Schick, August Hermann - Die Menschwerdung des Sohnes Gottes - I.
Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und unserm Herrn und Heiland Jesu Christo! Amen.
Text: Evang. Joh. 1, v. 1 u. 14:
„Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Und das Wort ward Fleisch, und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“
So viel sind der Worte unseres Festtextes; der Herr aber lasse denen, die da hören, und dem, der da redet, die Gnadenkräfte seiner heiligen Menschwerdung zufließen! Amen.
In Christo geliebte Zuhörer!
Das Christfest, das Fest der seligsten Freuden für Jung und Alt, für Reich und Arm hat uns heute hier im Hause Gottes vereinigt und will uns überhaupt in diesen Tagen erheben, erbauen, beleben und erneuern. Das Christfest will am Anfange eines jeden Kirchenjahres als das grundlegende Fest mit seinen lieblichen Heilsgedanken und mit seinen weihnachtlichen Gaben uns erfüllen, uns in der seligen Gewissheit bestärken: wir sind Christen, Kinder Gottes und Erlöste Jesu Christi; uns aber auch mahnen an das, was wir als solche zu tun schuldig sind, damit der Weihnachtssegen und die Weihnachtsgnade uns nicht verloren gehe. Und wunderbar, gerade dieses Fest ist so geartet, dass ein Jeder daran teilnimmt, er mag wollen oder nicht. Wunderbar ist es gerade dieses Fest der Christenheit, das alle Hände in Bewegung bringt, alle Gemüter in freudige, süße Stimmung versetzt, das überall zu denken und zu sorgen gibt, als zur Achtsamkeit ermahnen auf das, was da geschehen ist, damit ein Jeder das Heil in Christo finde, das ihm bereitet ist.
Auch der es nicht feiert mit seinem innern Menschen, auch er wird unwillkürlich mit hineingezogen in den Strudel der allgemeinen Freude, muss helfen an der vorbereitenden Arbeit, wird durch tausend kleine Dinge daran erinnert, so dass er bei sich selber spricht: „Es muss doch ein großes Fest sein, dieses Weihnachtsfest.“ Wie Alles läuft und rennt, bestellt und kauft, sinnt und wirkt geheimnisvoll, fragt und forscht, treibt und bittet, bis endlich ein Jedes sein Ziel erreicht hat und der Augenblick da ist, wo das Christkindlein beschert! Seht ihr nicht, geliebte Festgenossen, in dieser mit Ungeduld durchlebten Vorbereitungszeit immer wieder ein Abbild jener Wartezeit, in der man mit Sehnsucht harrte und hoffte auf die Stunde, da das Christkindlein der Menschheit beschert ward? „Ach dass doch heute schon Weihnachten wäre!“ rufen heutzutage während der Adventszeit erwartungsvoll unsere Kinder. „Ach, dass die Hilfe aus Zion käme und der Herr sein gefangen Volk erlöste!“ riefen damals die verheißungsvollen Frommen des alten Bundes. Mit ängstlichem Seufzen verlangte ihre Seele nach dem Lichte und nach dem Frieden der Erlösung.
Aber was ist es denn, das diese allgemeine Gärung von Jahr zu Jahr hervorruft in Stadt und Land und sie durch alle Stände und Lebensalter, durch alle Schichten des Volkes gehen lässt? Was ist es, das den Frommen diese Heilige Lust und Freude gewährt, den Weltlich gesinnten diese mancherlei Aufregungen verursacht, dem Gewerbsmann diese Steigerung seines Geschäftslebens herbeiführt, den Bekümmerten und Betrübten ein freundliches, wenn auch wehmütiges Lächeln entlockt und selbst den mit Gott und mit der Welt Zerfallenen einen stillen Seufzer abringt? Was ist der eigentliche Grund des Weihnachtsfestes? Ist es ein Fest, in dem wir irgendeiner Idee, einem großen Gedanken huldigen? Nein, wir haben es hier mit realen, mit wirklichen Dingen zu tun. Ist es ein Fest, in dem wir irgendeinem Glaubenssatz, wie etwa dem von der heiligen Dreieinigkeit, von der Vergebung der Sünden oder der Rechtfertigung aus dem Glauben oder der Kindschaft bei Gott oder dem ewigen Leben eine besondere Bedeutung beimessen, eine hervorragende Stellung verleihen? Nein, es ist eine geschichtliche Tatsache. Welche? Doch nicht, dass ein Kindlein geboren ward? Nein, denn das pflegt alle Tage und Stunden auf Erden zu geschehen. Oder dass ein Kind unter außergewöhnlichen Umständen, gerade auf der Reise seiner Eltern, in einer als Stall benutzten Höhle geboren ward? Ebenso wenig. In welch merkwürdigen Umständen und armseligen Verhältnissen werden auch jetzt gar oft noch Kinder geboren. Das Alles berührt immer nur die ganz nahe stehenden, die dabei beteiligten Personen, an den Andern aber geht es als völlig unbekannt auch unbemerkt vorüber.
