErrn HErrn hat beugen und demüthigen lernen, wird Er sein Reich in neuer, höherer, ewiger Herrlichkeit aufrichten. Wie ein lichter Morgen, erhob sich bei den Propheten hinter den Wetternächten des Gerichtes mit steigender Klarheit das Bild des vollendeten Gottesreiches oder der messianischen Zeit. Was das Licht der ganzen, vorchristlichen Offenbarung gewesen war und daher schon im Paradiese begonnen hatte, was aber bisher, so lang die alttestamentliche Offenbarung selbst noch im Aufsteigen begriffen war, mehr nur das begleitende Element ihrer verschiedenen Stadien hatte sein können, nämlich die messianische Weissagung, das wird nun mehr und mehr zur Hauptsache. Die alttestamentliche Offenbarung hatte jetzt keine andere Aufgabe mehr zu erfüllen, als über sich selbst hinauszuweisen auf den Neuen Bund, auf das vollkommene, nicht mehr bloß schattenhafte, sondern wesenhafte Gottesreich. Der Messias, so verkündeten die Propheten, d. h. der geistgesalbte König Israels, wird auf der Grundlage vollgültigen Opfers für die Sünde dieses Reich aufrichten. In seiner Person wird Jehova selbst erscheinen und der Hirt und König der Menschheit sein. Ein neuer Bund soll gestiftet, der Geist Gottes über alles Fleisch ausgegossen und das Gesetz in die Herzen geschrieben sein. Von Zion aus wird das Reich des Friedens, der Gerechtigkeit, der Herrlichkeit über die ganze Völkerwelt sich verbreiten, und auch die unpersönliche Schöpfung soll Antheil haben an der Erlösung und Erquickung, an der Kraft- und Segensfülle dieses wahrhaftigen Gottesreiches. Mit diesen Verheißungen schließt der Alte Bund und muß schließen; darüber hinaus kann es innerhalb des Alten Nichts mehr geben, denn der Neue Bund ist hier schon seiner Idee nach gegenwärtig im Worte. Wir stehen in der Erfüllung, welche selbst wieder ihre geschichtlichen Stufen hat, wie die Vorbereitung. Aber schon das, was bis jetzt durch Jesum Christum erfüllt ist, ist ein so beredtes Zeugnis von der Göttlichkeit der Weissagung und der Erfüllung, des Alten und des Neuen Bundes, daß man auch hier, wie wir oben beim Gesetz erinnert haben, jeden Menschen von gutem Willen getrost auffordern darf, seine Augen recht hell und sein Denken recht scharf zu machen, um sich zu überzeugen, daß die Sache der göttlichen Offenbarung eine gute Sache ist. Gerade wer rationell denkt, wird aufhören müssen, rationalistisch zu denken.

