Stählin, Leonhard - Die Herrlichkeit des göttlichen Wortes
Leonhard Stählin (1835–1907),
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.
Matthäus 24, 35.
Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.
Im Herrn Geliebte! Es ist das Werk der Bibelverbreitung, dem die gegenwärtige Feier gilt. Wenn wir der Heiden draußen in der Ferne gedenken, und ihre Not uns ans Herz dringt, wie sollten wir unsrer Pflicht gegen die vergessen, die in der eignen Heimat unser bedürfen, gegen die Kinder des Hauses, die Glieder unsrer eignen Kirche, ihnen das Wort des Lebens zu reichen und den Quell des Heils ihnen aufzuschließen! Es ist ein Werk, mit dem wir nichts Absonderliches tun, sondern nur das für unsre evangelische Kirche Selbstverständliche. Wir tun damit nichts anderes, als dass wir eine Arbeit fortsetzen, die einst in der Reformation begonnen hat. Hat einst die Reformation die Heilige Schrift allem Volke zugänglich gemacht - was Anderes wollen unsre Bibelvereine, als dem evangelischen Volke die heiligen Bücher zurückgeben, nachdem sie ihm aufs Neue entfremdet worden sind? Es ist ein segensvoller Dienst, den wir damit verrichten. Aufs Neue wollen wir mit der heutigen Feier uns dazu ermuntern. Es bedarf dafür aber keiner andern Erinnerung als der einen, was wir an dem Wort der Heiligen Schrift haben. Der Wert der Bibelverbreitung, das ist der Wert des göttlichen Wortes selber. Das ist aber das Wort, dessen Natur der verlesene Schrifttext ausspricht: es ist das Wort, das unbeweglich steht, wenn Erd' und Himmel untergeht.
Die Herrlichkeit des göttlichen Wortes, sie sei darum jetzt Gegenstand unserer Betrachtung. Das aber ist die Herrlichkeit des göttlichen Wortes:
I. in ihm leuchtet uns das Licht der ewigen Wahrheit,
II. in ihm wirken die Lebenskräfte der Ewigkeit.
I.
Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. So hat der Herr in jener Weissagungsrede gesprochen, in der er in kurzen großen Strichen die Endgeschichte seiner Gemeinde zeichnet. Der Weltbau wird versinken, aber sein Wort bleibt stehen, denn es wird sich sicher erfüllen. Also ist sein Wort die unverbrüchliche Wahrheit, die Wahrheit, die fester steht als Himmel und Erde. Aber das Wort des Herrn, das ist das Wort der Heiligen Schrift überhaupt, denn sie ist das gottgewirkte Zeugnis von ihm. Das ist die Herrlichkeit des göttlichen Wortes, dass es als das Licht der Wahrheit leuchtet in der Finsternis dieser Welt.
Wahrheit - das ist das Sehnen des menschlichen Herzens, das ist's, wonach der menschliche Geist immer gesucht hat; aber die Geschichte des menschlichen Geistes, sie ist die Geschichte eines ungestillten Suchens und Sehnens, eine Frage an den Schöpfer: Gottes lebendige Offenbarung allein kann die Antwort geben.
