Quandt, Emil - Große Liebe im kleinen Leben - Zweiter Abschnitt. V. 4-7.
Der freudige Dank und die Herzliche Fürbitte Pauli für den Glauben und die Liebe Philemons.
Wir haben in den ersten drei Versen unseres Briefes den Briefschreiber und den Briefempfänger und ihr Verhältnis zu einander kennen gelernt. In der Herberge zu Rom sitzt der an einen Soldaten gefesselte Paulus, der ehrwürdige Knecht Jesu Christi, mit dem Griffel in der Hand, und bei ihm steht Timotheus, sein junger Freund und Gesinnungsgenosse, der von Inhalt und Zweck des Briefes vorher unterrichtet ist. Zu Kolossä in Phrygien waltet als christlicher Hausherr in seinem eigenen Hause Philemon, der bewährte Christ; wir denken ihn uns umgeben von seiner frommen Gattin Appia, von dem tapferen Streiter Archippus und von all' den gottseligen Christen, die in seinem Hause zur gemeinschaftlichen Anbetung des dreieinigen Gottes sich gewöhnlich versammeln. An ihn und seine ganze Gemeinschaft denkt der gebundene Apostel in Rom; er hat ihm und den Seinigen so eben aus der Fülle seines apostolischen Herzens Gruß und Segenswunsch hingeschrieben: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesu Christo. Der Apostel hat vor, den Philemon um freundliche Aufnahme seines flüchtigen, aber auf der Flucht bekehrten Sklaven Onesimus zu ersuchen. Aber nicht sofort nach dem Gruße bringt er sein Anliegen vor; der Gruß ist ja ein Wort aus himmlischen Höhen, aus ihnen steigt nun der Apostel, wie ein langsam sich niedersenkender Adler erst hernieder. Daher finden wir in diesem sich an den Gnaden- und Friedensgruß anschließenden Abschnitt des Briefes noch keine Silbe über Onesimus, sondern nur den allmähligen Übergang zu dem, was der eigentliche Zweck des Briefes ist. Paulus blickt freudigen Dankes auf die Gnade, deren Philemon gewürdigt ist, und versichert ihn seiner Fürbitte für das Wachstum in der Gnade. Es entspricht übrigens dieser Abschnitt den Eingängen der meisten andern Sendschreiben des Apostels, da gewöhnlich nach der Adresse und dem Gruß Paulus sich in Dank und Fürbitte ergießt für das Gute, was er bei den Briefempfängern voraussetzen darf.
V. 4. Ich danke meinem Gott und gedenke dein allezeit in meinem Gebet. So übersetzt Luther, die Worte sind aber genauer also zu stellen: Ich danke meinem Gott allezeit, wenn ich dein gedenke in meinem Gebet. Der Apostel sagt in diesen Worten dem Philemon ein Zwiefaches; er teilt ihm mit, dass er für ihn betet, und dass er seine Fürbitte immer mit Dank gegen Gott verbindet. Paulus ist nicht einer von den Predigern, die von sich sagen müssen: Richtet euch nach meinen Worten, nicht nach meinen Taten; er konnte vielmehr von sich sagen: „Ich wünschte vor Gott, dass Alle, die mich hören, würden wie ich bin“ (Apostelgesch. 26, 29.); sein Leben passte zu seinen Worten, wie der Blitz zum Donner. Er machte das Flehen für alle Heiligen allen Christen zur Pflicht; unser Vers ist einer von den zahlreichen Beweisen dafür, wie ernst er es selber mit dieser Pflicht nahm. Er gab die Vorschrift, alle Gebete mit Danksagung zu paaren (Koloss. 4, 2.); wir sehen aus unserm Verse, wie sehr er dieser seiner eigenen Vorschrift gemäß wandelte. Kein Christenleben zeigt uns ein so reiches Fürbittenleben, als das des Paulus; seine Lebensbeschreibung, wie Lukas sie in der Apostelgeschichte gegeben hat, und seine Selbstbiographie, wie sie in seinen Episteln vorliegt, geben uns die Überzeugung, dass Paulus, wo er ging und stand, ein fürbittender Mann war. Die ausführlichste und herzbewegendste Fürbitte die wir von ihm haben, ist die für die Epheser Eph. 3, 14-21., der schönste irdische Abglanz des hohenpriesterlichen Gebetes des Herrn Jesu Joh. 17. Denn allerdings von dem Herrn Jesu hat Paulus das Beten, auch das Beten für Andere gelernt; von Ihm müssen auch wir das Fürbitten lernen. Wir dürfen, wollen wir anders wahre Jünger Jesu sein, zum Mindesten keinen Tag schließen, ohne gebetet zu haben für alle Menschen, für die Könige und alle Obrigkeit, sonderlich aber für diejenigen, die sich etwa unserer Fürbitte