Von Seiten Gottes war, wie wir gesehen haben, Alles geschehen, um durch den Alten Bund auf den Neuen vorzubereiten. Man könnte nun denken, daß auch das Volk, im Besitze so hoher und herrlicher Gotteszeugnisse, sich werde wie eine Braut für den kommenden Bräutigam, den Messias, geschmückt haben. Allein eine solche Erwartung wäre gegen alles Zeugnis der Geschichte. Viele sind berufen, Wenige sind auserwählt: das ist ein weithin reichender Grundsatz. Niemals gilt ja im Reiche des Geistes Zahl und Masse. Wie es zu den Zeiten Elia's nur siebentausend in Israel waren, die ihre Kniee nicht vor Baal beugten, oder wie wir heutzutage von der sichtbaren Kirche die unsichtbare der wahren Christen zu unterscheiden pflegen: so war es auch unter dem jüdischen Volke in der Wartezeit zwischen dem Abschluß der Weissagung und dem Beginn der Erfüllung. Das äußere, nach dem Exil wiederhergestellte Volksthum war die Schale, in welcher der Kern heranwuchs, das Häuflein der Lebendigen, die durch Gesetz und Propheten sich zu einem stillen Leben in ernster Gottesfurcht und gläubigem Warten auf den Trost Israels erziehen ließen. Diese kleine Herde war die lebendige Frucht der alttestamentlichen Offenbarung. Da begegnet uns vor Allem eine Maria, gleichsam die Zusammenfassung des gläubigen Israels, welche durch ihre Demuth und Glaubenseinfalt fähig war, die Mutter des Messias zu werden. Da finden wir Zacharias und Elisabeth, welche zu Eltern des Vorläufers Christi erkoren werden konnten. Da war eine Anzahl von Fischern und andern Israeliten ohne Falsch, die der Herr nachher zu Zeugen und Aposteln seines Evangeliums erwählte. Es ist die göttliche Art, die wir hier finden: bei der größten Unscheinbarkeit nach Außen eine innere Fülle, von der es jetzt im höchsten Sinne wahr wurde: Wer da hat, dem wird gegeben. Die umgekehrte, menschliche Art finden wir auf Seiten des Heidenthums: bei hohem äußerem Glanze der Macht und Bildung eine tiefe, innere Leerheit und Nichtigkeit.

Wir werfen nämlich jetzt noch einen Blick auf die Heiden als auf die Völker, welche Gott, während er sich Israels annahm, ihre eigenen Wege gehen ließ. Man kann die unermeßliche, den ganzen Erdball erfüllende Heidenwelt in drei Klassen eintheilen: in ungeschichtliche, halbgeschichtliche und geschichtliche Völker.

Die ungeschichtlichen sind diejenigen, welche, natürlich in mancherlei Schattierungen und Abstufungen, zu einem kaum mehr menschenwürdigen Dasein herabgesunken sind und es oft bloß zu den dürftigsten Anfängen von Kultur gebracht haben. Es sind die Millionen des innern und südlichen Afrika, die Indianer Amerika's, die Bewohner Australiens und der Südsee-Inseln und zahlreiche Horden des innern und nördlichen Asiens. Obwohl nicht ohne religiöse Vorstellungen und Gebräuche, sind diese Völker doch so sehr ins Fleisch herabgesunken, daß sie im Allgemeinen wie die Thiere nur für die nächste sinnliche Gegenwart da zu sein scheinen. Sie haben kein klares, zusammenhängendes Bewußtsein ihrer eigenen Vergangenheit, sie wissen nicht um ihre eigene Geschichte. Und doch macht eben diese Einheit des Bewußtseins und der Erinnerung, daß man sein Leben als ein zusammenhängendes Ganze erfaßt, wie das Wesen eines vernünftigen Menschen, so auch das eines geschichtlichen Volkes aus. Horden und Stämme, die keine eigene Geschichte besitzen, können natürlich nicht an der großen Weltgeschichte Antheil nehmen. Man kann von ihnen nur sagen: sie vegetieren dahin, sie pflanzen von Jahrhundert zu Jahrhundert sich fort, bis mächtige göttliche Impulse auch in ihnen die fast verlorene Menschenwürde wiederherstellen. Aber es ist ein schweres Geheimnis, das auf unserem Geschlechte liegt, und dessen furchtbarer Ernst wohl selten tief genug durchdacht wird, daß ein so bedeutender Theil der Menschheit seit Jahrtausenden in ein solches Dasein dahingegeben ist.

