Tholuck, August - Vaterunser - Die sechste und siebente Bitte.

Tholuck, August - Vaterunser - Die sechste und siebente Bitte.

Noch der Schluß des Gebetes des Herrn ist uns zu betrachten geblieben. Lasset uns ihn mit Andacht aus dem Worte Gottes vernehmen: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel; denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit! Amen!“

Wir haben in unserer letzten Betrachtung alle Noth unseres irdischen Lebens zusammengefaßt, und vor Gottes Throne niedergelegt; wir haben die Schuld zusammengefaßt, welche hinter uns liegt, hinter jedem Jahre, jedem Tage, jeder Stunde; wir haben sie vor Gott gebracht, und indem wir beteten: „Vergieb uns unsere Schuld!“ haben wir Frieden gesucht und gefunden für die gedrückte Seele. Nun blicken wir um uns und vor uns, und aufs Neue wird dem Herzen wehe; denn kaum hat es der Schuld sich entladen, so droht überall die Versuchung und mit ihr neue Schuld, so daß wir beten müssen: „Führe uns nicht in Versuchung!“ Da das Verständniß dieser Bitte von der Erkenntniß ihres Umfanges ausgeht, so lasset uns vornehmlich darauf den Blick richten, wie groß der Umfang dieser Bitte ist. Freunde, der Versuchung ist viel im irdischen Leben. Wollte ich sagen, sie umwogt uns wie ein Meer, so hätte ich es noch nicht ausgedrückt, wie sie mit all' unserm Thun und Treiben verwachsen ist; sie ist wie die Luft, die uns umgiebt, von oben, von unten, von allen Seiten. Wie unendlich mannichfach das Gebiet der Versuchung ist, das den armen Menschen umringt!

Versuchung im irdischen Leben, Versuchung in der Armuth, Versuchung im Reichthum, Versuchung im Mittelstande, Versuchung im geistigen Leben, Versuchung bei geringem Pfund der Habe, Versuchung bei großem Pfund der Habe; Versuchung im Leben ohne Gott, Versuchung im christlichen Leben; Versuchung unter den Menschen, Versuchung in der Einsamkeit; Versuchung unter den Sündern, Versuchung unter den Heiligen; Versuchung, wenn es in uns stürmt, Versuchung, wenn es in uns ruhig ist. - Ich will euch heut nicht vorhalten, was ihr oftmals gehört habt. Ich will nicht zu euch sprechen von jenen Versuchungen, welche das irdische Leben bringt, von den Versuchungen der Armuth, wenn der hungernde Familienvater im Kreise der Seinigen steht, und Aller Augen zu ihm aufsehen nach Brot, und er ihnen doch kein Brot geben kann, weil er keine Arbeit hat; oder von jener Versuchung, wenn der sauren Arbeit des Tages jeder Augenblick gehört, und am Abende die ermatteten, nach Ruhe schmachtenden Glieder gar nicht einmal empfinden lassen, daß die unsterbliche Seele noch weit mehr einige ruhige Augenblicke nöthig hätte - oder von den Versuchungen des Reichthums, jener fürchterlichen Versuchung, sich Alles gewähren zu können, was man will, und doch nicht zu wollen, was man soll - oder von der Versuchung des Mittelstandes, die eben darin besteht, daß man den dunkeln Abgrund des Herzens nicht kennen lernt, welchen die Armuth und der Reichthum erst zum Vorschein bringen. Wie mancher ist wohl unter uns, der jetzt in seinem Mittelstande sich seiner Pflichttreue rühmt, und seines Ringens nach dem ewigen Gut? wie aber, wenn die nächste Stunde dir die Nachricht brächte, daß du über eine Million zu gebieten hättest - sage mir, würdest du noch derselbe seyn? O wie trügerisch ist das Urtheil über alle menschliche Tugend, so lange sie noch nicht versucht ist! Und der sonst so gepriesene Mittelstand, wie wird er gerade dadurch selbst zu einer Versuchung! - Aber von allen diesen Versuchungen aus dem irdischen Gebiete des Lebens will ich nicht ausführlich zu euch sprechen - auch von jenen nicht, welche sowohl der Besitz geistiger Güter und Anlagen, als ihre Entbehrung bringt. Nur den Umfang jener Versuchungen wollte ich euch vorführen, der auf dem Gebiete des geistlichen Lebens liegt. Denn - Mancher von euch denkt es sich vielleicht nicht also, aber die Versuchung fängt gerade erst an, wenn das geistliche Leben, wenn das Leben vor und in Gott beim Menschen beginnt. Und damit geht es ganz natürlich zu. Nur dem Lichte gegenüber ist die Finsterniß recht schwarz. Wie dies auf dem sinnlichen Gebiete der Fall ist, so auch auf dem geistigen.