empfohlen haben, wie Tersteegen das so schön ausdrückt: Sonderlich gedenke deren, die es, Herr, von mir begehren, dass ich für sie beten soll; an Dein Herz will ich sie legen, gib Du Jedem solchen Segen, wie ihm not, Du kennst sie wohl. Die Fürbitte ist die köstlichste Form, in der sich die allgemeine Liebe und die Bruderliebe äußern kann, und oft die einzige, die übrig bleibt. Wenn unsere Lieben im Sterben liegen, dass ihre Augen nicht mehr sehen und ihre Ohren nicht mehr hören können, wenn wir uns ihnen nicht mehr vernehmlich machen können, so können wir uns doch noch Gott vernehmlich machen, so können wir doch noch für sie beten um Erlösung und um Schächersgnade. Desgleichen wenn Anverwandte und Bekannte mitten im Leben wie abgestorben für das Reich Gottes dahingehen, wenn wir mit ihnen selbst nicht mehr von Gott reden können, weil wir fürchten müssen, die Perlen vor die Säue zu werfen, das Heiligtum den Hunden zu geben, so können und dürfen und sollen wir dennoch mit Gott von ihnen reden und um ihre Bekehrung flehen. Es scheint zwar in der Schrift eine Grenze der Fürbitten angedeutet zu sein; Johannes, der Jünger der Liebe, sagt 1. Epistel 5, 16: Es ist eine Sünde zum Tode, dafür sage ich nicht, dass jemand bete; da es aber nur Eine Sünde zum Tode gibt, nämlich die Sünde wider den Heiligen Geist und diese am Nächsten zu erkennen, selbst für die geheiligsten Persönlichkeiten große Schwierigkeiten hat, so werden wir gewöhnlichen gläubigen Menschenkinder auch für offenbare Feinde des göttlichen Namens nicht aufhören dürfen zu beten, dass Gott sie bekehren möge, ehe sie völlig verstockt werden. Des Gerechten Gebet vermag ja viel, wenn es ernstlich ist; eine Monica hat ihren Sohn Augustinus aus der Christenfeindschaft in die Christenfreundschaft hineingebetet. Wohl uns, wenn wir wie Augustinus an der Monica, wie Philemon an Paulus treue Freunde haben, die in ihren Gebeten unsrer gedenken. Luther - sagte einmal: „So lange ich einen Christen habe, der für mich betet, will ich gutes Mutes sein und mich vor Niemand fürchten!“ Pauli Fürbitte für Philemon ist allezeit verbunden mit Dank. Paulus dankt dem Herrn für die Barmherzigkeit, mit der er Philemon gekrönt hat, dieselbe wird im folgenden Verse näher beschrieben.
Ist es ein schönes Zeichen christlicher Liebe, für Andere zu bitten, ein noch schöneres ist, für Andere zu danken. Es ist das grade Gegenteil von jener hässlichen Gesinnung, auf der so oft auch Christen sich ertappen und sich ertappen lassen, da man scheel sieht, wenn Gott anderen Knechten gütig ist. Das Dankenkönnen für Andere ist die glänzendste Probe für die Lauterkeit und Wahrheit gläubigen Lebens. In den Dank, den wir Gott bezeugen für das Gute, das er uns oder durch uns getan, schleicht sich nur allzu leicht ein Gefühl der Selbstgefälligkeit und des Stolzes -: der dankende Pharisäer findet sich leider in manchem Christen wieder. Aber wenn wir aufrichtig Gott danken können für die Gaben, die er unsern Brüdern geschenkt hat, selbst wenn die von Gott Begabten uns und unsere Gaben in den Schatten stellen, dann dürfen wir glauben, dass wir wahrhaftig die Liebe haben, die nicht das Ihre sucht und sich nicht der Ungerechtigkeit freuet, sondern der Wahrheit, und dass uns wahrhaftig das Kommen des Reiches Gottes am Herzen liegt. Denn wir schätzen uns ebenso glücklich, wenn wir das Reich Gottes bei Andern und in Andern sehen, als wenn wir es bei uns und in uns sehen. - Dass nun Paulus aber seinem Freunde Philemon zu Anfang des Briefes überhaupt Meldung macht von seinen Gefühlen für ihn, von der dankbaren Herzensstimmung, in der er sich hinsichtlich seiner befindet, ist ebenso wenig, wie die Dankesergießungen zu Anfang der großen Episteln, als eine fromme List zu bezeichnen, durch die der Apostel sich die Herzen der Adressaten erst hätte erobern müssen und wollen. Es liegt dem Apostel nichts ferner, als die Absicht, sich Philemon durch Schmeichelworte günstig zu stimmen; es wäre das ja wahrlich nicht mehr erlaubte Schlangenklugheit, sondern verbotene Weltlist gewesen. Paulus