Tholuck, August - Apostolikum - Predigt 2

Tholuck, August - Apostolikum - Predigt 2

Ich glaube an den eingebornen Sohn“ - dieses Bekenntniß stimmen wir heut an, da das Fest jener geweihten Nacht sich naht, an welchem wir seine Geburt feiern. So wird es denn eine rechte Adventsbetrachtung seyn, die wir anstellen. - Noth einmal sollen erschallen die Worte jenes Textes des Apostels, an welche die Betrachtung über das gesammte Glaubensbekenntniß sich anknüpfte. Vernehmt in Andacht, was Paulus der Apostel im 11. Cap. des Briefes an die Römer am Schlusse ausruft: „Von ihm, durch ihn, und zu ihm sind alle Dinge.

Wanderer auf der Heerstraße des Lebens, woher? Wanderer auf der Heerstraße des Lebens, wohin? So haben wir gefragt, und mit dem Zeugnisse Gottes vor uns in der Schrift und mit dem Zeugnisse Gottes in uns in dem Herzen antworten wir: aus Gott und zu Gott. So antworten wir, seitdem der Offenbarung Licht auf unsern Weg geschienen; aber was haben die Menschen geantwortet, ehe es geschienen? Es gab edlere Gemüther auch in der Heidenwelt, ja es gab edlere Gemüther, die keine schlechte Antwort zu geben vermochten. „Wanderer, woher? Ich weiß es nicht. Wanderer, wohin? Ich weiß es nicht; aber ich sehe den Himmel voll Sterne und voll Ahnung das Menschenherz.“ So haben wohl etliche bessere unter ihnen geantwortet; doch wir wenden uns mit unserer Frage an die Masse, an die weite, große, dunkle Masse: tief, wie mit dem Klange der Sterbeglocke, tönt die Antwort zurück: „Ich bin Erde und muß wieder zu Erde werden, darum - lasset uns des Lebens genießen, denn morgen sind wir nicht mehr!“ So jene; aber auch wir, die wir das Woher? und das Wohin? wissen, sind wir damit würklich schon auf dem Wege? O welch' ein ungeheurer Unterschied es ist, unten vom Thale herauf den Weg zu sehen, der über das rauhe Gebirge hinweg nach Sonnenaufgang führt, ihn mit dem Auge zu sehen, und - ihn würklich anzutreten, ihn mit den Füßen zu wandeln, fröhlich und stark hinüberzueilen über der Berge Gipfel! Ihr sagt, daß ihr keinen erhebenderen Gedanken für die Menschen kennt, als den: aus Gott - zu Gott. Es ist einerseits wahr; aber andererseits kenne ich auch wiederum keinen Gedanken, der einen Menschen tiefer niederbeugen könnte, als der: aus Gott - zu Gott, wenn man einen nüchternen Blick auf sich selbst und sein ganzes tägliches Thun und Treiben richtet.

Was ich sagen will, ist dieses: wir sollen zu Gott kommen, aber wir können nicht eher zu ihm kommen, als bis er zu uns gekommen ist - nur durch Gott geht der Weg zu Gott. Und das, meine Geliebtesten, ist eigentlich der Inhalt unseres zweiten Artikels, indem wir bekennen: „Ich glaube an den eingebornen Sohn Gottes.

Christen, wir stehen an der Schwelle eines großen Geheimnisses. So weit das Wort der Offenbarung den Schleier gelüftet hat, lasset uns einen Blick auf dieses Geheimniß werfen, „auf welches die Engel gelüstet zu schauen.

