Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Über die Worte: Darum von nun an kennen wir Niemand nach dem Fleische usw.

Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Über die Worte: Darum von nun an kennen wir Niemand nach dem Fleische usw.

In Jesu, der unser Friede, Leben und Alles sei, herzlich geliebte Schwester!

Ich will Dir mit kurzen Worten meine Gedanken sagen über die Stelle in der Schrift (2. Kor. 5, 16.); Darum von nun an kennen wir Niemand nach dem Fleische, und ob wir auch Christum gekannt haben nach dem Fleische, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr. Es ist klar, dass der Apostel hier auf die bösen Arbeiter das Auge hat, die Parteien stifteten (siehe 1. Kor. 1, 11. 12.) und die sich auf ihr Ansehen nach dem Fleische, aber nicht nach dem Herzen (V. 12.), auf Männer von Ansehen (Gal. 2, 6.), auf diese oder jene Vorrechte (Phil. 3, 2-6.) stützen, und also die Seelen nur bei dem Äußern aufhielten. Gegen solche schädliche Arbeiter ist der Apostel hier in heiligem Eifer ergrimmt und wie in Liebesentzückungen außer dem Leibe, damit er auch die Gläubigen über alle das Sinnliche entzücken möge; ja er ist wie ein schon Gestorbener, auf dass die Gläubigen sich auch als gestorben beschauen möchten (V. 14 u. 15.). Ich bin gestorben, was kümmert mich das Äußere? ich bin gestorben, darum kenne ich Niemanden mehr, was er auch sei, hoch oder niedrig, gelehrt oder unwissend, geachtet oder verachtet, Jude oder Heide; mit dem Tode hört Alles auf, selbst der Ruhm auf Christi Geschlecht nach dem Fleische, auf seine Begebenheiten und auf seinen Wandel hier auf Erden, und was man davon äußerlich gesehen oder gewusst haben mochte. Man muss, will der Apostel sagen, von nun an mehr in das Unscheinbare, in das Geistige hineingehen; wir sind nicht mehr die vorigen Menschen, sondern neue Kreaturen (V. 17.) geworden; dies allein und nichts Äußeres gilt etwas in Christo Jesu (Gal. 5, 6.).

So sieht man leider heut zu Tage, wie viele Menschen nur zu viel bei einer bloß bildlichen und fleischlichen Kenntnis von Christo und vom Werke der Versöhnung stehen bleiben. Manche haben die Wahrheit von Christi Blut und Versöhnung nur im Kopfe und Munde, ohne wahre Herzensveränderung; und dies ist eine grobe fleischliche Kenntnis von Jesus, die nie selig macht. Andere gutmeinende Seelen fühlen bei dieser bildlichen Kenntnis von Christus auch süße Rührungen in den Sinnen und im Herzen, bleiben aber bei dieser angenehmen Empfindung und bei der bildlichen Vorstellung dieser Wahrheit zu viel und zu lange stehen, die Speise, um mich so auszudrücken, bloß in dem Munde haltend, ohne von ihrer Kraft genährt zu werden und ohne von dieser lauteren Milchspeise zuzunehmen. Diese sind, auf das Beste genommen, junge geborene Kinder in Christus, die man lieb haben aber auch unterrichten muss, damit sie von dieser Milch zunehmen (1. Petri 2, 2.) und sich allmählig an festere Speise gewöhnen. Man verachte darum die Milch nicht, welche Erwachsene auch genießen: wenn aber solche Menschen über dem noch wollen, dass alle Andern ebenso wie sie reden, fühlen und stehen bleiben sollen, dann sind sie fleischlich zu nennen (1. Kor. 3, 1.), und ihre Kenntnis von Christus ist zu sehr nach dem Fleische (2. Kor. 5, 16.). Durch Christi Menschwerdung, sagten die ersten Christen, hat Gott sich uns wie eine Milchspeise dargestellt, um durch sie aufzuwachsen zum Genuss des Brotes der Unsterblichkeit, nämlich im Geiste des Vaters. Durch Christi Menschheit werden wir zur Gottheit geführt. Diejenigen, welche so bildlich und oberflächlich von der Versöhnung reden und sich damit so zufrieden zeigen, sind nicht immer durch das Ziehen des Vaters gehörig zur Bußfertigkeit und Bekehrung in Christus gelangt: und doch kann niemand auf eine andere Art zu ihm kommen (Joh. 6, 44.). Und wahrlich zu Christus und zur Versöhnung durch sein Blut gelangt, müssen wir uns auch durch Christus, dem wahrhaftigen und lebendigen Weg zum Vater, zur innigen Vereinigung mit unserm guten Gott führen lassen (Joh. 14, 16.), und das versäumen gar Viele, indem sie am Wege liegen bleiben, ohne auf demselben fortzuwandeln. Christus ist nicht bloß gekreuzigt und gestorben, sondern auch wieder erweckt und gen Himmel gefahren, um uns zu heiligen durch die Mitteilung seines Geistes, der da heiligt und freimacht (Röm. 1, 4. und 8, 2.), und uns samt ihm in das himmlische Wesen zu versehen von nun an (Eph. 2, 6.). Gläubige dürfen darum nicht bloß bei der Geschichte, bei der bildlichen Vorstellung und der rührenden Betrachtung des Todes und der Auferstehung Christi stehen bleiben, wie gut und süß dies auch zu seiner Zeit und an seiner Stelle sein mag, sondern hauptsächlich die Kraft seines Todes und seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden (Phil. 3, 10.) zu erkennen suchen. Hätte uns Christus nicht durch sein Blut und seinen Kreuzestod versöhnt, wir würden nie geheiligt, nie mit Gott vereinigt, nie selig werden können. Der schwache und entartete Mensch würde von der göttlichen Majestät und Reinheit, die doch so höchst liebenswürdig und beseligend ist, nichts anders als Schrecken, Zurückstoßung und Hölle empfinden, wenn dies nicht durch unsern großen Mittler, Gottmenschen, Emanuel, vermittelt und die Wirkung Gottes auf den Sunder dadurch nicht gemäßigt, tragbar, ja lockend und lieblich gemacht worden wäre. Durch die Vereinigung Gottes mit der Menschheit in Christus ist der Grund zu unserer Wiedervereinigung mit Gott gelegt, und durch das Blut und den Tod Christi haben alle bußfertige Sünder, so wie die schon geheiligten Kinder Gottes, beide im Leben und Sterben einen Eingang und lebendigen Weg in das Heilige der Gemeinschaft Gottes (Ebr. 10, 19. 20.), aber sie müssen ihn auch bewandeln und nicht bloß den Weg beschauen und ihn preisen (siehe V. 22 u. f.). Die drei Abteilungen des Tempels zu Jerusalem waren zugleich auch Sinnbilder der verschiedenen Zustände von denen, die dem Herrn dienen, und von den verschiedenen Arten, wie Gott und das Göttliche erkannt, wie ihm gedient und wie es genossen werden kann. Im Vorhof fand ein fortdauerndes Blutvergießen und Opfern vor den Augen des ganzen Volkes statt. Im Heiligen wurde das Blut auf die Hörner des Rauch-Altars getan (Luk. 4, 7.). Im Allerheiligsten, wo Gottes Majestät in stiller Dunkelheit thronte, hörte und sah man nichts von dem Geräusch des Schlachtens; dennoch wurde das Versöhnungsblut hinter den Vorhang gebracht (Luk. 16, 15.).