will vielmehr dem Freunde aus voller Überzeugung ein ehrendes Anerkenntnis seines Christentums geben und damit begründen, wie er zu seiner Bitte an ihn kommt. Paulus weiß, dass Philemon ein echter Christ ist, und weil er das weiß, so richtet er die vertrauliche Bitte dieses Briefes an ihn. Auch wir sollten bei unsern Zeitgenossen öfters an ihr Christentum appellieren, als wir es tun. Wozu mancher Mensch als Mensch nicht zu bewegen ist, dazu ist er vielleicht noch als Christ zu bewegen, wenn man ihm nur sagt, dass er ein Christ ist. Das Christentum, das Philemon hatte und dessen Paulus sich freut, wird uns nun näher beschrieben:
V. 5. Nachdem ich höre von der Liebe und dem Glauben, welche du hast an den Herrn Jesum und gegen alle Heiligen. Liebe und Glauben, Glauben und Liebe wohnten bei Philemon und darüber ist Paulus in seiner Seele froh. Die Wortstellung in diesem Verse ist sehr bezeichnend; „der Glaube an den Herrn Jesum Christ“ ist eingefasst in „die Liebe zu allen Heiligen“, wie ein kostbares Bild in einen ebenbürtigen Rahmen, wie eine köstliche Perle in einen goldenen Griff. Dass dabei „die Liebe“ voransteht, ist ganz passend in einem Briefe, der um einen Liebesbeweis bittet; „die Liebe zu allen Heiligen“, die Philemon hat, soll ja gerade für Onesimus in Anspruch genommen werden, der nun auch ein Heiliger geworden ist. Heilige sind nach dem Sprachgebrauch der Heiligen Schrift arme Sünder, die ihre Kleider im Blute des Lammes helle gemacht haben, die Schrift kennt in Beziehung auf sündige Menschen keine andre Heiligkeit, als die zugerechnete, da Gott um des Verdienstes Jesu willen denen, die sich zu ihm bekehren und an ihn glauben, alle ihre Sünden vergibt und sie gerecht spricht. „Heilige“ es ist das ein Ehrenname der Christen, der sie erinnert an ihre Aussonderung aus dem gemeinen Haufen der Gottlosen, der ohne Glauben an Christum Jesum dahingeht. Es ist sehr zu bedauern, dass man heutzutage in der erbaulichen Sprache fast nicht reden kann von Heiligen, ohne dem Missverständnisse Nahrung zu geben, als ob man an katholische Heilige und ihre überschüssigen guten Werke denke. Aber trotz alles Unfugs, der mit dem Wort getrieben ist, soll es doch stehen bleiben, dass Alle, die in Jesu Christi Tod getauft sind und an ihn glauben, Heilige sind vor Gott, denn sie glänzen in der Heiligkeit Christi. „Ich bin heilig, soll jeder gläubige Christ rühmen“, sagt Augustinus. Die Liebe zu allen Heiligen zeichnete Philemon aus, nicht jene natürliche Liebe, die man allezeit unter Gesinnungsgenossen findet, die auch die Heiden und die Zöllner sich unter einander beweisen, sondern die Liebe, die aus dem Glauben stammt und des Glaubens Erweisung ist; denn eng mit seiner Liebe zu den Heiligen verwachsen war sein Glaube an Jesum Christum. Glaube und Liebe sind wie Mutter und Tochter, und wo die Mutter ist, da muss die Tochter auch sein. Heinrich Müller in seinen geistlichen Erquickstunden redet einmal von der Mutter, dem Glauben, und der Liebe, der Tochter sehr treffend, also: „Die Mutter ist arm, nimmt immer; die Tochter ist reich, gibt immer. Die Mutter ist so hoffärtig, dass ihr Gott und Engel aufwarten müssen; die Tochter ist so demütig, dass sie sich auch den Geringsten unter die Füße wirft; die Mutter sucht nur ihre Ruhe und Sicherheit, die Tochter setzt sich in Unruh und Gefahr Leibes und Lebens; die Mutter muss endlich sterben, die Tochter lebt ewig; denn die Liebe hört nimmer auf.