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort; und durch dasselbige sind alle Dinge, die gemacht sind.“ Gott ist von Ewigkeit her kein stummer Gott gewesen, das ist es, was dieses Wort der Offenbarung uns verkündet; es ist nicht eine ewige Stille auf dem Abgrunde gewesen in dem Urbeginn der Zeiten. Gott hat mit sich selbst Gespräch gehalten, er hat mit sich selbst gesprochen in seinem Worte, und dasselbige, was hier die Schrift das Wort Gottes nennt, das nennet sie anderwärts die Weisheit, das Ebenbild, den Abglanz, den Sohn des Allerhöchsten. Vernehmet, was in des Alten Bundes Zeiten die Weisheit bei Salomo von sich selber zeuget: „Der Herr hat mich gehabt im Anfange seiner Wege; ehe er was machte, war ich da, ich bin eingesetzt von Ewigkeit, vor Anfang, vor der Erde, - da er die Himmel bereitete, war ich daselbst, da er die Tiefen mit seinem Ziel verfaßte, da er die Wolken droben festete, da er befestigte die Brunnen der Tiefe, da er dem Meere das Ziel setzte und den Wassern, daß sie nicht übergehen seinen Befehl, da er den Grund der Erde legte, da war ich der Werkmeister bei ihm, da war ich sein Ergötzen Tag für Tag und spielete vor ihm allezeit.“ Und vernehmet, wie diese prophetische Stimme abermals fragt: „Wer fährt hinauf gen Himmel und herab, wer fasset den Wind in seine Hand, wer bindet die Wasser in ein Kleid, wer hat alle Enden der Welt gestellet, wie heißt er und wie heißt sein Sohn? Weißest du das?“ - Gemeinde Jesu Christi, wir wandeln im Lande des Glaubens und nicht des Schauens; was uns von Gottes Geheimnissen mitgetheilt wird, widerfährt uns daher im Bild und im Gleichniß. So hat sich denn die Schrift zu den Schwachen herabgelassen und im Bild und Gleichniß geredet, indem sie von einem Worte, von einer Wahrheit, von einem Sohne und Ebenbilde Gottes geredet. Es hat sich Gott von Ewigkeit vor sich selber offenbaret, er ist sich in der Fülle seiner Herrlichkeit Gegenstand seiner eigenen Betrachtung geworden; und hätte er sich nicht vor sich selber offenbaret, so hätte er sich auch nicht nach außen offenbaren können - das, meine Geliebten, ist der Inhalt, der unter jenen bildlichen Ausdrücken verborgen liegt. Diese Offenbarung Gottes vor sich selbst und in sich selbst nennt die Schrift das Wort, weil er darin vor sich selber sich ausspricht; sie nennt sie die Wahrheit, weil er darin sich selbst weiß; sie kommt als eine gütige Mutter der menschlichen Schwäche noch näher und nennt sie sein Ebenbild, seinen Sohn, dieweil der menschliche Vater in seinem Sohne sein eigenes Wesen als im Gleichniß wiederstrahlen sieht. Durch seinen Sohn, heißt es nun, hat er die Welt geschaffen; denn wie anders hätte er die Herrlichkeit, die er in sich selbst trug, aus sich herausstellen können in eine geschaffene Welt, als nachdem er sie vorher als einen Abglanz seines eigenen Wesens in sich angeschaut hatte? Nicht der stumme Gott schafft, mit sich selber muß er erst Rede führen; nur wenn er sich geoffenbaret hat vor sich selber, kann er sich auch in der Welt offenbaren, nur aus der lebendigen Rede mit sich selbst geht dieses Werde hervor, aus dem Himmel und Erde geworden sind.