Christi Blut und Versöhnung ist in jedem Zustande kostbar, nicht bloß bei den Gläubigen auf Erden, sondern selbst bei den Seligen im Himmel (Offenb. 5, 9.); aber man hat davon nicht in allen Zuständen und zu allen Zeiten eine bestimmte Erinnerung, eine bildliche Vorstellung oder eine sinnliche Rührung.

Jeder Zug der Liebe zu Gott nach innen, jede Öffnung in dem Zugange zum Herrn, jeder Blick von kindlichem Vertrauen, jede Wirkung und Mitteilung Gottes, seiner Liebe und Güte, jedes Gefühl von Friede und innigem Wohlbehagen, die Gläubige fühlen und empfinden können; jede Willfährigkeit, um vor Gott zu leben usw.; alle diese und unendlich mehr Dinge haben ihren Grund in, und entspringen aus der Versöhnung Christi, wenn auch schon die Seele, die solches empfindet, gerade zu der Zeit wissentlich nicht daran denkt.

Ein Kind saugt an der Mutter Brust, ohne zu wissen, woher die Milch kommt, und ohne die Brust zu sehen, welche die Milch gibt; das Besehen derselben würde das Saugen verhindern. Verschiedene köstliche Zustände und Zeitpunkte des inneren Lebens erlauben nicht viel Überlegen und Umschauen. Auch kann es stattfinden, dass der Eine den angenehmen Geschmack der Speise auf der Zunge hat, und doch keine Nahrung von ihr erhält, wenn er sie nicht weiter bringt, wohingegen ein andrer die Speise, welche er genossen und ihren Geschmack vergessen haben kann, doch alle Nahrungskraft aus ihr zieht.

Innigen Seelen wird oft das Wesentliche der Versöhnung sehr einzeln, aber sehr tief und kostbar entdeckt; es wird auf sie angewandt und sie erfahren es auf eine Art, die ihnen nicht erlaubt, viel davon auszudrücken, die aber in ihrem Grunde die größte Selbstvernichtung, die tiefste Anbetung, das zärtlichste Vertrauen, die unumschränkteste Unterwerfung usw. hinterlässt. Solche Seelen ziehen größeren Nutzen aus der Sache als aus dem Bilde, und verherrlichen Christus und das Blut seiner Versöhnung unendlich mehr als Andere, die nur oberflächlich davon zu sprechen wissen. Ich bleibe

Dein Dich im Herrn liebender Bruder.

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autoren/t/tersteegen/briefe_in_auswahl/tersteegen-briefe-101.txt · Zuletzt geändert: von aj
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