“ Nun diese beide, Mutter und Tochter, führten das Regiment im Leben Philemons, und dass unter diesem Regimente das Leben Philemons sich sehr gottselig gestaltete, das hatte Paulus gehört. „Nachdem, indem ich höre“, schreibt er. Die Nachrichten über das geistliche Befinden der Christengemeinden und der einzelnen Christen das waren des Apostels liebste Zeitungen, an denen er sich in seinen Banden erquickt; wie und durch wen er in Rom die gute Zeitung über Philemon vernommen, wird uns nicht berichtet. Es liegt aber nahe anzunehmen, dass der entflohene-Hausgenosse Philemons, der entlaufene Sklave Onesimus, es gewesen ist, der dem Apostel die erfreulichen Mitteilungen über Philemons Glauben und Liebe gemacht hat. Der verlorene Sohn erkannte die Wohltaten, die er in seinem Vaterhause genossen, erst hinterher, als er mutwillig aus seines Vaters Hause gezogen und in die Fremde gegangen und in das Elend geraten war. Ähnlich wird auch Onesimus erst des Guten, das ihm bei seinem Herrn zu Teil fiel, inne geworden sein, als er ferne von ihm war in sündlich erworbener Freiheit. Es ist das eine alte Geschichte und doch ist sie ewig neu, dass der Mensch so manches Gut und so manches Gute erst schätzt, wenn er es nicht mehr hat. Namentlich wird der Segen, der von Gottesmenschen ausströmt, oft erst dann ganz gewürdigt, wenn er uns genommen wird! Hat Onesimus dem Apostel von Philemons Glaubens- und Liebesleben erzählt, und der Apostel gern davon gehört, so sollen wir in unsern Gesprächen unter einander uns auch gerne erzählen und hören von denen, die uns Wohltäter gewesen sind oder deren gläubige Persönlichkeit unauslöschliche Eindrücke bei uns hinterlassen hat; es ist das ein bei Weitem würdigerer Gegenstand christlicher Unterhaltung, als z. B. die Sünden und Mängel der Gläubigen, die leider bei Vielen heutzutage, die Jünger und Jüngerinnen des Herrn sein wollen, ein beliebtes Thema der Konversation1) bilden. Es ist ein wahrer Jammer, dass manche Kinder Gottes eines Andern Lob nicht einmal mit Geduld anzuhören verstehen, geschweige mit Vergnügen und innerem Entzücken. Möchten wir alle lernen von Paulus! Er hat mit herzlicher Freude vernommen, wie Philemon dem Evangelio gemäß wandelt; er preist dafür den Herrn, von dem alle gute und vollkommene Gabe, auch die Gabe einer liebevollen Gläubigkeit, kommt; er betet nun aber auch für Philemon:
V. 6. Dass dein Glaube, den wir mit einander haben, in dir kräftig werde durch Erkenntnis alle des Guten, das ihr habt in Christo Jesu. Das ist der Inhalt der im 4. Verse angedeuteten Fürbitte, die Paulus für Philemon tut; so viel tätigen Glauben Philemon auch hat, Paulus betet, dass dieser Glaube noch kräftiger werden möge. Wir merken, so gefördert auch ein Christ sein mag, er ist dennoch der Fürbitte fort und fort benötigt; so hoch steht Keiner auf Erden, dass er die Fürbitte entbehren könne. Darum hören wir aus Pauli Munde selber öfters die Bitte: Liebe Brüder, betet für mich! Als der große schweizerische Theologe Vinet auf seinem Sterbebette lag, erzählte ihm einer seiner Freunde, dass man viel für ihn bete; er antwortete: „Man kann kaum für ein unwürdigeres Geschöpf beten“, und kurze Zeit vor seinem Tode sagte er zu dem, der bei ihm wachte: „Bitten Sie für mich um alle Gnaden, selbst um die allereinfachsten!“ Paulus bittet für Philemon um die Gnade der Kräftigung des Glaubens, eine Gnade, die wir für uns und unsere Freunde auch täglich erflehen sollen. Kräftiger Glaube - wie not tut er in unsern Tagen gegenüber den kräftigen Irrtümern dieser Zeit, deren Zauber vielfach so stark ist, dass, wo es möglich wäre, auch die Auserwählten verführet würden! Kräftiger Glaube wie not tut er in einer Zeit, in der man nicht weiß, worüber man am meisten klagen soll, über die Stärke des bösen Elements oder über die Schwäche des guten Elements! Herr, stärke unsern Glauben; Herr, stärke unsern guten Freunden ihren Glauben das betet fleißig! Der Glaube Philemons wird näher bezeichnet als „dein Glaube, den wir mit einander haben“, so hat Luther die Textworte übersetzt, die in buchstäblicher Übertragung lauten würden: die Gemeinschaft deines Glaubens. Luthers Auslegung ist ohne Zweifel die richtige; Paulus spricht von dem Glauben, den Philemon gemeinschaftlich mit ihm und allen Gläubigen besitzt. Der Christ steht nicht allein mit seinem Glauben, sondern er ist ein Glied in einer großen Gemeinschaft der Heiligen, die mit ihm denselben allerheiligsten Glauben an Gott den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist bekennen als ihren einzigen Trost im Leben und im Sterben. Der christliche Glaube ist nun und niemals eine bloße isolierte Privatüberzeugung