Was ist Wahrheit? Gewiss die höchste und menschenwürdigste Frage, die den Adel menschlicher Natur auch dann verkündet, wenn sie zur Pilatusfrage des Spottes und Zweifels herabgewürdigt ist. Aber wo ist die Antwort? Die Weisesten der Heiden haben nach Wahrheit geforscht, aber das Ende war das Bekenntnis: man kann nicht wissen, was Wahrheit ist. Und die heutige Welt mit ihren ins Endlose anschwellenden Wissensmassen scheint auf dem Wege zu sein, wieder, gleich der vorchristlichen Welt, bei der alten Pilatusfrage anzugelangen. Im Moder der Materie hat man auch das Kleinste mit dem höchsten Eifer durchforscht, aber von den höchsten und heiligsten Gegenständen aller Erkenntnis hat man sich gleichgültig abgewendet. Nun ist eine Abneigung da, eine feste Wahrheit überhaupt noch anzuerkennen. Eine unverbrüchliche Wahrheit erhebt ja freilich auch einen lästigen Anspruch. Wäre es nicht besser, alles offen und flüssig zu erhalten? Bereits hören wir es auch als ausgemachte Sache verkünden: es gibt keine Wahrheit, es gibt keine Gewissheit, sondern nur Wahrscheinlichkeit. Das wäre wahrlich ein trauriger Ausgang so hoher und edler Anstrengungen des menschlichen Geistes, wenn der Mensch nach allem andern Schiffbruch seines Glaubens zuletzt auch noch den Glauben an sich selbst, an seine eigene Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, verlieren und die ganze Welt der Wirklichkeit ihm in eine Welt des Scheins und der Täuschung sich auflösen müsste. Aber wie schlägt doch der Irrgeist immer wieder sich selbst! Wie soll denn etwas auch nur noch für wahrscheinlich gelten, wenn man nicht von einer Wahrheit weiß, der es sich doch anzunähern scheint? Und wie will man zweifeln, dass es eine Wahrheit gibt, während man doch den eignen Zweifel selber für wahr hält? Und was soll unserm religiösen Verlangen eine Wahrheit, die nur wahrscheinlich wahr ist? Kann sie mir einen festen Trost für mein Herz geben und einen festen Halt für mein Leben? Ist es bei einer solchen Denkart zu verwundern, wenn in weiten Kreisen jener vielbeklagte Mangel an fester Gesinnung um sich greift, und nur mehr das Probable, das für den Augenblick Nützliche und Zweckmäßige die Richtschnur des Handelns bildet ohne leitenden sittlichen Grundsatz? Es ist eine Denkart, die sich selbst auflöst, die an ihren eignen Folgerungen zu Grunde geht und eben damit wider Willen ein Zeuge für die Wahrheit wird. Es muss eine Wahrheit geben: das ist das Ergebnis, zu dem gerade die Leugnung der Wahrheit führt. Wahrheit ist die Speise der Geister, und die erste Sünde, das ist die Vernachlässigung der Wahrheit: erst aus der Vernachlässigung der Wahrheit entspringt die Zweifelsucht und die Haltlosigkeit der Gesinnung.
Was ist Wahrheit? Ist uns das auch erst noch eine offene Frage? Die Antwort gibt die gegenwärtige Feier. Es ist das Wort des lebendigen Gottes, um das wir heute als das Panier des Heils uns sammeln; das steht unbewegt als der Hort der ewigen Wahrheit inmitten all der Flut von Meinungen, die von gestern und heute sind. Es ist das Wort der Heiligen Schrift. Was ists, was sie uns verkündet? Was ist der Inhalt der Heiligen Schrift? Es ist das Erhabenste, was der menschliche Geist in sich aufzunehmen vermag, und doch in allem uns menschlich nahe, weil in allem in menschliche, Schwachheit eingetaucht, aber in aller Schwachheit eine lebendige Gotteskraft. Es ist eine große Geschichte Himmels und der Erde, Gottes und der Menschheit, die zurückreicht in die stille Ewigkeit, aus den oberen Brunnen, aus Gottes Herz entsprungen, und die endet im neuen Jerusalem. Aber die Mitte der heiligen Geschichte ist Er selbst, unser Herr und Erlöser, von dem es heißt: also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingebornen Sohn gab. Er hat den Lichtglanz der Gottheit verlassen, hat unser Elend auf sich genommen, ist für unsre Sünde in den Tod gegangen; aber das Kreuz ward ihm die Stufe auf den Thron der Herrlichkeit, droben im Himmel waltet er nun als unser Mittler und König, um alle, die an ihn glauben, aus Sünde und Verderben ihm nachzuziehen in ein unvergängliches Leben. Das ist das Wunder göttlicher Liebe! Was Keiner hätte zuvor ersinnen oder sich ausdenken können, was keine Einbildungskraft je erreicht hätte, woran der kühnste Gedankenflug der Dichtung erlahmt wäre, das steht hier vor uns als Wahrheit und Wirklichkeit. „Gott tut ein Werk, das ihm kein Mann, auch kein Engel verdanken kann.