Es giebt ein Leben ohne Gesetz, von welchem der Apostel sagt, daß er einst in demselben Lebensgefühl hatte: „als aber das Gebot kam, ward die Sünde lebendig, und ich starb!“ Da habt ihr in wenigen Worten die Geschichte, die sich in einzelnen Seelen, in den Völkern und im Menschengeschlecht überall wiederholt. Wer ohne Gesetz Gottes lebt, wer bei seinem Thun nach keinem andern Willen zu fragen braucht, als nach seinem eigenen: der hat freilich ein Lebensgefühl; denn es hat sein Wollen und Wünschen keine Hemmung, und so braust denn der Strom des natürlichen Lebens hin ohne Damm. Es ist das Lebensgefühl der rohen Frische, wie ihr es auch bei rohen Völkern findet, im ungeordneten Völkerleben. So lange es nun keinen Damm für den Menschen giebt, so lange giebt es auch keine Versuchung für ihn. Wohl ist die Versuchung da, aber weil der Damm des Gesetzes fehlt, so fehlt auch der Versuchung der Stachel, und so merkt sie der Mensch nicht. Der Mensch hält sich für gesund, weil er in seiner Seele keinen Stachel fühlt, wenn er sündigt; aber seine Gesundheit ist der kalte Brand, wo der stachelnde Schmerz aufgehört hat, weil das gesunde Leben geschwunden ist. O wie manchmal geschieht es, daß auch dieser und jener von euch, ihr Jünglinge, in jenem Lebensgefühl, das in seinen Genüssen braust und schäumt, die Gesundheit zu fühlen meint, dieweil die Hemmung und der Stachel fehlt: und - seine Gesundheit ist der kalte Brand! Er merkt keine Versuchung, denn er kennt kein Gesetz, und trinkt die Sünde wie Wasser. Dieser schreckliche Zustand findet sich noch dazu zuweilen gerade bei den besseren Jünglingen, in deren Brust Kraftdrang wohnt, und in deren Adern das Blut rascher rollt. Mit Verachtung sehen sie auf denjenigen hin, der die weite, freie Flur seines jugendlichen Lebens mit einem Zaun umgränzt hat. Sie sehen nur, daß es ein Zaun ist, aber sie sehen nicht, daß dieser Zaun das Gesetz Gottes ist. O ich flehe euch an bei dem lebendigen Gotte, haltet nur das nicht für Tapferkeit, wenn ihr den Zaun des Gesetzes Gottes niederreißt! Wenn dasselbe für die natürliche Freiheit ein Zaun ist und für die natürliche Lust ein Stachel, wenn erst mit demselben das versuchungslose Leben voll Versuchung und Kampf wird: so ist ja eben das die rechte Tapferkeit, diesen Kampf nicht zu fliehen. „O Timothee, ruft der Apostel seinem jugendlichen Freunde zu, fleuch die Lüste der Jugend - zeige dich als ein guter Streiter Jesu Christi.“ - Jünglinge, die ihr Kraftdrang in eurer Brust fühlt und Jugendfeuer in euren Adern - ahnet ihr nicht, daß es nach der Kraft noch etwas Größeres giebt? - ihre Beherrschung, ihre Beherrschung durch das Gesetz Gottes? „Wache auf, der du schläfst, ruft die prophetische Stimme, so wird dich Christus erleuchten!“ Du erwachst aus deinem Schlafe; noch liegest du im gaukelnden Morgentraume; dein Ohr lauscht - eine Stimme erschallt, es ist die des Christenchores. „Unser keiner - so ruft sie - unser keiner lebt ihm selber, unser keiner stirbt ihm selber; leben wir, so leben wir, sterben wir, so sterben wir dem Herrn!