Die halbgeschichtlichen Völker sind die Indier, die Chinesen, die Japanesen; auch die Mexikaner und andere alte amerikanische Kulturvölker dürfen wohl hieher gerechnet werden. Hier fehlt es nicht an Bildung und Geschichte. Diese Völker haben in ihrer Jugendzeit einen raschen und bedeutenden Aufschwung genommen; sie besitzen Schrift, Literatur und eine Menge anderer Kulturelemente. Sie sind mit ihrer eigenen Vergangenheit bekannt und ihrer Geschichte sich mehr oder weniger klar bewußt. Aber das Merkwürdige ist hier, daß nach jenem ersten Aufschwung ein Stillstand für immer eingetreten ist. Diese Nationen schließen sich nach Außen sorgfältig ab, als lebte noch etwas von jener Angst der Thurmbauer in ihnen: wir möchten vielleicht zerstreut werden in alle Länder. Der Volksegoismus ist hier im höchsten Maße ausgeprägt; es fehlt das allgemeiner menschliche Gefühl, welches eine Nation zur anderen zieht und durch freundliche oder feindliche Berührung geschichtliche Bewegungen herbeiführt. So haben wir das wunderliche Schauspiel einer begonnenen, aber still gestellten, in ihrem Laufe gleichsam erstarrten Geschichte. Ebenfalls eine Erscheinung geheimnißvoller Art, die man, meist nur mit den großen geschichtlichen Völkern beschäftigt, nicht genug zu würdigen pflegt. Und doch bilden diese halbgeschichtlichen Nationen zusammen wohl die größere Hälfte des Menschengeschlechts.

Die ungeschichtlichen und die halbgeschichtlichen Völker wohnen fern ab in den verschiedenen Welttheilen; die geschichtlichen haben ihre Sitze um das im höchsten Sinne geschichtliche Volk, um Israel her: in Vorderasien, in Nordafrika, in Griechenland und Italien. Kann man die ungeschichtlichen mit einem Stein- oder Trümmerhaufen vergleichen, die halbgeschichtlichen mit einem alten kunstvollen Bauwerk, das, wie etwa eine Pagode, durch die Jahrhunderte in steinerner Ruhe sich forterhält: so treten wir nun bei den geschichtlichen Völkern in eine Stadt ein, wo Leben und Bewegung herrscht. Was die ungeschichtlichen Völker gar nicht und die halbgeschichtlichen nur unvollkommen erreicht haben, das kommt hier zu seiner höchsten Ausbildung. Die drei Hauptkreise des natürlichen Menschenlebens, Kunst, Wissenschaft und Staat, werden in großartiger Weise entwickelt. In den beiden ersten Beziehungen hat Griechenland, in letzterer Rom die im Orient begonnene Arbeit der Kultur zur Vollendung geführt. Die Reste der griechischen Baukunst und Bildhauerei, die wir noch besitzen, stellen in ihrer Art vollendete Kunstideale für alle Zeiten dar. Was Homer, Pindar und Sophokles in der Poesie, Platon und Aristoteles in der Philosophie, Herodot und Thucydides in der Geschichtschreibung geleistet haben, ist, zumal in der Form, so klassisch, daß die späteren Jahrhunderte immer wieder zu diesen Quellen zurückgekehrt sind und zurückkehren werden. Die Römer sind die vorzugsweise juridisch-politische Nation. Nach innen haben sie die Rechtsbestimmungen mit so viel Takt, Umsicht und Gerechtigkeitssinn festgestellt, daß das römische Recht noch bis auf den heutigen Tag von hoher Bedeutung für die gebildeten Völker ist. Nach außen hat sich Rom das ganze Morgen- und Abendland zu unterwerfen gewußt; es ist, als ob es sich von Assur und Babel, von Cyrus und Alexander alle Geheimnisse der Weltherrschaft angeeignet hätte, aber nur, um seine Lehrmeister noch weit zu überbieten. So wurde nun das kaiserliche Rom unter Augustus der Erbe der gesamten Errungenschaften der geschichtlichen Völker. Alles, was die Kultur des Morgen- und Abendlandes seit vielen Jahrhunderten hervorgebracht hatte, strömte in der Welthauptstadt zusammen. Wir dürfen das augusteische Rom als das geschichtliche Resultat der Gesamtentwicklung des heidnischen Alterthums ansehen.