Hier hingegen stehen wir vor einer Tatsache, die eine Umwälzung in der ganzen Menschheit hervorgebracht, die das Judentum aufgehoben hat und die Götzen der Heidenwelt einen nach dem andern zu Boden wirst; vor einer Tatsache, der seit achtzehn Jahrhunderten eine von Jahr zu Jahr zunehmende Zahl von Christen, gegenwärtig an 400 Millionen Menschen, ein Gedenkfest widmet; vor einer Tatsache, die in zahllosen Jubelliedern besungen, in Predigten gefeiert, in Gebeten gerühmt, in der Wissenschaft durchforscht, in der Kunst verherrlicht, mit dem Herzen erwogen, im Glauben ergriffen und von der ganzen gläubigen Christenheit bekannt wird. Wie milder Sternenschein leuchtet diese Weihnachtstat durch alle Finsternis der Erde, wie Wasser des Lebens ergießen sich ihre Ströme erquickend und befruchtend durch die Wüste der Welt. Und was ist diese Tatsache, fragen wir nochmals, die uns im Funkeln des Christbaumes so sinnig und traut entgegentritt, die durch alle die lieben und guten Gaben um den Christbaum her versinnbildlicht wird? Die den Himmel öffnet und Engel vom Himmel auf Erden kommen lässt und die frommen Hirten von ihren Herden weg nach Bethlehem treibt?
Unser Text spricht diese Weihnachtstat in der einfachen Verkündigung aus: das Wort ward Fleisch. Dunkle Worte. Sie wollen erfasst sein. Sie klingen ganz absonderlich. Das Wort, sagt unser Text. Das Wort, das im Anfang war und bei Gott war und Gott selbst war, dieses Wort ward Fleisch. Wer ist dieses Wort? Die einzige Offenbarungsform, in welcher Gott während der ganzen Zeit des alten Bundes mit der Menschheit verkehrte, war das Wort, wenn wir nicht etwa noch die einzelnen vorübergehenden Erscheinungen Gottes hinzunehmen wollen. Ju Gott liegt der göttliche Gedanke, im Worte geht dieser göttliche Gedanke von Gott aus, geht in die Menschheit ein, wird der Menschheit bekannt, wird offenbar. Das Wort ist aber nicht selbst der Sprechende. Wie wir bei den Menschen unterscheiden zwischen dem, der da spricht, und den Worten, die er spricht, so ist auch in Gott ein Unterschied gesetzt zwischen dem, der die göttlichen Gedanken in sich trägt und dem Worte, durch das sie zur Offenbarung kommen. Und wie bei Gott Alles unendlich höher, unendlich lebensvoller ist als bei der geschaffenen Kreatur, so ist dieses Sprechen Gottes nicht ein bloßer Schall, der aus dem Munde Gottes geht, sondern dieses Sprechen vermittelt sich durch eine besondere Person in Gott, die wir den Sohn Gottes nennen. Der Apostel St. Johannes nennt den Vater, von dem das Wort ausgeht, schlechthin Gott. Das Wort war bei Gott. Er sagt aber auch von dem Worte, welches ausgeht, dass es Gott sei. Gott war das Wort. Da nun aber Ein Gott nur ist, und doch dieses Wort, welches bei Gott ist, auch Gott ist, so folgt daraus mit Notwendigkeit die Annahme eines Unterschiedes zweier Personen in dem einen göttlichen Wesen, nämlich des Vaters und des Sohnes. Der, bei dem das Wort, von Ewigkeit her war, ist Gott der Vater; der, der als das Wort auch Gott ist, ist Gott der Sohn.