“ So diese Stimme. „Und welchem Herrn lebte ich“? fragst du. Du schämest dich, und die Frucht deiner Schaam ist der Entschluß, einem Herrn zu dienen; denn Gott dienen, das ist des Menschen rechte Freiheit. Du entschließest dich, vor Gott zu leben. Der Psalmist spricht: „Wie wird ein Jüngling seinen Weg unsträflich wandeln? Wenn er sich hält nach deinem Worte“ - du rufst: „Ja, Herr, das Gesetz deines Mundes soll die Leuchte seyn meiner Füße!“ Jetzt erst siehst du vom Morgen bis zum Abend, wo dein Fuß hintritt. Vorher warst du, wie ein Mann, der in dunkler Nacht wandelt, und es nicht gewahr wird, wo sein Fuß anstößt. Nun aber kommt auch erst die Versuchung. Wie dein Herz zu Gott stand, das wußtest du eigentlich nicht. Ich liebe ihn, sagtest du; aber wie magst du ihn lieben, wenn du nicht auch seine Gebote liebst? „Daran merken wir, sagt das Wort der Schrift, daß wir ihn kennen, so wir seine Gebote halten.“ Da wird dir denn erst offenbar, welch' einen Abgrund von Abneigung und Widerwillen gegen das göttliche Licht du in dir getragen hast, und das Leben vor Gott wird dir eine schwere Last; denn Freunde, den tiefsten Abgrund unseres Herzens kennen wir allesammt nicht, so lange wir nicht in Ernst und Wahrheit von Stunde zu Stunde vor Gott zu leben den Versuch gemacht haben. Nun wird deine stolze Kraft, auf die du dir so viel einbildetest, zerbrochen, wie ein Rohr vom Winde zerknickt wird. „O ich elender Mensch, wer will mich erlösen von dem Leibe dieses Todes!“ so rufst du mit Paulus, als er unter dem Gesetze stand. Ganz recht, meine Brüder, das Leben vor Gott muß uns unselig machen, damit wir lernen in Gott leben; denn wer in Gott lebt, dem werden seine Gebote leicht. Du wirst aus dem Leben des Gesetzes in das der Gnade geführt, und in deine zerknickte Seele fallen Thautropfen. Solche Worte bekommen erst einen Sinn für dich - und o welchen süßen Sinn! - wie: „Kommet her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!“ - „Selig sind die Leidtragenden, denn sie sollen getröstet werden!“ - „Mein Sohn, dein Glaube hat dir geholfen!“ - „Nicht für die Gesunden bin ich gekommen, sondern für die Kranken!“ Jetzt erst fängst du an, gesund zu werden und lebendig; aber das neue Leben ringt noch mit dem alten Tode, und während du schon meinst, daß der alte Mensch ans Kreuz geschlagen und gestorben ist, steht er plötzlich wieder vor dir und ruft: „Willst du sicher werden? sieh', ich bin noch da!“ denn ans Kreuz geschlagen wird wohl der alte Mensch von dem neuem, aber er stirbt nicht gleich; er kann sich noch regen. Auf der einen Seite nimmt allerdings, wo das Leben in Gott begonnen hat, die Versuchung ab; denn der neue Mensch ist todt gegen die Sünde, d. h. sie hat so wenig Reiz für ihn, als die lichte bunte Welt für den Todten. Das gilt indeß nur in Bezug auf die gröberen Versuchungen. Nun wird aber die Versuchung immer seiner, und Satan erscheint in der Gestalt eines Lichtengels. Man hat darum gesagt, daß, je länger der Christ lebe, desto mehr er in seinen eigenen Augen sündig werde. Er erfährt nämlich immer mehr, wie fein und trügerisch die List der Sünde ist; in seine allerheiligsten Gefühle drängt sie sich ein, und gerade weil er dem neuen Menschen nach sie so verabscheut, und den Gott des Lichtes so innig liebt, macht sie ihm desto herberen Schmerz. Wenn damals, als du ohne