Es mag seyn, Geliebte, daß noch immer manchem von uns diese Wahrheit sich in das Räthsel und Geheimniß hüllt. So laßt uns wenigstens mit Ehrfurcht davor stehen bleiben, bis sie ihren Schleier abwirft. Es giebt Christen, welche sich von der Seite dieser Erkenntnißtiefen der Schrift gar nicht angezogen fühlen, die nur eine einzige Frage an dieses Buch zu thun haben und zufrieden sind, wenn die Antwort darauf da ist, die Frage: Was soll ich thun, daß ich selig werde? O liebe Christen, ihr habt ganz Recht; die erste Frage ist das ganz gewiß, das könnt ihr schon daraus abnehmen: die Antwort auf alle anderen Fragen kann man gar nicht einmal verstehen, sobald man diese erste nicht verstanden hat. Ihr sehnt euch nach Leben in euer Herz und nach Licht auf den Pfad eures Lebens; habt ihr das, so ist euch genug geschehen. Wohl, ihr seid die Hand und der Fuß am Leibe Jesu Christi, aber hat nicht auch der Leib sein Auge? O es ist etwas so Großes, was immer noch nicht genugsam bedacht wird, darin, daß die Heilige Schrift, wie eine gütige Mutter ihren Kindern, so verschiedene Speisen darreicht. Ja, sie wird groß mit dem Großen und klein mit dem Kinde; sie ist, wie ein Kirchenvater sagt, in Wahrheit „ein Bach, worin der Elephant watet und das Lamm nicht ertrinkt.“ Und darin liegt nun auch eine Lehre für das Anhören von Predigten, an die ihr vielleicht nicht denkt! Soll uns das nicht in unserm Urtheile Liebe lehren, wenn manches darin gerade unsern Bedürfnissen nicht zusagt? Ist nicht das die Aufgabe für den Prediger des göttlichen Wortes, die ganze Gemeinde auf seinem Herzen zu tragen und, wie sein ewiges Vorbild, die Schrift selbst, bald mit dem Worte Gottes hinaufzusteigen in den Himmel und das ewige Herz Gottes, um die Tiefen seiner Rathschläge zu ergründen, bald wieder sich herabzulassen in die armseligsten Winkel der Erde und den Schmutz des Lasters und des Elends auch in seiner abschreckendsten Gestalt mit dem Lichte Gottes zu beleuchten?

Seht, wie auch in unserer vorliegenden Betrachtung die Schriftwahrheit uns dafür wieder ein Vorbild giebt. „Durch das Wort sind alle Dinge geschaffen, die geschaffen sind,“ das war ein Geheimniß hoch über uns in der Ewigkeit - durch dasselbige Wort, durch das alle Dinge geschaffen sind, sind sie auch erlöset. Da senkt sich die Wahrheit, die noch eben über uns im Himmel war, wieder auf die Erde und tritt heran an das bedürftige Menschenherz.

Da habe ich nun zuerst die Frage an euch zu thun: was denket ihr euch bei diesen Worten, Erlösung, Versöhnung? Wohl geht sofort, wo diese Worte erwähnt werden, der Blick der Gemeinde nach Gethsemane und Golgatha hin, auf das bittere Leiden und Sterben unsers Herrn. Und Unrecht habt ihr darin nicht, wenn nur nicht ausschließlich darauf euer Blick geht; denn ehe ihr noch nach Gethsemane und Golgatha ihn richtet, habt ihr ihn hinzurichten nach Bethlehem. Geht nämlich auf das Leiden und Sterben unseres Herrn ausschließlich bei dem Worte Erlösung euer Blick, Geliebte, da habt ihr nur einen Ast, zwar einen großen, fruchtreichen Ast, aber immer nur einen Ast eines großen Baumes, und noch nicht seine Wurzel. Was anders aber ist die Wurzel unserer Erlösung und Versöhnung, als das, wodurch erst das ganze Leben, Leiden und Sterben unseres Herrn seine göttliche Kraft erhält? Und suchen wir nun das auf, wodurch alles Thun und alles Leiden unseres Herrn erst seine göttliche Kraft erhält: ist das nicht ausgesprochen in jenem Worte, welches Paulus, der Apostel, das „rundlich große und gottselige Geheimniß“ der christlichen Kirche nennt: Gott ist erschienen im Fleisch? - Die Menschwerdung Gottes, das ist die Wurzel unserer Versöhnung, jenes Gnadenwunder, das die christliche Kirche in den nächsten Tagen feiern wird. Giebt es sich nicht deutlich in der christlichen Kirche seit Jahrhunderten zu erkennen, daß dieses Fest eigentlich das freudenreichste für uns ist? Es giebt eine geistliche Osterfreude, es giebt eine geistliche Pfingstfreude; aber was sind diese Festfreuden gegen die christliche Weihnachtsfreude? Hat nicht gerade an diesem Feste der geweihten Nacht die christliche Freude etwas so Trauliches und Stilles? Und nicht wenig trägt die Jahreszeit dazu bei, in welche dieses Fest fällt. Es ist die Jahreszeit, wo die geschaffene Natur uns alle Freude versagt! siehe, da öffnet sich der Himmel, und eine selige Freude steigt vom Himmel herab. Es ist die Jahreszeit, wo in der Natur auf Erden der Tod herrscht! siehe, da öffnet sich der Himmel, um uns das Leben zu geben.