Dieser Sohn Gottes hat die Offenbarung Gottes in der Schöpfung vollzogen als allmächtiges „Werde“; darum heißt es im 3. Verse unseres Textkapitels: „Alle Dinge sind durch das Wort gemacht, und ohne dasselbige ist nichts gemacht, was gemacht ist.“ Dieser Sohn Gottes hat die Offenbarung Gottes in den Propheten vollzogen als die erleuchtende Kraft zur Weissagung; darum heißt es im 4. Verse: „Im Wort war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen“; und im 9. Verse: „Das Wort war das wahrhaftige Licht, das alle Menschen erleuchtet.“ Dieser Sohn Gottes nahm auch vorübergehend menschliche Gestalt an, redete mit unsern Stammeltern und kehrte bei Abraham ein. Aber mit dem Allen war die Weihnachtstat nur vorbereitet und angebahnt. Als die Zeit erfüllt war, da ward dieses Wort Fleisch. Dieser Sohn Gottes, der sich von Anfang an zum Offenbarer Gottes, zum Mittler zwischen Gott und der Menschheit freiwillig hergegeben hatte, der geht jetzt vollständig in die Menschheit ein, nimmt die volle, ganze Menschennatur an - und zwar nimmt er sie nicht so an, wie sie ursprünglich und vor dem Falle war, nicht in ihrer ursprünglichen Güte, Reinheit und Gesundheit, sondern wie sie in Folge der Sünde geworden ist, schwach und sterblich. Er ist in die Gemeinschaft unserer Sünden und Leiden eingegangen. Deshalb sagt ausdrücklich unser Text nicht: er ward Mensch, sondern: er ward Fleisch. Mit dem Worte Fleisch bezeichnet die Heilige Schrift unsere herabgekommene, den Krankheiten ausgesetzte, der Macht des Todes verfallene, den Einflüssen des Teufels zugängliche, der Erlösung bedürftige Natur. Er hat die uns jetzt Allen gemeinsame Art zur seinigen gemacht und ist so unser Blutsverwandter geworden.
Er, unser Heil und höchstes Gut,
Der Alle segnen kann,
Nimmt wie die Kinder Fleisch und Blut,
Doch ohne Sünde an.
Des sollt ihr billig fröhlich sein,
Dass Gott mit euch ist worden ein;
Er ist gebor'n eu'r Fleisch und Blut,
Eu'r Bruder ist das ewige Gut.
Wie kann das geschehen? Wie ist das möglich? Der Mensch ist verwandt mit Gott, ist nach Gottes Ebenbild geschaffen, ist eine mit freien Willen, Vernunft und Gewissen begabte Persönlichkeit. Wir sind göttlichen Geschlechts. Wir sind dazu geschaffen, schon hienieden in der innigsten Gemeinschaft mit Gott zu leben und sollen noch zu einer viel höheren Stufe derselben gelangen. Somit kann wohl Gott die menschliche Natur annehmen, und zwar auch dem Leibe nach; denn der Leib ist allezeit dem Geiste unterwürfig und dienstbar und nur ein Mittel für die Wirksamkeit und Tätigkeit des Geistes. Wäre der Mensch nicht nachdem Bilde Gottes geschaffen, nicht zu einer solchen Vereinigung mit Gott von vornherein schon angelegt, so wäre die Menschwerdung Gottes freilich unmöglich.
Fragt ihr mich aber: wie und warum ist Gott Mensch geworden? so will ich, wills Gott, morgen darauf Antwort geben. Viele feiern Weihnachten wie die Träumenden, sie leben dahin in einem Helldunkel; sie rechnen sich nicht zu den Ungläubigen, haben aber auch niemals ein volles, lebendiges Bewusstsein ihres Glaubens. Darum suche ich das Geheimnis der Weihnachtstat an diesen beiden Festtagen euch vorzuführen. Prüft an diesem Erstlingswunder des Christentums euren Glauben! Das Wort ward Fleisch, Gott ward Mensch. Wir beten an die Größe seiner Liebe, wir bewundern die Gnade seiner Herablassung und wir glauben auch was wir nicht verstehen.
Und Du, Herr Jesus Christus, menschgewordener Sohn Gottes, lass uns durch deine Gnade und Wahrheit im Glauben an Dich gestärkt werden, damit wir eine beständige Hoffnung zu dir haben, bis wir einst deinem Bilde gleich sein werden! Amen.