gewesen, sondern von Anfang an eine Reichssache; das Christentum ist als Himmelreich in die Welt getreten, das heißt als eine Gemeinschaft erretteter Seelen unter dem einigen Haupte Jesus Christus. Es liegt ein großer, seliger Trost darin, dass wir den Glauben an unsern Herrn gemein haben mit vielen, vielen Knechten in allen Zeiten und allen Landen, dass wir vermöge unsers Glaubens jener wunderbaren Gemeinschaft von Menschen angehören, die mitten in dieser Welt nicht von dieser Welt sind. Das Glück dieser Gemeinschaft der Heiligen auf Erden funkelte jenem Sänger in die Augen, da er sang: „Wo ich Ihn nur habe, ist mein Vaterland; und es fällt mir jede Gabe wie ein Erbteil in die Hand; längst vermisste Brüder find ich nun in Jesu Jüngern wieder.“ Aber das Reich Gottes steht allerdings nicht in Worten, sondern in Kraft; Zion in die Kraft für Heuchelschein dringe ein, dringe ein. Den Glauben, den wir mit der gesamten Christenheit haben, haben wir doch nur dann, wenn er uns nicht leer, noch unfruchtbar lässt, sondern wenn er sich kräftig und immer kräftiger, wirksam und immer wirksamer erweist. Darum betet denn Paulus, dass Philemons Glaube in ihm kräftig werde durch Erkenntnis alle des Guten, das wir haben (denn wir nicht „ihr“ ist die richtige, jetzt von allen Kundigen angenommene Lesart) in Christo Jesu. Dass der Apostel der Erkenntnis der Gläubigen überhaupt das Wort spricht, bezeugen alle seine Episteln; es ist ihm zuwider, wenn die Christen Kinder sind an dem Verständnis; an der Bosheit sollen sie Kinder sein, am Verständnis aber vollkommen. Sein Mitapostel Petrus will, dass jeder Christ sich zu verantworten im Stande ist gegen Federmann, der Grund fordert der Hoffnung, die in ihm ist. Und wie sehr der Heiland selbst die Erkenntnis betont, bezeugt unter vielem Andern das Wort Joh. 17, 3., das er im hohepriesterlichen Gebete zum Vater sagt: „Das ist das ewige Leben, dass sie Dich, dass Du allein wahrer Gott bist, und den Du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen.“ Der Glaube, das ist nach der Schrift klar, kann ohne Erkenntnis nicht sein, ohne wachsende Erkenntnis nicht gedeihen; daher ist es eine einfache Christenpflicht, nicht nur die Predigt des Wortes Gottes zu hören, die im Ganzen und Großen sich mehr an das Gefühl und an den Willen wendet, sondern auch Bibelstunden, biblische Besprechungen und Ähnliches dankbar zu benutzen, in denen vorzugsweise die gläubige Erkenntnis gepflegt wird. Nicht als ob das Erkennen voran ginge und wir nur glauben dürften, was wir erkennen das ist die große rationalistische Verzerrung eines wahren Gedankens; sondern so, dass der Glaube die Wurzel ist, aus der die Erkenntnis hervorwächst. Ich glaube, darum rede ich; ich glaube, darum forsche ich auch. Menschliche Dinge, sagte einmal ein Weiser, muss man kennen, um sie zu lieben, göttliche Dinge muss man lieben, um sie zu kennen. Und wahrlich wenn man sie nur erst liebt, dann sucht man sie auch immer besser zu erkennen. Der Apostel nun erfleht für Philemon an unsrer Stelle nicht die Erkenntnis im Allgemeinen, sondern eine ganz bestimmte und besondere Erkenntnis, nämlich die Erkenntnis jeglichen Guten, das in uns ist. Philemon soll, das ist der Gebetswunsch des Apostels, wachsen in der gründlichen Erkenntnis des Guten, das an Paulus, Timotheus und überhaupt an andern Christen zu finden ist. Der Glaube, den er mit den Brüdern gemein hat, soll ihm das Auge schärfen, um die Blüten des neuen Lebens an den Genossen des Heils zu erkennen. Es pflegt bei den Gläubigen in ihrer Beurteilung von Mitgläubigen durch drei Stufen zu gehen. Wenn ein Mensch eben gläubig geworden ist, wenn er in die gepriesene Zeit der sogenannten ersten Liebe zum Herrn eingetreten ist; dann pflegt er alle Gläubigen ohne Weiteres für Muster von Tugend und Gottseligkeit zu halten, dann sieht er in jedem, der die Sprache Canaans spricht, einen wahrhaftigen Israelit ohne Falsch, dann strahlen ihm alle Bekehrten in einem allgemeinen Heiligenscheine. Das ist die erste Stufe der Beurteilung; sie ist bald überwunden. Bald wird man mit Schmerz und Scham inne, dass, wie es in einem alten Verse heißt, „es trifft bei allen Heil'gen ein, sieht man erst in ihr Buch hinein, dass sie voll vieler Sünde sein.