So laßt uns denn ganz allein bei dieser Wurzel unserer Erlösung in unserer heutigen Betrachtung stehen bleiben, bei der Menschwerdung Gottes in Christo. Einer nächsten Betrachtung lasset uns aber die Aeste aufbehalten, als da sind: „empfangen vom heiligen Geiste, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontio Pilato, gestorben, begraben, niedergefahren zu den Todten, am dritten Tage wieder auferstanden von den Todten, aufgefahren gen Himmel, sitzend zur Rechten Gottes, von dannen er kommen wird zu richten die Lebendigen und die Todten.

O was es für eine schöne Zierde für die Kirche gewesen, als am Weihnachtsfeste noch die ganze Gemeinde aus einem Herzen und Glauben das gottselige Geheimniß mit unserm Luther preisen konnte und singen:

Des ew'gen Vaters einig Kind
Man jetzo in der Krippe find't.
In unser armes Fleisch und Blut
Verkleidet sich das ew'ge Gut.

Den aller Weltkreis nie beschloß,
Der liegt in Mariens Schooß;
Er ist ein Kindlein worden klein,
Der alle Ding' erhält allein. Halleluja!

Gemeinde der Christen, wie warst du so reich, als deine Festtage eine gläubige Feier der Wunder Gottes waren, als alle deine Prediger an den Festtagen auf die Kanzel traten mit dem großen Bewußtseyn: „Ich habe heut der Gemeinde ein enthülltes Geheimniß Gottes zu verkündigen!“ Soll ich es euch in Einem Beispiele darstellen, wie tief die Kirche noch vor zwanzig, dreißig Jahren von ihrer ehemaligen Höhe gefallen war, so laßt mich das Einige erwähnen, daß an dem Tage, wo einst die himmlischen Heerschaaren einen Lobgesang angestimmt haben, an dem Tage, wo das Geheimniß erschien, in welches die Engel gelüstet zu schauen, daß an dem Tage, wo der Welt Heiland geboren wurde, es in Vieler Augen als Weisheit galt, von der würdigen Feier unserer Geburtstage zu predigen! Fühlt ihr die Schmach, welche hiemit die Kirche erlitt? fühlt ihr die Schmach, die hiemit der geistliche Stand selbst erlitt? „Haushalter über Gottes Geheimnisse“ hat die Schrift sie genannt. Was waren sie nun geworden? Verkündiger menschlicher Einfälle! Doch die Zeit und die Kirche hat sich aufgerichtet von dieser Schmach.

Wir fühlen es allesammt: der Mensch selbst wird dadurch groß, daß er an Geheimnisse Gottes glaubt! Noth ist für manchen von euch das Wort: Gott ist erschienen im Fleisch! ein unverstandenes Geheimniß. Aber ihr ahnet wenigstens seinen Inhalt, und ihr könnt den Gedanken nicht ertragen, daß an diesem Tage von einem Andern gepredigt werde, als über welchem in dieser Nacht die Engel lobsungen haben: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.