“ Das ist die Wahrheit, die die Heilige Schrift uns verkündet, nicht ein bloßer Gedanke, nicht eine bloße Lehre, sondern eine Geschichte, eine Tatsache. Ich bin die Wahrheit ruft unser Erlöser uns zu. Er selbst, dass wir in ihm Gemeinschaft haben mit Gott, das ist die Wahrheit. Er ist die Wahrheit alles Seins, alles Geschehens. Denn alles, Natur und Geschichte, es zielt alles auf ihn. Er und sein Reich ist das Endziel der ganzen Menschengeschichte, und dein eignes unruhiges Herz, es kommt zum Frieden und zum Einklang mit Gott und mit sich selbst erst in ihm. Er ist der einige Weg zum Heil: glaube an den Herrn Jesum Christum, so wirst du und dein Haus selig. Das ist die heilsame Botschaft, die wir überall hin tragen möchten, in die Paläste und in die ärmste Hütte, allen zum Heil, allen zur ewigen Errettung. Denn es ist das Wort der seligmachenden Wahrheit, das auf festem, unumstößlichem Grunde ruht. Es ruht auf dem Zeugnis der Apostel und Propheten, auf dem Zeugnis des Herrn selbst, es ruht auf der Erfahrung aller Gläubigen, auf der Erfahrung der christlichen Kirche und ihrer ganzen Geschichte; das allein bringt die Lösung für die Rätsel der Völkergeschichte, das wird sich bewähren bis an das Ende der Tage, und die Ewigkeit wird es einst verkünden: Himmel und Erde sind vergangen, aber das Wort unsres Gottes hat sich erfüllt. Das ist das Wort, das jedem am eigenen Herzen und Gewissen als die Wahrheit aus Gott sich bezeugt, indem es ihm das gibt, was das tiefste Suchen und Sehnen seiner Seele zu stillen vermag. Darum alle, die aus der Wahrheit sind, die hören seine Stimme. Tue die Wahrheit, dann kommst du zur Erkenntnis der Wahrheit; dann wird sie dir der selige Besitz deines Herzens und wird dir zu einer festen, unverbrüchlichen Gewissheit, wie der, der am belebenden Strahl der Sonne sich erquickt, nicht zweifeln kann, ob es eine Sonne gibt. Und die heilsame rettende Wahrheit sollten wir gegen die Brandfackel eines Lichtes vertauschen wollen, bei dem das Harz darbt, und in dessen Schein alles trüb und wirr sich darstellt? Es hat einst Platon, jener große, erleuchtete Heide, der in der Nacht des Heidentums die Erkenntnis des einen persönlichen Gottes und Schöpfers des Weltalls verkündet hat, die Welt der Sinne mit einer dunklen, höhlenartigen Wohnung verglichen, deren Insassen von sich und Anderem nichts wahrzunehmen vermögen als die Schatten, die im Scheine. eines hinter ihnen lodernden Feuers auf die Wand fallen. Würde einer von ihnen ans Tageslicht herausgeführt, er würde schmerzlich geblendet wieder nach seiner dunklen Behausung zurückverlangen und überzeugt sein, dass die Schatten, die er dort gesehen, in höherem Grade wirklich und deutlich seien, als was ihm jetzt gezeigt werde. So hat schon der Heide es verkünden müssen: nicht die Welt der Sinne ist die Wahrheit, sondern wie mit einem bösen Zauber geschlagen sind die Menschen an das Sichtbare und Vergängliche gebunden. Wie schwer aber erniedrigen sich die, die inmitten der Christenheit und nach dem Namen Christi genannt doch lieber in der finstern Höhle bleiben, ja die nun gar die Finsternis, in der sie sich absperren, uns als das helle Sonnenlicht und den Schlamm, in dem sie ersticken, als festen Grund und Boden anpreisen, und die die Fabelwelt, in der sie leben, und ihren Aberglauben zum herrschenden Weltsystem erheben möchten!
O arme Christenheit, die bei dem Gnadenlicht,
Das seinen Schein so helle gibt,
Die Finsternis so heftig liebt
Und sieht ihr eigen Heil mit seh'nden Augen nicht!
Aber nur umso lauter und andringender wollen wir es in die Welt hinausrufen und bezeugen: Er ist das Licht der Welt. Kommt zu ihm! Lasst euch versöhnen mit Gott! In Ihm werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Die Botschaft von ihm, das Wort der ewigen, rettenden Liebe, die in ihm uns erschienen ist, das dringt doch mit wunderbarer Gewalt an die Herzen, Das hat doch die Macht, die Gemüter aufzuschließen, auch den versteinertsten Verstand aus seinen Fesseln zu lösen, die Herzen und die Geister zu befreien, aus der Irre und Entfremdung, in der sie Gott und sich selber verloren haben, sie zurückzuführen in Gottes Licht- und Freiheitsleben.