Betrachten wir nun aber die Innenseite dieser glänzenden Welt der Macht und Bildung, so finden wir da eine tiefe Leerheit und Unbefriedigung. Es fehlte an dem Herzpunkt des menschlichen Lebens, am Glauben. Gerade die großen Entwicklungselemente der politischen und Kulturgeschichte hatten in dieser Beziehung zerstörend wirken müssen. Die Stürme der sich ablösenden Weltreiche erschütterten in den letzten Jahrhunderten vor Christo die Völker auf's Tiefste und entwurzelten vielfach das nationale Bewußtsein, Dies Fundament des antiken Lebens, mit Allem, was auch von religiösem Lebensfond daran hing. Noch wichtiger war, daß die fortschreitende wissenschaftliche Bildung, das sich allmählig verbreitende philosophische und historische Bewußtsein den Glauben an die mythischen Volksreligionen immer mehr zersetzte. Die reiche Kulturwelt in den letzten Zeiten vor Christo war eine entgötterte Welt. Und doch kann der Mensch auf die Dauer nicht ohne Religion leben. Auch jetzt machte sich das religiöse Bedürfnis auf die mannigfaltigste und oft seltsamste Weise geltend. Man suchte sich statt des verlorenen alten irgendwie einen neuen Glauben zurechtzumachen. Die Geheimlehren des Orients wurden durchforscht, die alten Mysterien der Griechen erneuert; aus allen möglichen Religionen und Philosophien suchte man Wahrheit zusammen, man hing sich an Wunderthäter, Astrologen, Goeten und allerlei geheime Künste. Die verschiedensten reineren oder trüberen Quellen sollten in einen Strom zusammenfließen, aus welchem die dürstende Seele Licht und Leben trinken könnte. Die Weltmonarchie schien in der Ausgeburt einer Weltreligion begriffen zu sein. Aber aus alten heidnischen Lappen ließ sich kein neues Kleid zusammensetzen; es offenbarte sich in dem allem nur in steigendem Maße der innere Bankerott des Heidenthums, sein Unvermögen, die tiefsten Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen. Wir wissen aus der Apostelgeschichte und aus römischen Satyrikern, daß sich im ganzen römischen Reich Viele, denen es ein Ernst um Gott war, besonders vornehme Frauen, an die Juden anschlossen, bei denen sie reinen Gottesdienst und wahrhaftiges Gotteswort fanden. Und als das Christenthum in die Welt eintrat, so fand es bekanntlich trotz aller Verfolgung in der Römerwelt eine verhältnißmäßig sehr günstige Aufnahme und rasche Verbreitung. Jetzt war die ersehnte Weltreligion erschienen.

So zeigen uns die Jahrtausende der heidnischen Entwicklung wohin es die sich selbst überlassene, ohne Gott in der Welt lebende Menschheit zu bringen vermag. Ein großer Theil derselben sinkt zu einem halb thierischen Zustand herab. Ein anderer nimmt einen frischen Anlauf zur Entfaltung der natürlichen Lebensblüthe, aber mitten im Laufe steht er still, die Kräfte erlahmen; die halbgeschichtlichen Völker werden frühzeitig müde und alt. Eine bemerkenswerthe Frucht davon, wenn man ohne Gott in der Welt lebt. Aber auch derjenige Theil der heidnischen Menschheit, welcher mit Anstrengung aller Kräfte das Höchste erstrebt und erreicht, fühlt sich, am Ziele angelangt, doch nicht glücklich. Es fehlt ihm der innerste Lebensquell menschlichen Wohlseins, der Friede; und er erkennt, daß er diesen sich nicht selbst geben kann, daß das Heil von den Juden kommt. Bethlehem, d. h. Brodhaus, diese geringste unter den Städten Juda's, ist der Ort gewesen, wo das stolze, aber in seinem Ueberfluß hungernde Rom sich das Brod des Lebens holen und schenken lassen mußte.