Wie so nahe ist nun aber eigentlich der Glaube an die Erscheinung Gottes im Fleische dem Menschen gelegt! Glaubt mir: nichts anderes macht diesen Glauben an Gottes sinnliche einmalige Gegenwart auf Erden uns so schwer, als weil wir an seine geistige fortwährende Gegenwart auf Erden nicht aus voller Seele glauben. Wir sagen es uns selbst, wir sagen es Andern: Unser Gott ist kein Gott, der bloß dort oben wäre in den blauen Wolken! Aber wie ganz erstaunlich schwer wird es dem Menschen, diesen Gedanken in seiner Kraft festzuhalten: Der, welcher uns geschaffen hat und den Odem in unserem Munde erhält, der ist wirklich auf der Erde mitten unter uns. Geschieht es, daß einmal einer jener Gottesmenschen, einer jener prophetischen Menschen, denen man das Bewußtseyn der Gegenwart Gottes auf dem Antlitze liest, mit jenem Ernste, den dieser Gedanke stets im Menschen weckt, das Wort ausspricht: Gott ist gegenwärtig! - wie uns das erfaßt, wie uns das als etwas nie Gehörtes ergreifen kann! Und doch, ganz fremd ist dieses Bewußtseyn der geistigen Gegenwart Gottes keinem Menschen. Schon im Gewissen empfindet der Mensch den gegenwärtigen Gott. Ist es euch wohl aufgefallen, wie, wenn in öffentlicher Versammlung die Predigt von dem Gewissen spricht und von dem allgegenwärtigen Gotte, wie gerade dann Alles still wird, - was anders ist der Grund, als weil in dem Augenblicke er euch selbst verkündet, daß er euch nahe ist! In dem Augenblicke, wo der Prediger spricht: Gott ist unter euch! siehe da beugen sich aller Herzen und sprechen Amen! und sagen: Ja er ist ein naher Gott! Wie? ist aber dieses Geheimniß der Liebe, daß der ewige Schöpfer Himmels und der Erde seinem armen schwachen Geschöpfe geistig so unaussprechlich nahe kommen kann, ist es euch begreiflicher als dies, daß er in sinnlicher Gegenwart unter ihnen erscheinen konnte? Ist nicht der Anstoß, den der sinnliche Mensch an seiner sinnlichen Erscheinung nimmt, eben nur darin begründet, daß, wenn er von der Menschwerdung Gottes hört, er nur an ein Herabkommen Gottes vom Himmelsthron denkt? daß er vergißt: dieser Gott, der mit diesem Menschen vollkommen eins geworden, ist eben nur der allezeit geistig auf Erden gegenwärtige und seinen Geschöpfen unaussprechlich nahe? O meine Brüder, ist dieses Bewußtseyn seiner geistigen Gegenwart in der Gemeinde und in unserm Herzen nur ein bleibendes in uns geworden, wahrlich dann ist auch der Gedanke kein fremder mehr für uns, daß er in der Fülle der Zeit Fleisch geworden und sinnlich gegenwärtig unter uns erschienen ist. Wir erfahren dann, indem wir im Geiste mit ihm und seiner Geschichte umgehen, die Gottesnähe in dem Menschensohne ohne Gleichen, in welchem die Fülle der Gottheit wohnte. Noth eben war des Thomas Gemüth vom Zweifel erfüllt gewesen, auch er hatte in seinem Meister den bloßen Menschen gesehn; aber er erfährt den Gottessohn in ihm, und überwältigt ruft der Zweifler aus: „Mein Herr und mein Gott!“ und sinkt zu seinen Füßen. „Mein Herr und mein Gott!“ so ruft auch die Christenseele, welche die Gottesnähe in ihm erfährt, dann aus, und wir beugen vor ihm unser Knie.

O wie tief liegt sie in der menschlichen Brust, die Sehnsucht nach einer solchen sinnlichen Gegenwart des Ewigen. Es wird uns verkündigt, daß er „in der Fülle der Zeit“ erschienen sei, das heißt, daß seine Erscheinung nicht vereinzelt dasteht, daß sie sich angeschlossen hat an die Sehnsucht der Völker. Wenn der Heide sich ein Gebilde seiner Hände erschuf und davor niederfiel und anbetete: was war es anders als die Sehnsucht, seinen Gott nicht bloß zu wissen jenseits der Wolkenhimmel, sondern als einen gegenwärtigen mitten unter ihnen? Und wenn Israels Propheten verkündigten, daß der, den der Himmel Himmel nicht fassen, daß dieser in der seligen Zukunft selber der Hirte werden wolle seiner Schaafe (Ezech. 34, 15. 16. 23.): was war es anders, als die Sehnsucht, daß derjenige, den sie so lange in Sinnbildern verehrt hatten, welche ihn eben so sehr verbargen als enthüllten, in sinnlicher Gewißheit gegenwärtig unter ihnen werden möchte? Und was die Sehnsucht der Völker ersehnte, das ist erfüllet worden, wie der Apostel sagt: „als die Zeit erfüllet war.“ Sie haben den langen Gang der Erfahrung durchgehen müssen, die Heiden und die Juden, der Erfahrung, daß der Mensch nicht zu Gott kommen kann, wenn Gott nicht zu ihm kommt. Und als das vor aller Augen bekannt geworden, da erschien der eingeborne Sohn vom Vater.

