Tersteegen, Gerhard - An eine christliche Freundin.

Tersteegen, Gerhard - An eine christliche Freundin.

In Christo Jesu, unserm hochgebenedeitesten Heilande, werthe Freundin! Ich danke Gott, daß er durch seine Barmherzigkeit eure Augen hat angefangen zu erleuchten, um eure Sündlichkeit, der Welt Nichtigkeit und der ewigen Dinge Wichtigkeit in etwa zu erkennen, ja euch auch eine verhoffentlich aufrichtige Begierde gegeben, von euern Sünden in Wahrheit geholfen zu werden, um mit Vergessung alles Eitlen dem Herrn zu Gefallen zu leben. Findet ihr, geliebte Freundin, diese Herzensgestalt in euch, so achtet euch höchst verpflichtet, Gott mit mir herzlich dafür zu danken, sintemal der geringste Anfang der Gnade Gottes mehr werth ist, als alle Welt nicht geben kann. Der erste Tritt auf dem Wege der Gottseligkeit ist eine Umwendung vom ewigen Verderben zur ewigen Seligkeit. Ueberleget solches oft vor Gott. Was wenig geachtet wird, wird leicht verloren. Und was würde nicht der Satan und die Welt darum geben, wenn sie euch wieder anderes Sinnes machen könnten? Gott bewahre uns davor. Und deßwegen ist es auch, daß ich anderntheils euretwegen Gott gebeten habe, weil ich weiß, daß es der Feind nicht unversucht lassen wird, euch auf alle Weise wieder abwendig zu machen und einzuwickeln, oder aber in Schläfrigkeit und Stillstand zu bringen. Ach, wie so viele habe ich schon gekannt, die einen guten Anfang hatten, aber nach einiger Zeit der Welt und der Vernunft wieder Gehör gaben und den Muth sinken ließen! Andere, welche nicht gar wieder zurückgehen, bleiben bei einigen anfänglichen Gnadenwirkungen und Veränderungen stille stehen, ohne zur völligen Wiedergeburt und innigen Vereinigung mit Gott fortzuschreiten. Und wenn es je manchem noch darum zu thun ist, um fortzukommen, so ist es dann doch noch eine überaus große Gnade Gottes, wenn ihm die wahre Spur gezeiget und eröffnet wird; da sich noch immer so manche Anstöße, Mißtritte, Irr- und Abwege in dem Laufe der Gottseligkeit hervorthun. Ich sage dieß nicht, um jemand muthlos zu machen, sondern nur zum beständigen Gebet, genauer Vorsichtigkeit und großem Ernst aufzumuntern. Würdet ihr mich aber vielleicht hierauf fragen: was ich denn (nach meinem Licht) für den sichersten Weg halte, so wollte ich insgemein antworten: daß es derjenige sei, den uns Jesus im Evangelio vorleget, wenn er spricht: so jemand will mir nachkommen, der verläugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. (Matth. 16, 24). Dieses sind nur 3 Wörtchen; dennoch, wenn man das immerwährende Gebet (Luc. 18, 1.) bei jedem dieser drei miteinschließet, kann man mit Wahrheit sagen: daß diese 4 Worte das ganze wahre Christenthum in sich fassen, und die von keiner Vernunft noch Welt können widersprochen werden. Der Herr Jesus, der sie ausgesprochen, wolle sie euch zu jeder Zeit nach Erforderung eures Zustandes selber auslegen und zueignen. Doch um einige einfältige Anleitung zu geben, so stellet euch vor, daß der liebe Heiland noch heut und alle Tage zu euch spreche: verläugne dich selbst, wo du dich findest. Findest du dich mit Liebe, Lust, Vertrauen in einigem geschaffenen Ding außer Gott; findest du dich mit Eigengefälligkeit und Eigenliebe in andern natürlichen, ja auch geistlichen und göttlichen Dingen, so verläugne dich selbst: Lebe nicht nach deinem eigenen Sinn, Willen und Lust, sondern handle vielmehr demselben in Allem heiliglich zuwider, in deinem Reden und Thun, Gehen und Stehen, Essen und Trinken rc., ohne je dennoch vorsätzlich der Gesundheit zu schaden. Bete ohne Unterlaß um Gnade, Weisheit und Kraft, und nimm dein Kreuz auf dich. Du darfst dir keines selber machen; nimm es nur auf dich; es wird dir schon vorgelegst werden, entweder von der Welt, wenn sie dich verachtet, hasset, verspottet, lästert, mißhandelt und verfolgt, oder vom Satan, wenn er dich plaget mit Versuchungen, Anfechtungen, bösen Eingebungen und Gedanken rc., oder von Gott und seiner Vorsehung durch Schmerzen, Krankheiten, unzählbare Widerwärtigkeiten, durch geistliche Verbergungen, Entziehung seiner uns empfindlichen Kraft und andere Prüfungen, oder endlich von dir selbst durch die Unordentlichkeit deiner Complezion, durch die Verdorbenheit deines Fleisches, durch das Gefühl deiner Schwachheit und Unbeständigkeit, ja selbst durch Sünden, so wider Willen und aus Uebereilung möchten geschehen. Alles dieses Kreuz nimm auf dich, das ist, mach dich dazu gefaßt, daß du nach der Natur nicht viel gemächliche Tage in dieser Welt haben wirst. Fasse einen guten Muth und halte beständig aus; dabei bete ohne Unterlaß um Muth, Stärke und Geduld, und folge mir nach. Gib dich mir in gänzlichem Vertrauen über, lege deinen Willen ganz in meine Hand, werde wie ein kleines Kind, das selbst nicht gehen kann, noch weiß, wie es gehen soll; schließ die Augen der Vernunft nur zu und halte dich im Glauben an mich; merke auf meines Geistes Regungen in deinem Inwendigen; wie ich dich überzeuge, erinnere und ziehe, so folge du mir einfältig und ohne Sorge; ich habe selbst auch diesen Verläugnungs- und Kreuzesweg gegangen; ich will dich wohl recht führen, ich weiß am besten, was dir nützlich ist, halte mich nur beständig nahe und vor Augen, und wie ich dir vorgegangen bin, und noch vorgehe, innerlich und äußerlich, so folge du mir nach: dabei bete ohne Unterlaß um Glauben, Einfalt und Treue. Ja gewißlich, es muß das Gebet bei allen andern Uebungen nothwendig gebraucht und geübt werden, theils, weil wir arme und ohnmächtige Creaturen in uns selbst sind, die nichts haben, noch vermögen, als was wir alle Augenblicke an der Gnadenthür des Allerhöchsten erbetteln, theils auch, weil wir der Speisen, bevorab wenn sie kräftig sind, bald überdrüssig werden, und an denselben einen Eckel bekommen, wenn wir kein Brod dazu nehmen. Die Kreuz- und Verläugnungslehre des Herrn Jesu ist gleichfalls für die verderbte Natur eine starke Speise, so daß, wie beherzt wir es auch immer im Anfang angreifen mögen, selbige uns doch in die Länge gewiß zu mächtig und zu bitter werden wird, wo sie nicht durch die Uebung des steten Gebets gemildert und versüßet wird. Ich verstehe aber in dieser letzten Absicht durch das Gebet nicht so sehr nur das Bitten, Verlangen und Begehren der Seele, um dieses oder jenes von Gott zu erlangen, sondern jede Beschäftigung unsres Geistes und Glaubens mit Gott und göttlichen Vorwürfen, und insgemein dasjenige, was in der Schrift ein Wandel vor Gott genannt wird. Dieses Grundstück und edle Kleinod des wahren Christenthums möchte ich euch gern über alles andere anpreisen, weil selbiges, wenn es recht verstanden und geübet wird, alle anderen schon mit in sich fasset.