Seht da die Herrlichkeit des göttlichen Wortes! Es leuchtet als das Licht der Wahrheit in der Finsternis dieser Welt. Das ist die Wahrheit, die uns frei macht. Freiheit! das ist die Losung aller Bestrebungen der Gegenwart geworden. Aber das edelste Werk der Befreiung, ohne das kein anderes ein gesundes Gedeihen hat, das ist die stille heilige Arbeit, die Gottes Wort an den Seelen ausrichtet, die heilige Botschaft von dem Heiland der Sünder, der von den Banden der Sünde und des Todes uns erlöst und zu ewigem Glück und ewiger Herrlichkeit uns emporführt. Die der Sohn frei macht, die sind recht frei.
Lasst uns bei der erkannten Wahrheit bleiben. Lasst davon unser eigen Leben immer gründlicher durchleuchtet und dadurch überwunden werden, was an uns von finsterem und gottwidrigem Wesen ist. Ist sie aber uns selbst das Licht unsrer Seelen geworden, dann lasst uns dazu helfen, dass sie es auch andern werde. Lasst uns nicht müde werden, das Licht der heilsamen Wahrheit in der Welt zu verkünden und zu verbreiten. Es ist ein heiliger seliger Dienst, den wir damit an unsern Brüdern tun: die Rettung der Verlorenen, der ewige Dank derer, denen das Wort des Heils die Rettung von Sünde und Verderben geworden ist, das ist der Segen unserer Arbeit. Und es ist Gottes Gnadenwille, den wir damit ausrichten helfen. Unter allem Widerspruch der Welt für uns ist Gott. Denn es ist sein Wille, dass allen geholfen werde, und alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Gott will es. Sein Wort wird siegen und überwinden, und nach aller Verdunkelung, die es zeitweilig erfährt, wird es nur in umso hellerem Lichtglanz leuchten. Himmel und Erde werden vergehen, aber seine Worte vergehen nicht.
II.
Aber das Licht der Wahrheit tritt als ein Leben von oben in die Welt herein. Der das Licht der Seelen ist, der ist auch das Leben der Welt. Er ist es in seinem Wort. Himmel und Erde werden vergehen, aber seine Worte werden nicht vergehen. Also trägt sein Wort ein unvergängliches Leben in sich. Das ist die Herrlichkeit des göttlichen Wortes, dass die Lebenskräfte der Ewigkeit in ihm wohnen und wirken.
Himmel und Erde werden vergehen. Sie sind das immer gleichbleibende in allem Wechsel. Über den wechselvollsten Geschicken, über den sonnigen Höhen irdischen Glücks und allen Tiefen des Jammers, über gebrochenen Herzen, über Leichen und Gräbern, über dem Zusammenbruch von Völkern und Reichen, über den grässlichsten Katastrophen der Himmel wölbt sich in immer gleicher Ruhe und Majestät über der weiten Erde. Und wie auch die Bilder und Gestaltungen menschlichen Lebens wechseln auf Erden, die Erde selber bleibt, sie ist der feste Schauplatz, der alles trägt. Aber auch die Himmel werden veralten und die Erde wird im Feuer vergehen. Wenn dann Gott einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen wird, so wird damit gerade Gottes Wort erst zu seiner völligen Erfüllung gekommen sein. Also steht Gottes Wort fester als die Säulen des Himmels und hat ein Leben in sich, das nicht dieser Welt des Vergehens entstammt, sondern Gottes ewigem Leben.
Himmel und Erde werden vergehen. Das ist die höchste Steigerung für das alte Klagelied der Vergänglichkeit, das durch die Jahrhunderte, durch die Jahrtausende der Menschengeschichte erschallt. Wie ein Traum, so sagen die Stimmen der Völker, wie ein Schatten, so ist das Leben der Menschen, wie der Traum eines Schattens. Und die Schrift antwortet: Alles Fleisch ist wie Gras und alle seine Herrlichkeit wie des Grases Blume, und Himmel und Erde sie werden vergehen.