Ja der eingeborne Sohn vom Vater, das heißt: der nur einmal geborne und darum einzige Sohn des Vaters, denn er ist der Sohn Gottes ohne Gleichen. Zwar rühmen wir uns des Namens der Kinder und der Söhne Gottes, und sehen wir auf unsere Bestimmung, mit Recht, aber sehen wir auf unsere Beschaffenheit, müssen wir da nicht bekennen, erst an ihm erfahren zu haben, was zu einem Sohne Gottes gehört? Wer ist der Kühne unter den Millionen, welche die Erde bewohnen, der sich ihm zur Seite stellen mag und zu ihm sprechen: Was du bist, bin auch ich! Nein, du Gottessohn voll Liebe und voll Kraft, voll Huld und Majestät! wer dich geschaut hat mit dem Auge des Geistes, der spricht: du bist allein unter all' den Millionen von Adams Geschlecht dessen würdig gewesen, daß sich der Himmel über dir aufthat, und nur über dir konnte in vollem Sinne des Himmels Stimme erschallen: „Dieser ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Den sollt ihr hören!“

Aber - eine neue Enthüllung der Wunder Gottes - seine Menschwerdung ist unsere Erlösung; und was er ist, das sollen wir werden. Wir, haben uns vor ihm auf das Knie geworfen als vor dem eingebornen Sohne Gottes, er hebt uns auf und legt uns an sein Herz und sagt uns: der Erstgeborne will ich seyn und ihr seid meine Brüder! (Röm. 8, 29.) Ist diejenige Wahrheit überall die tiefste, welche, wenn wir sie zerlegen, sich als die Einheit unendlicher Gegensätze erweist, so muß ja wohl die christliche Wahrheit die tiefste seyn; denn kaum hat sie zusammengefügt, was durch eine unendliche Kluft geschieden schien, die Gottheit und die Menschheit, so verkündete sie uns eine neue, wunderbare Einheit, daß unser Herr auch unser Bruder ist. Dort in jener Stunde, wo sein Blick schon in der Verklärung der Ewigkeit ruhte, in seinem letzten Gebete, da verkündete er die Wahrheit, die uns jetzt in so tiefe Anbetung versenkt: „und ich habe ihnen - d. i. den in seine Gemeinschaft durch den Glauben Aufgenommenen - und ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, daß sie eins seien, gleich wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir.“ So siehst du denn, christliche Gemeinde, nicht blos einen Lehrmeister hast du an ihm des rechten Weges, auf den der Mensch zu Gott kommt. Nein, in dem, der gesagt hat: „Wer mich stehet, der siehet den Vater,“ ist eine offene Straße zu Gott aufgethan; er zeigt nicht bloß den Weg zu Gott - „ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ hat er verkündet. Menschen, die ihr aus Gott geschaffen seid, Menschen, die ihr zu Gott geschaffen seid, durch den, welcher der Sohn Gottes war und der Menschen, geht der Weg der Menschen zu Gott!

O Christen, die wir durch die Gemeinschaft mit unserm Heiland Theil zu haben an der göttlichen Natur berufen sind (2. Petr. l, 4): es ist ein unerschöpflich heiliger Quell, welcher aus jener geweihten Nacht hervor stießt, die wir nun feiern sollen! O daß wenigstens in diesem Kreise auch nicht Einer gesunden werde, der nicht in jener Festnacht, bei aller Freude über die Gaben, die ihm Menschen geben, seine Kniee beuge mit unaussprechlichem Danke für die größte aller Gaben, die uns der ewige Gott gegeben hat. -

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