“ Man sieht, wie Helden des Glaubens, die mit Gott über Mauern sprangen, Stunden haben, wo sie vor einem Strohhalme, der ihnen auf ihrem Wege liegt, angstvoll Halt machen; man sieht, wie kühne Bekenner Andern, die dasselbe bekennen, aber in andrer Form, die Bruderhand verweigern; man sieht, wie das liebe und doch so leidige Ich selbst unter dem Kleide der Demut sich bläht; man sieht das und man sieht manchmal noch viel mehr. Da flieht man, wie jener alte heidnische Fürst, von den Christen zu dem Gotte der Christen; da weint man seine heißen Tränen über die Sünden der Gläubigen. Das ist die zweite Stufe der Beurteilung; wer auf ihr stehen bleibt, verfällt einer düsteren und ungerechten Weltanschauung. Aber wir dürfen auf ihr nicht stehen bleiben; wir sollen und müssen mit Philemon in unserm Glauben vordringen zur Erkenntnis all' des Guten, das in andern Christen ist. Das ist die dritte, die wahrhaft christliche Stufe der Beurteilung.. Da erkennt man demütig, dass das Maß des eigenen Glaubens ein beschränktes ist. Da nimmt man mit Lust die fast noch verborgenen Anfangszeichen eines neuen Lebens wahr an solchen, an denen der Geist Gottes sein Heilswerk kaum eben begonnen hat. Da begreift man, dass
die Sünde zwar auch mit den Gläubigen mitgeht, bis sie sterben, dass aber die Gnade bei ihnen mächtiger ist, als die Sünde. Da lernt man, wie wahr der Sänger sagt: Es glänzet der Christen inwendiges Leben, obgleich sie von außen die Sonne verbrannt. Da wird man strenge, immer strenger gegen sich selbst und mild und immer milder gegen Andere; da verliert man die Freude am Verdammen und Richten, da lernt man zu vergeben und zu geben, auch Lob zu geben selbst dem Niedrigsten und Geringsten im Reiche Gottes, an dem sich Gott verherrlicht hat. In dieser Erkenntnis des Guten an den andern Christen gilt es sich täglich zu üben; es gilt täglich Fortschritte zu machen in der geistlichen Physiognomik, die Gottes Herrlichkeit im Menschen auch in den unscheinbarsten Knechtsgestalten erschaut. Gott hat auch heutzutage noch ein herrliches Volk auf Erden und wird es haben bis an das Ende der Tage; Jesus Christus, von der großen Menge verachtet und verworfen, hat doch in allen Landen seine Siebentausend, die nur vor Ihm die Knie beugen und bekennen, dass Er sei ihr Herr; und wo Jesus Christus ist der Herr, wirds alle Tage herrlicher. Es frägt sich noch, wie der Ausdruck in Christo Jesu zu verstehen ist. Nach der Lutherschen Übersetzung ist der Sinn: Alles Gute, was in den Gläubigen ist, stammt nicht von ihnen, sondern von dem Herrn; wie wir singen: An mir und meinem Leben ist nichts auf dieser Erd', was Christus mir gegeben, das ist der Liebe wert. Aber die genauere Übersetzung lautet: für Christum Jesum. Was Christen Gutes haben, dient und soll dienen zur Ehre des Herrn, soll der Ausbreitung seines Reiches und der Beförderung seiner heiligen Reichssache zu Gute kommen. Umso mehr ist das Gute an andern Christen von uns anzuerkennen; jeder brave Untertan freut sich, wenn sein König von andern Untertanen geehrt und verherrlicht wird. Mag auch ein Jeder sich selber mahnen lassen, dass er mit seinem Pfunde wuchere für den Herrn Jesum! Alles durch Ihn, Alles mit Ihm und Alles für Ihn. - Es bleibt bei unserm Verse noch zu erörtern, warum Paulus das gerade in Beziehung auf Philemon wünscht und fleht, dass er zur gläubigen Erkenntnis des Guten, das in andern Christen ist, durchdringe. Er tut es offenbar, weil Philemon nur dann auf dem richtigen Standpunkt steht wie gegen alle Heiligen, so auch insbesondere gegen Onesimum, für den der Apostel in diesem Briefe eintritt. Ist Philemons Glaube so stark, dass er das Gute an andern Christen zu achten und zu würdigen versteht, dann wird er auch den Onesimus mit Blicken heiliger Liebe empfangen und nicht auf die Sünden, namentlich auch nicht auf die Sünde der heimlichen