Sollen wir auf diese Welt der Vergänglichkeit unser Leben bauen? Gott hat dem Menschen die Ewigkeit ins Herz gegeben. Darum wohnt im Menschen ein Sehnen von unendlicher Art, ein inneres Sehnen, das alle Herrlichkeit der Welt nicht zu stillen vermöchte, das dies alles zuletzt als etwas Schales und Äußerliches empfindet. Ein unendlich Verlangen kann nur durch ein unendlich Gut gestillt werden. Das reicht der uns dar, in dem allein wir Leben und volles Genüge finden. In der Versöhnung mit Gott, die er vollbracht hat, in den neumachenden Lebenskräften, die von ihm ausgehen, darin finden wir ein Leben, das die darbende Seele stillt. Meine Seele ist unruhig in mir, bis dass sie ruht in dir.
Das ist es, was sein heiliges Wort in uns hineinwirken will. Denn es hat das, was es verkündet, nicht außer sich, sondern in sich selbst. Darum ist das Wort des Evangeliums eine Kraft Gottes, die da selig macht, eine neumachende Lebenskraft von oben.
Es hat es die Welt zu erfahren bekommen. Wie einst das Christentum in die Welt hereintrat, als der Odem einer neuen Schöpfung ist das Wort des Evangeliums über die Welt gezogen. Es hat eine versinkende Welt zum zweiten Male erhoben; es hat das Wollen und Denken der Menschen mit einem neuen Inhalt erfüllt, es hat der Welt eine neue Gestalt gegeben und den Ordnungen ihres Gemeinlebens eine neue Seele eingehaucht. Durch alle Jahrhunderte hat diese segensvolle Umgestaltung fortgewirkt. Ist etwa die heutige Welt dem entwachsen? Hat sie die Segenskräfte des Evangeliums nicht mehr nötig?
Gewiss es ist ein hohes, edles, aller Begeisterung wertes Streben, das die Gegenwart erfüllt, das Streben, die Menschheit zu wahrer Kultur emporzuführen und das menschliche Leben nach allen Seiten hin zu einer wahrhaft menschenwürdigen Ausgestaltung zu bringen. Und, wir verhehlen es uns nicht, wir berühren damit einen Punkt, in welchem die evangelische Kirche das Maß dessen, was von ihr hätte erwartet werden können, nicht vollständig erfüllt hat. Zwar wir wissen, die christliche Religion ist ja die höchste Kulturmacht der Welt und hat als solche sich reichlich bewiesen. Gleichwohl, mancher Missstand, manche Barbarei hat durch die Jahrhunderte sich fortgeschleppt: nicht die Kirche mit ihrem weitgehenden Einfluss, sondern erst eine humanere Entwicklung des Weltlebens, die neben der Kirche und im Gegensatz zu ihr teilweise sich Bahn gebrochen hat, hat sie beseitigt. Das ist der Weltstellung unserer evangelischen Kirche nicht förderlich geworden; das hat einen Zwiespalt genährt, der noch heute durch das Geistesleben unserer Nation hindurchgeht, und ein Misstrauen, das bis heute noch nicht gehoben ist. Umso mehr wollen wir es uns angelegen sein lassen, den gottgegebenen Inhalt der evangelischen Botschaft auch in wahrhaft menschlichen Formen auszuprägen und die Wahrheit so zu verkünden, dass sie ein menschlich Antlitz zeige. Auf der anderen Seite aber wird es auch niemals gelingen, ein Kulturleben auszubilden, das in sich selbst fertig und abgeschlossen wäre, ohne den tragenden Grund und Halt eines wahrhaft religiösen Lebens. Das wäre der schönste und heiligste Beruf gerade unseres deutschen Volkes, das rechte Verhältnis und den rechten Einklang zu finden und tatsächlich herzustellen zwischen dem Glauben seiner Väter, dem innersten Heiligtum seines Lebens, und dem gereifteren Kulturleben der Gegenwart. Wird nicht diese Aufgabe unsrem Volke aufgenötigt gerade durch die Erfahrungen der Gegenwart? Die denkwürdigste aller Erfahrungen, die die letzten Jahre gebracht haben, ist die religiöse Erfahrung, die die Gegenwart gerade unter dem Versuch gemacht hat, allem religiösen Leben so viel als möglich sich zu entziehen. Ja freilich die christliche Religion war in den Augen vieler eine Größe der Vergangenheit geworden; in öden Kirchenhallen und in den Büchern der Theologen schien sie noch ihr Dasein zu fristen, aber ohne Zukunft und ohne Vermögen, in das lebendige Leben der Gegenwart noch einzugreifen. Da war's ein staunenswerter Anblick, wie die Religion vor den Augen der Zeitgenossen gerade als eine völkerbewegende Macht sich erwies. Wie anders aber will man die einmal entfachte Glut eines düstern religiösen Fanatismus bewältigen als durch das lautere Feuer gesunden evangelischen Lebens? Man hat gemeint, der religiösen Fragen überhoben zu sein; aber nun nehmen gerade Tagesfragen mit einer unentrinnbaren Notwendigkeit die Richtung auf die innersten und höchsten Angelegenheiten des menschlichen Geistes; es sind die Angelegenheiten unsres religiösen Glaubens. Mit Entsetzen aber endlich ward man gewahr, welche infernale Gewalten in den Volksmassen aufbrechen, wenn die religiösen Grundlagen, auf denen ihr Leben sich aufgebaut hat, einmal zerstört sind.