Gott lebtest, ein finsterer Gedanke durch deine Seele schoß, so wurdest du es kaum gewahr; denn es war ja Alles finstere Nacht um dich. Wenn er, als du vor Gott lebtest, durch deine Seele schoß, wie erzittertest du! Denn zugleich mit ihm schoß ein Blitz hervor von dem Sinai Gottes, und zerriß die innere Nacht, daß du erkanntest, wie groß sie sei. Wenn er nun durch deine Seele fährt, nachdem du in ihm den Frieden und die Seligkeit gefunden hast, welch' eine heilige Schaam, die noch tiefer in die Seele einschneidet, als jenes Zittern! denn gleich hinterher schallt ein Engelruf: „Kindlein, lasset uns ihn lieben, denn Er hat uns zuerst geliebt!“ Ja, Freunde, groß sind die Schrecken des Sünders, der unter dem Donner von Sinai erwacht, und sieht, daß er gefallen ist; aber größer sind die Schrecken der begnadigten Seele, die in der Stunde der Versuchung fiel, und der neben ihres Heilands Kreuze das Auge aufging! - Und wie die Sünde stumpf und todt war ohne Gesetz, und wie erst dem Gesetze Gottes gegenüber die Sünde rechte Schärfe bekommen konnte: so kann sie die allerhöchste Schärfe erst bekommen gegenüber der Gnade. Erst in einem begnadigten Menschen, erst beim Leben in Gott ist die Sünde gegen den heiligen Geist möglich. Sie ist eine solche wissentliche Verläugnung der christlichen Wahrheit, bei welcher die Verläugnung umschlägt in positiven Haß und Hohn, und zwar heißt sie Sünde wider den heiligen Geist, weil dieses Wissen des Menschen um die Wahrheit ein vom heiligen Geiste gewinktes ist, wie der Brief an die Hebräer sagt: „welche den Sohn Gottes mit Füßen treten, und das Blut des Bundes unrein achten, durch welches sie geheiligt waren, und den Geist der Gnade, der in ihnen waltet, schmähen.“ Das Vorspiel zu solchem Abfall ist jedwede Versündigung wider klares besseres Wissen. Schon dieses setzt wenigstens ein Leben vor Gott und seinem Gesetze voraus; die Sünde gegen den heiligen Geist aber ein Leben in Gott. Denn nur wer in Gott lebt, dem hat der Heilige Geist die christliche Wahrheit versiegelt. Jenes wissentliche Sündigen steigert sich hier zu der Größe, daß die höchste aller Wahrheiten mit Hohn verläugnet wird. Nur wer hoch steht, kann tief fallen; nur der höchste Lichtengel konnte ein Satan werden; nur der wiedergeborne Christ hat die Möglichkeit der Sünde wider den heiligen Geist. Wir sind bis an die äußerste Grenze der menschlichen Versuchung gekommen, weit überschauend das ganze Gebiet, und wer ist, der nicht mit verdoppelter Inbrunst zum Himmel riefe: „Führe uns nicht in Versuchung!“

„Führe uns nicht in Versuchung!“ Aber wie? ist er es denn, der bis in diesen Abgrund uns hineinführt - er, der Vater des Lichts, zu dem wir beten? Die guten Gaben, die wir mißbrauchen, von den reichsten Gaben der Gnade und des Geistes bis herab zu dem täglichen Brote, das unsern Leib nährt, sie kommen allesammt von ihm; aber auch der Mißbrauch selbst? es muß eine alte Verirrung seyn, die mit der Gabe von außen, welche zur Versuchung wird, auch die Lockung zur Lust von innen zugleich aus dem Quell des Lichtes abgeleitet hat; denn schon die Schrift warnt vor dieser Verirrung. Sie ist es, gegen welche der Apostel Jacobus spricht, wenn er sagt: „Irret euch nicht, lieben Brüder! Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts; - Gott versuchet Niemanden, sondern ein Jeglicher wird versuchet, wenn er von seiner eigenen Lust gereizet und gelocket wird!“ So ist denn also auch alles das, was zur Versuchung führt, eine gute Gabe; wenn sie vom Vater des Lichts kommt, so ist sie selbst Licht, der Schatten kommt nur aus der eignen Brust. So kann denn also auch der Sinn dieser Bitte nicht der seyn, daß die äußere Gabe von uns genommen werde, sondern nur der, daß sie uns nicht zum Anstoß werde und zum Falle, daß uns nicht eine Gabe gegeben werde, die uns armen, versuchlichen Sterblichen nur zum Verderben gereichen möchte. Mit dieser Bitte könnten nun freilich andere Aussprüche der Schrift in Widerspruch zu stehen scheinen, wo vielmehr die Versuchung selbst als ein Segensquell bezeichnet wird, wie wenn andrerseits der Apostel Jacobus ruft: „Freuet euch, meine Brüder, wenn ihr in mancherlei Anfechtung fallet!“ Ja, Freunde, ein Segensquell ist sie, wenn wir darin bewährt gefunden werden! Denn „selig ist der Mann, der die Anfechtung „duldet; denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen!“ Aber das ist es eben: werde ich darin bewährt werden? Und dieweil wir unsere große Schwäche kennen, dieweil der menschlichen Natur das Leiden selbst so sauer wird, so ist es so menschlich, zu bitten, daß wir vor der Prüfung bewahrt bleiben. Scheut ihr euch noch, will es euch zu unmännlich dünken? Nun so sehet auf den Vorkämpfer unseres Glaubens, wie er „in den Tagen seines Fleisches Gebet und Flehen mit starkem Geschrei, und Thränen geopfert“. Sehen wir ihn nicht im Garten Gethsemane, wie er in die einsame Nacht hinein ruft: „Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch vorüber?“ O fürwahr, er hat ein menschliches Gebet auf unsere Lippen gelegt, indem er uns im Bewußtseyn unserer Schwachheit beten lehrte: „Führe uns nicht in Versuchung!“

Und aus demselben Bewußtseyn unserer Schwäche kommt denn auch die letzte Bitte: „Erlöse uns vom Uebel!“ Versteht man diese Worte so, daß unter dem Uebel das Böse gemeint ist, so mag man glauben, daß hiemit nur eine andere Seite der vorhergehenden Bitte ausgesprochen sei, und in Verbindung mit derselben sie als Eine Bitte auffassen, wie es die reformirte Kirche gethan hat. Kaum aber dürfte es glaublich seyn, daß in diesem kurzen Gebete zwei Sätze aus, gesprochen seien, von denen der eine nur gerade dasselbe aussagte, wie der andere. Sind aber unter dem Uebel alle jene versuchlichen Zustände begriffen, alles das, was in der Erdennoth unser Herz drückt und preßt: so haben wir in diesen Worten noch eine eigene, siebente Bitte, in welcher unser Herz auf die Zeit hinausblickt, wo aller Noth ein Ende gemacht seyn wird. O was ist natürlicher, als daß das Gemüth, wenn es sich vergegenwärtigt hat, was in diesen drei letzten Bitten liegt, nämlich: das irdische Bedürfniß aller Art, die Schuld, die mit jeder Stunde sich wieder aufhäuft, die Versuchung, die neben uns, und vor uns steht, dann in den allgemeinen Seufzer ausbricht, von dem Uebel überhaupt befreit zu seyn. O es wohnt in der Menschenbrust, ja, es wohnt gewiß in eurer Aller Brust das Bild eines heiligen und ungetrübten Lebens, wo keine Thräne mehr fließt, und kein Seufzer mehr zum Himmel steigt. Dieses Bild ist es, das uns die Stimme des Propheten des alten Bundes vorführt von der Zeit, wo man „nicht verletzen, noch verderben wird auf Gottes heiligem Berge, und das Land voll der Erkenntniß des Herr n seyn wird, wie mit Wasser des Meeres bedeckt.