Es liegt nahe, eine Parallele zu ziehen zwischen den drei Stufen der israelitischen Entwicklung, die wir auch als Patriarchalismus, Nationalismus und Universalismus bezeichnen können, und den drei Entwicklungsstufen, welche uns im heidnischen Völkerleben entgegengetreten sind. Die ungeschichtlichen Völker stehen im Wesentlichen auf der patriarchalischen Stufe. Aber während das Familienleben Abrahams, Isaaks und Jakobs, im Bunde mit Gott sich entfaltend und von Gottes Verheißung getragen, fröhlich sich ausbreitet und die Keime eines großen Volkslebens in sich trägt: bleibt dagegen die entsprechende Stufe heidnischen Daseins in der Beschränktheit des Familien- und Stammesthums befangen, oder sinkt gar, alles idealen Gehaltes entleert, zu der elenden Existenz umherstreifender Horden herab. Die halbgeschichtlichen Völker erinnern uns an die mosaische Stufe des israelitischen Lebens, wo das Volk Gottes eine selbständige, nationale Kulturentwicklung in strenger Absonderung von den übrigen Nationen begann. Dies Doppelte, eigenthümliche Bildung und Abschließung nach außen, ist es ja, was wir als das Charakteristische der Chinesen :c. gefunden haben. Aber dabei bleiben sie auch stehen, darin verkümmern sie: es fehlt der Zug zum Universalismus, der dem Volke Israel von Anfang an innewohnt, weil es das Volk des Gottes ist, dem die ganze Erde gehört (2 Mos. 19, 5.), und weil es von seinem ersten Ursprung an zum Segen für alle Geschlechter der Erde sich bestimmt weiß (1 Mos. 12,3.). Dieser universalistische Zug ist den heidnischen Völkern der dritten Stufe, den geschichtlichen Nationen eigen. Sie verwirklichen ihn in der Gestalt von großen Weltreichen oder Universalmonarchien. Aber indem so die Völker aus ihrer Isolierung heraustreten, erreichen sie doch in Wahrheit nichts anderes, als daß sie sich gegenseitig aufzehren und ihres nationalen Daseins berauben. So hat jede Weltmonarchie viele kleinere Staaten und dann wieder Cyrus das babylonische, Alexander das persische, Rom das griechische Volk und Reich zerstört. Auch Israel hat seine nationale Selbständigkeit verloren, als es in diese Bewegungen der Universalreiche hineingezogen wurde. Aber es hat dem zermalmenden, politischen Universalismus den neubelebenden, religiösen Universalismus seiner Prophetie entgegengestellt. Alle die großen Geschichtsvölker der Heidenwelt sind ohne Verheißung dahingesunken und in den Trümmern ihrer Herrlichkeit begraben; aus Israel ist der Weissagung gemäß auf den Trümmern des natürlichen Reichsbestandes ein neues, göttliches Universalreich erwachsen, das, geistlich begonnen und im Geiste gegründet, dereinst auch in äußerer Herrlichkeit offenbar werden soll. Während das Gottesvolk dem äußeren Bestande nach, gleich andern Nationen, den Weltreichen erlag, ist es nicht nur in seinem Dasein auf einzige Weise erhalten und für eine bessere Zukunft gespart, sondern in Bezug auf das innerste und höchste Leben der Menschheit ist von Zion das Gesetz in die Völkerwelt ausgegangen, und Japhet wohnet in den Hütten Sems.

Als es zu Nazareth eine gottinnige Jungfrau gab und zu Rom einen weltbeherrschenden Kaiser, unter welchem die heidnische Menschheit ihre Fülle von Macht und Bildung, aber auch ihre innere Leerheit und Bedürftigkeit in steigendem Maße an's Licht stellte: da waren auf Seiten des Gottesvolkes, wie der Welt Völker die Zeiten der Vorbereitung abgelaufen. So verstehen wir die Weihnachtsbotschaft: Als die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn.

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