Diese dreifache Erfahrung, was will sie die Gegenwart lehren? Was ist es, was der Gegenwart nottut? Es ist kurz zu sagen: es ist eine neue Besinnung auf die Heiligkeit des christlichen Glaubens und auf die Macht und Bedeutung der Religion für das Leben der Menschen und Völker. Sie bleibt doch immer das Herz im gesamten Geistesleben der Menschheit, der innerste Punkt, von dem aus die Menschheit je und je bewegt worden ist. Aber die Wahrheit aller Religion ist das Wort des Evangeliums. Geht diese Erfahrung an der Gegenwart nicht verloren, nimmt sie dieselbe zu Herzen, dann können die schweren Erschütterungen, die mit derselben verknüpft sind, ein heilsamer Durchgang zu einer besseren Zukunft werden.
Wie sollte aber diese Erfahrung der Gegenwart nicht auch uns zu Hilfe kommen in dem Werke, dem die heutige Feier gilt? Es ist das alte heilige Gotteswort, das wir verbreiten, das heilige Bibelbuch. Hoch über allen Wirren der Gegenwart, weil Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit umspannend, steht das alte Gotteswort. Aber eben darum ist es auch Gottes lebendiges Wort an die Gegenwart. Es ist jedem Zeitalter gewachsen, in ihm quillt ein unendliches Leben, das jeder Zeit darbeut, was gerade ihr für ihre tiefsten und heiligsten Anliegen nottut.
Welchen Wechsel seiner Zustände hat unser Volk durchlebt in den nun bald zwei Jahrtausenden seiner Geschichte, von den frühen Anfängen seiner Geschichte, von der Barbarei des Mittelalters bis auf das gesteigerte Kulturleben der Gegenwart, welche Gegensetze der Bildungsstufen und Zeitanschauungen! Aber die tiefsten, innersten Bedürfnisse des menschlichen Geistes und Herzens, die sind noch heute dieselben wie ehedem, und die Not der Sünde, die ist immer geblieben, und das Verlangen des menschlichen Herzens nach Frieden, nach Leben in Gott, das ist niemals aus der menschlichen Natur auszutilgen; eben darum bleibt Gottes Wort immer frisch und neu, denn das allein zeigt den Weg zu Heil und Leben. Das ist das Wort, das nimmer vergeht. Himmel und Erde werden vergehen, aber seine Worte vergehen nicht.
Welche Geschichte hat das heilige Buch durchlebt! Welcher Kampf der Vernichtung ward in alten Zeiten dawider geführt. Die Macht der ganzen Welt schien verschworen, es zu vertilgen. Aber es ist geblieben und hat weiter und weiter sich verbreitet. Mit welchen Waffen des Geistes hat man es danach bekämpft, in alter und neuer Zeit! Aus den Rüstkammern aller Zeiten hat man die schärfsten Waffen hervorgesucht und neue hinzugefügt, ihr Ansehen zu stürzen, zu vernichten. Es war umsonst. Mancher, der all' seinen Geist und Witz an diese unselige Arbeit gewandt hat, ist daran zerscheitert; aber alle Anläufe der Gegner haben nur dazu gedient, dass der Inhalt des göttlichen Wortes umso voller und herrlicher sich entfalte und umso reichere Lebensströme ihm entquellen. Was predigt die Geschichte der Bibel? sie predigt das Eine: Himmel und Erde werden vergehen, aber seine Worte vergehen nicht.