Entfernung sehen, deren jener sich schuldig gemacht, sondern vielmehr auf die Gnaden, mit denen er zurückkommt; dann wird er gerne mit dem Apostel gemeinschaftliche Sache machen und gerne seinerseits hilfreiche Hand leisten, damit das Gute, was Paulus im Sinne hat, befördert werde. Das praktische Leben mit seinen Einzelfällen und Kleinigkeiten ist die Probe für die Wahrhaftigkeit der gläubigen Gesinnung; und wie sich Einer gegen seine Dienstboten benimmt, ist oft das beste Kennzeichen für sein inneres Leben. Sehen wir nun noch einmal auf den ganzen sechsten Vers zurück; wir werden nicht zu viel sagen, wenn wir ihn den geistlichen Kern des ganzen Briefes nennen. Er spricht die allgemeine christliche Wahrheit aus, um deren Anwendung auf den speziellen Fall mit Onesimus der Apostel dann im 12. Verse direkt bittet. Der wahre Glaube an den Herrn Jesum Christum, so lehrt Paulus in diesem Verse, ist ein Todfeind alles Egoismus, alles eigensüchtigen Sichabschließens; der Glaube verbindet uns mit der großen Gemeinschaft der Heiligen und verpflichtet uns wie gegen diese ganze Gemeinschaft, so auch gegen jedes einzelne Glied derselben. Allerdings lebt der Gerechte seines Glaubens; wie nur selber essen satt macht, so macht auch nur selber glauben selig. Aber wir glauben nur dann recht, wenn wir einen demütigen, liebevollen, gern anerkennenden, darum auch gern vergebenden und gern helfenden Glauben haben. Zu einem solchen Glauben müssen wir uns und unsre Freunde hinanbeten. Philemon ließ sich gern zur Höhe dieses Glaubens leiten durch die apostolische Fürbitte und Mahnung; aber ganz entblößt von solchem Glauben war er bisher wahrlich nicht gewesen; denn Paulus kann von ihm weiter schreiben:
V. 7. Wir haben aber große Freude und Trost an deiner Liebe; denn die Herzen der Heiligen sind erquicket durch dich, lieber Bruder. Was Paulus V. 4. und 5. als Gegenstand seines Preises gegen den Herrn bezeichnet hatte, dasselbe bezeichnet er in diesem Verse als Ursache seiner persönlichen Erquickung mitten in seinen Banden zu Rom. Dass Philemon die Herzen der Heiligen erquickt hat, das erquickt den heiligen Paulus in seiner römischen Gefangenschaft. Auch die geringste gute Tat, die aus Glauben und Liebe stammt, ist wie ein Steinchen, das ins Wasser geworfen, Kreise um sich schlägt, von denen einer immer größer ist, als der andre. Was Philemon einst zu Kolossä in der abgelegenen phrygischen Landschaft in schlichtem Glauben und in einfältiger Liebe tat, es war eine Erquickung nicht nur für die Christen zu Kolossä, sondern auch für den Apostel in dem durch Land und Meer getrennten Rom, ja es ist eine Erquickung auch für uns, die wir nicht nur durch Land und Meer, sondern auch durch achtzehn lange Jahrhunderte von Philemon getrennt sind! O überschwängliche Vergeltung der kleinen Liebesdienste des Gläubigen - in der Welt vergisst man Wohltaten sehr bald; die Welt hat ein sehr treues Gedächtnis für Beleidigungen, aber ein ungeheuer schwaches Gedächtnis für Wohltaten in der Gemeinschaft der Heiligen dagegen redet man nächst dem einzigen Erbarmen Gottes in Christo gern von dem, was die Liebe des Glaubens getan. Philemons Name wird heutzutage in allen fünf Erdteilen, wo nur immer das Neue Testament gelesen wird, mit Ehren genannt. Er hat die Herzen der Heiligen erquickt - es ist das ein Ausdruck der Zärtlichkeit, der im Urtext noch zärtlicher klingt, es ist in unsrer Sprache nicht so tief wiederzugeben, weil wir mit dem betreffenden Worte einen andern Begriff verbinden; es heißt wörtlich, Philemon habe die Eingeweide der Heiligen erquickt, wir müssten etwa sagen den Herzensgrund. Welche Heiligen, welche Erquickungen der Apostel im Auge hat, bleibt ungesagt. Aber es kann kaum zweifelhaft sein, dass die Christen zu Kolossä gemeint sind, deren Wohltäter Philemon schon allein dadurch war, dass er ihnen sein Haus, so viele Gläubige es nur fassen mochte, zur Kirche einräumte; es hat auch nichts wider sich, anzunehmen, dass mitgemeint sind zeitliche Erquickungen, Almosen und dergleichen, die Philemon armen