Insgemein verstehe ich allhier durch das Gebet den traulichen Umgang mit Gott, da wir Gott als gegenwärtig, und auch sonderlich in uns gegenwärtig glauben und erkennen, und an ihn als einen solchen oft, und wo es möglich, immerdar, mit Ehrfurcht und Liebe gedenken, ihn mit innigster Beugung des Geistes anbeten, verherrlichen, uns ihm in Wahrheit zum ewigen Eigenthum aufopfern, uns mit Liebe innig zu ihm neigen, und mit ihm als unserm Herzensfreund Gespräche halten, welches der Glaube und die Liebe lehret. Um sich nun etwa mehr insbesondere in diesem Gebet zu üben, dazu ist nach meiner Einsicht nöthig, daß man nicht allein sich wieder sammle, so oft man gewahr wird, daß man durch andere Vorwürfe und Geschäfte zu weit von Gott und seinem Andenken entfernt ist, sondern ich würde euch auch anrathen, wo es immer möglich, selbst eine gewisse expresse Zeit dazu auszusetzen, wären es auch nur ein paar halbe oder Viertelstündchen alle Tage, da ihr alle äußerliche Verrichtungen und Ueberlegungen so lange bei seit setzet, um euch in der Einsamkeit vor Gott zu stellen, nicht allein, ihm euer Anliegen vorzutragen, sondern insbesondere euer etwa zerstreutes Herz und Gedanken mehr als sonst zu sammeln, Gott und seine Gegenwart oder einige seiner Vollkommenheiten zu beschauen, euer Innerstes vor ihm blos zu legen, und in möglichster Stille zu warten, was er innerlich wirken oder eindrücken wolle. Alles aber in Einfalt, Demuth, sanft und mehr mit dem Herzen, als mit dem Haupt, Maßen es mehr ein Werk des Geistes Gottes, als unsers eigenen sein muß. Dieses kommt zwar der Natur im Anfang etwas verdrießlich und schwer vor, wird aber im Fortgang leicht, und endlich das rechte Leben und Element der Seele, das sie tröstet in aller Arbeit, Leiden und Mühseligkeiten dieses Lebens, und sie schon bei Leibesleben in das himmlische Wesen versetzet, und ihr einen Frieden mittheilet, der allen Verstand übertrifft, und den niemand von ihr nehmen kann. Der große Gott der Liebe gebe es euch, mir und vielen Tausenden wesentlich zu erfahren. Amen.

Quelle: Renner, C. E. - Auserlesene geistvolle Briefe der Reformatoren

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