Wie eng ist das alte Bibelwort mit der ganzen Geschichte unsres deutschen Volkes verwachsen! Andere Völker scheinen nur ein äußerliches Verhältnis zum Christenglauben zu haben, unser Volk ist mit seinem innersten Wesen ursprünglich darauf angelegt. An der Wiege seiner Geschichte ist das Evangelium gestanden und hat ihm seinen Segen mitgegeben auf die Wege, die seiner warten sollten. Nur wie in einem verschlossenen Schrein ward im Mittelalter unserem Volte das Wort des Lebens gezeigt, aber die wenigen Laute, die davon hinausdrangen, welche Glut der Andacht haben sie entzündet und welches Heilsverlangen! Das Verlangen ward gestillt in der Reformation; da ist unserm Volke das Licht des Evangeliums mit einer Kraft und Reinheit aufgegangen, wie man es seit den Tagen der alten Kirche nicht gekannt hat. Das ist ihm nachher tröstend und aufrichtend zur Seite gestanden in Zeiten blutiger Drangsal, unter den Gräuel und Schrecknissen des 30 jährigen Krieges. Als später die wilden Wasser des Unglaubens hereinbrachen, da wars doch dies heilige Buch, mit dem ein Same des Heils unter unserm Volke sich erhalten hat. Wie am Anfang unsres Jahrhunderts unser Volk in harter Schule und unter blutigen Schlägen aus religiöser Schlaffheit und Verkommenheit sich aufrütteln ließ, da ist es aufs Neue zum lauteren Quell des Evangeliums zurückgekehrt und hat daran sein Geistesleben verjüngt. Und in der Gegenwart mit ihren erweiterten Anschauungen und ihrer gereifteren Bildung ist es doch allein Gottes Wort, das dem sehnenden Herzen den Weg zum Frieden zeigt und durch alle Wirren der Zeit uns hindurchzuleuchten vermag.
Was predigt dieser Gang der Dinge unsrem Volke? Er predigt das Eine: haltet das Wort des Evangeliums hoch und teuer! Das ist das heiligste Vermächtnis eurer ganzen Geschichte, das ist das heilige Salz eures Lebens geworden und der höchste Quell eurer geistigen Kraft und Tüchtigkeit.
Welch heiligen Schatz hat gerade unser deutsches Volk an seiner deutschen Bibel! Was ist die Bibel nur für die Bildung und Erziehung der Jugend und des Volksgeistes! Welche Kraft und Ursprünglichkeit des Ausdrucks, welche Macht der Veranschaulichung und Bewegung, welch tiefer Laut des Gemüts! Es hat die alte Kraft der deutschen Sprache dazu gehört, das wiederzugeben und in deutschen Ausdruck umzusehen. Wie wirkt dies alles auf den kindlichen Geist, auf die stille Welt der Ewigkeit, die in der Kindesseele schlummert, auf die ganze Anschauung des Volksgeistes und den Gehalt des Volksgemüts! Als in den 30er Jahren unsres Jahrhunderts der französische Philosoph Cousin an seine Regierung über den Stand des öffentlicher Unterrichts in Deutschland zu berichten hatte, da sprach er mit Bewunderung und mit Wehmut von einem Unterrichtsmittel der deutschen Volksschule, für das es in Frankreich keinen Ersatz gebe. Das war die deutsche Bibel in der Übersetzung Luthers.
Aber was die Bibel als Mittel geistiger Bildung ist, das hängt an dem eigentümlichen Leben, das sie erfüllt. Das ist ein Leben, das nicht von dieser Welt ist, das als eine Kraft Gottes zur Seligkeit die Herzen durchdringt und erneuert. Eben darum wirkt das Wort der Heiligen Schrift mit einer so wunderbar eindringenden und belebenden Macht auf unser Gemüt. Darum wirkt es auf uns als ein Anhauch der Ewigkeit, ein Wiederhall aus einer himmlischen Welt, aus dem Herzen der ewigen Liebe, ein Lebensodem aus Gottes Mund, ein Same göttlichen Lebens. Darum hat dies Wort eine wirksame Gewalt, das Innerste des menschlichen Geistes aufzuschließen. Denn der Laut des ewigen Urlebens selbst, der tönt im tiefsten Innern wieder.