Heiligen spendete. Wir haben uns den Philemon als einen Mann zu denken, dessen Herz für den christlichen Gottesdienst in jeder Beziehung erglühte. Er gab nicht nur sein Haus gern her für die Gottesdienste der Gemeinde, sondern er übte auch jenen reinen und unbefleckten Gottesdienst vor Gott dem Vater, von dem Jacobus schreibt, nämlich die Waisen und Witwen in ihrer Trübsal zu besuchen und sich von der Welt unbefleckt zu behalten. Philemon war ein Mensch, wie wir, ein Sünder, wie wir, begnadigt, wie wir, aber sehr wahrscheinlich ein besserer Christ als wir; möge uns sein Beispiel ziehen, dass wir auch einen Gottesdienst daraus machen, die Herzen der Heiligen zu erquicken. Weh', dem Becher, der zu Scherben geht und keinen Durst'gen getränkt hat; dem Menschen, der zu sterben geht und keinem Liebe geschenkt hat! Es gibt im Leben mancherlei Übung, die man später nicht mehr nötig hat, weil man ein Meister in der Kunst geworden ist; die Übung in der Liebe aber hat man bis ans Ende nötig, darin bringt's Keiner hienieden bis zur Meisterschaft; doch soll's ein Feder täglich darin weiter bringen. Die Proben der Liebe, die Philemon bewies, waren dem Apostel eine große Freude und ein Trost; dass sie Paulus zur Freude gereichten, lässt auf Schmerzen schließen, die er hatte; dass sie ihm Trost gewährten, auf Trübsal. Es sind die Schmerzen und Trübsal seiner Bande zu Rom, die ihn durch die Nachricht von Philemons Glauben und Liebe versüßt wurden. Herrliches Zeichen der Seelengröße des Apostels, dass er, selbst gebunden, Trost in der Nachricht fand, dass Gottes Wort und der Glaube nicht gebunden waren! Wahrlich die lebendigen Gläubigen haben auch in ihren Leiden Freude und Trost, wie ihn die Welt weder geben noch begreifen kann. Wenn Paulus in diesem Verse schreibt: „wir haben Freude und Trost“, so bedeutet er Philemon, dass auch Timotheus und wer sonst von christlichen Brüdern in Rom war, sich über seine Liebe und guten Wandel herzlich mit freuen. Christenfreude hat etwas Ansteckendes. Die freudige Stimmung Pauli gibt sich in dem letzten Wort unsers Verses den innigsten Ausdruck; Bruder (Luther hat es verdeutscht: „lieber Bruder“) nennt Paulus den Philemon zum Schluss; sein Mund geht über, wovon sein Herz voll ist, und es ist voll Liebe und Rührung. Bruder nennt er ihn in demselben Sinne, wie er V. 1. Timotheus als Bruder bezeichnet hat, nämlich als Einen, dem er sich mehr als blutsverwandt weiß im Glauben, in der Liebe und in der Hoffnung. Dieselbe Anrede an Philemon kehrt noch einmal, im 20. Verse, wieder. So wissen auch wir uns, wenn wir anders von Herzen an den Heiland glauben, brüderlich verwandt und auch als die Unbekannten doch bekannt allen denen, die auf Erden durch Wort und Wandel für Christum zeugen; „Brüderlichkeit“ bei Weltmenschen ist es ein revolutionäres Wahnwort, aber bei Gottesmenschen ist es ein Wort des Geistes und der Wahrheit. - Zum Schluss sei noch berichtigt, dass dieser Vers dem vorigen nicht gegenübergestellt ist durch ein aber, wie Luther es hat, sondern mit ihm durch ein denn verbunden ist. Es wird also in diesem Vers begründet Alles, was in den drei vorhergehenden Versen gesagt ist. Weil Paulus zu seiner Freude und zu seinem Trost von Philemons Wandel in der Liebe und im Glauben gehört hat, darum steigt sein freudiger Dank zu Gott empor, darum lässt er seine herzliche Fürbitte zu Gott aufsteigen.
Vier Verslein waren es nur, um die wir diesmal unsre Gedanken sammelten, aber es waren vier Brünnlein, die Wassers die Fülle haben. Ach, dass ihr heiliges Wasser uns die Seele frisch badete, dass wir solchen edlen Vorgängern, wie Paulus und Philemon, in der Kraft des Heiligen Geistes nacheiferten; dass wir lernten im Glauben und in der Liebe zu wandeln wie Philemon, im Glauben und in der Liebe zu danken und zu beten wie Paulus! Der Gott und Heiland Pauli und Philemons ist auch unser Gott und Heiland; was sie waren, waren sie durch Ihn; geben wir uns Ihm hin, immer völliger hin, dass wir auch etwas seien und immer mehr werden zu Lobe seiner Herrlichkeit. Amen. Phlm_1