“ Ja, selbst der Heiden Dichter, Pindar, hat uns davon verkündigt, wenn er von denen, die sich durchgekämpft im irdischen Leben, sagt: „Doch denen es gelang, vor dem Frevel sich ganz zu bewahren, die wandelnden Weg Gottes, wo von dem Meere und seligem Gefilde sanft athmet das Gesäusel, Blumen leuchten, wie von Gold, hier am Strand, dort am Quell, mit deren Kränzen sie die Hände umflechten sammt dem Gelock.“ Und was die Stimme der Weissagung unter allem Volke geredet, zu dem erhebt sich die christliche Sehnsucht am Schluß aller ihrer Gebete. Wir haben gesehen, daß die dritte Bitte der ersten Hälfte des Gebetes des Herrn uns auf die letzte Zeit hinauswies, wo der Wille Gottes in allen Menschenherzen Wohnung gemacht haben wird; es hatte die erste Bitte um die Heilighaltung des Grundes alles Lebens, des Vaters, gefleht; es hatte die zweite Bitte um die Herrschaft des Sohnes gefleht über alle Empörung; es hatte die dritte Bitte um das Walten des Geistes gefleht in allen Herzen. So hat nun auch in dieser zweiten Hälfte des Gebetes des Herrn die erste Bitte vom Urheber alles Lebens das irdische Leben erfleht; es hat die andere die Tilgung der Schuld erfleht von dem, welcher ist die Versöhnung unserer Sünde! es hat die Befreiung von der Versuchung und dem Uebel erfleht, die sich vollenden wird, wenn der Geist des Herrn wird ausgegossen seyn über alles Fleisch. Und die Antwort auf diese letzte Bitte, sie wird uns in dem Gesichte des Sehers zu Theil: „Und ich sahe einen neuen Himmel und eine neue Erde., Denn der erste Himmel und die erste Erde verging und das Meer ist nicht mehr. Und ich, Johannes, sahe die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabfahren, zubereitet als eine geschmückte Braut ihrem Manne. Und hörte eine große Stimme von dem Stuhl, die sprach: Siehe da, eine Hütte Gottes bei den Menschen; und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk seyn, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott seyn; und Gott wird abwischen alle Thränen von ihren Augen; und der Tod wird nicht mehr seyn, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerzen wird mehr seyn; denn das Erste ist vergangen.“ Es ist unermeßlich, was wir gebeten haben! Sterbliche können es uns nicht geben; darum erhebt sich beim letzten Schlusse das Gemüth zum Bewußtseyn des Vermögens dessen, zu dem wir gebetet haben, und ruft: „denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit!“. Sein ist das Reich, denn er allein wird triumphiren; sein ist die Kraft, denn vor seinen Füßen werden alle Widersacher sich beugen müssen; sein ist die Herrlichkeit, denn sein Glanz wird, wenn Alles vollendet ist, allein strahlen! Das ist ein fester Fels, darauf die Seele sich stützen kann, und auf welchen gestützt sie ein fröhliches Amen rufen mag. Amen!

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