Was hat dies Buch in der Welt schon ausgerichtet! Welch eine wunderbare Segensgeschichte hat oft ein einziges Bibelbuch, das als ein heiliger Berater ein Haus, eine ganze Familie, durch alle wechselvollen Geschicke geleitet hat, das, von den Tränen der alten Mutter befeuchtet, den späten Urenkeln ein Quell des Lichts und Lebens geworden ist! Manchem ward es wie durch Zufall in die Hand gespielt, wie durch Zufall ist mancher auf seinen Wert erst aufmerksam geworden, aber Gottes Hand hat darin gewaltet, und sein Wort ist ihm fortan ein treuer Begleiter durchs Leben geworden. Oft ist es ein einzelner Spruch, ein einzelnes Wort, das plötzlich wie ein Blitz in die Seele einschlägt und sie niederwirft, um auf immer sie aufzurichten, oder auch, das wie Tau des Himmels, wie ein heilender Balsam in das verwundete Herz sich senkt. Wer vermag es zu übersehen, was oft nur eine einzige Bibel wirkt? Könnten wir die Geschichte aller Bibeln überschauen, mit welchem Staunen, mit welcher Anbetung über die wunderbaren Wege der ewigen Weisheit müsste sie uns erfüllen!
Ist das Buchstabendienst? Ja freilich wer mit dem göttlichen Worte nur wie mit einem toten äußerlichen Worte umgeht, der treibt damit Buchstabendienst, ihm ist es ein totes Gut, der Odem des Lebens, der von ihm ausgeht, wird ihm zum Leichengeruch, ein Geruch des Todes, der ihn selber tötet. Aber nicht das will Gottes Wort uns sein, sein Wort ist Geist und Leben und will das in uns selber werden. Es ist Christus selbst, der im Wort uns nahe tritt, er will das Leben unsrer Seele werden. Das ist ein Leben, das das Glück und den Reichtum unsres irdischen Daseins ausmacht, und das in sich selbst die Verbürgung seiner Vollendung trägt. Einst wird es doch noch geschehen, worauf die ganze Geschichte des göttlichen Wortes, der ganze Siegeslauf desselben erst die Weissagung bildet: Himmel und Erde werden vergehen, aber sein Wort wird aufgerichtet werden in Herrlichkeit. Dann werden die Ideale der Menschheit, die misshandelten, verzerrten, missbrauchten, dann werden sie ihre Wahrheit finden; denn die Vollendung der Gemeinschaft der Gläubigen mit Gott wird die Vollendung der Menschheit selber sein. Was kein Auge gesehen, was kein Ohr gehört, was in keines Menschen Herz gekommen, das hat Gott bereitet denen, die ihn lieb haben. Das ist die Hoffnung unsrer Arbeit. Es ist eine Saat für die Ewigkeit, die wir ausstreuen. Lasst uns freudig damit fortfahren. Für uns ist Gottes Verheißung: sein Wort soll nicht leer zurückkommen, es soll ihm gelingen, dazu er es sendet. Darum seid getrost und tut eure Hand nicht ab, denn euer Werk hat seinen Lohn.
Das ist die Herrlichkeit des göttlichen Wortes. Herrlich ist der Himmel und alles sein Heer, herrlich die Erde und was sie füllet; herrlicher ist das Wort unseres Gottes, denn es trägt in sich die Kräfte der zukünftigen Welt. Das leuchtet als das Licht der ewigen Wahrheit in der Finsternis dieser Welt, das erfüllt das darbende Herz mit einer neumachenden Lebenskraft von oben. Das sei das Brot und Manna unsrer Seele und das Licht unseres Lebens auf dem Weg unsrer Wallfahrt. Seiner heiligen Lebensmacht lasst uns vertrauen. Ihm gehört die Zukunft, denn ihm gehört die Ewigkeit. Himmel und Erde werden vergehen, aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit. Amen.