Blumhardt, Christian Gottlieb - Lazarus, der Kranke, Sterbende und Auferweckte - Weise Benutzung der gesunden Tage
Die beste Vorbereitung auf das Krankens und Sterbe-Bette.
Joh. 11, 7-10.
„Danach spricht Jesus zu seinen Jüngern: „Lasst uns wieder in Judäam ziehen. Seine Jünger sprachen zu Ihm: Meister! jenes Mal wollten die Juden Dich steinigen, und Du willst wieder dahin ziehen? Jesus antwortete: Sind nicht des Tages zwölf Stunden? Wer des Tages wandelt, stößt sich nicht; denn er sieht das Licht dieser Welt. Wer aber des Nachts wandelt, der stößt sich; denn es ist kein Licht in ihm.“
1.
Die Weltgeschichte erzählt von Philipp, König von Mazedonien, dass auf seinen Befehl jeden Morgen einer seiner Kammer-Bedienten vor die Türe seines Zimmers kommen, und mit lauter Stimme rufen musste: „Philipp! denke daran, dass du sterblich bist!“- Gewiss eine Verordnung, die dem Herzen dieses heidnischen Fürsten Ehre macht. Wie Mancher, der den Christen-Namen trägt, muss beschämt gestehen: Dieser Heide war weiser, als ich bin!“ - Tausende irren auf den Wegen der Torheit durch das kurze Erdenleben hin; gleich als ob sie in demselben nichts zu tun hätten, und seine Grenzen nach ihrer Willkür ins Unendliche erweitert werden könnten. In geschäftsloser Unruhe geht ungenützt ein Tag nach dem andern an ihnen vorüber; sie ringen und jagen nach täuschenden Schatten, die vor ihnen fliehen; träumen und verträumen die köstlichen Stunden der hinwegeilenden Lebenszeit, ohne zu einem ernsten Bewusstsein ihrer großen Bestimmung für eine grenzenlose Ewigkeit zu erwachen. Unversehens ist das Ende ihres Lebens herbeigerückt; bewusstlos fallen sie aufs Krankenlager nieder, und erwarten unter bangen Angstschlägen des Gewissens den Tod, dem sie sich verzweiflungsvoll in die Arme stürzen. Ist dies nicht die Trauer Geschichte so mancher Sterblichen, welche durch Torheiten und Sünden ihre gesunden Tage verwüstet, und sich eben dadurch auf dem Kranken- und Sterbebette den bitteren Vorschmack des ewigen Verderbens zubereitet haben? Ist denn unser Erdenleben nicht kurz genug, dass wir durch leichtsinnigen Missbrauch desselben seine flüchtigen Tage verschwenderisch vergeuden, und seine kostbaren Stunden morden? Hat es denn der ernsthaften Zwecke nicht genug, dass wir genötigt zu sein glauben, durch tändelnde Zeitvertreibe und eitle Belustigungen seinen langsamen Schritt beflügeln zu müssen, um uns vor Langerweile zu sichern? Oder sind wir etwa bloß dazu geboren, um mit der täuschenden Luft des Herzens zu scherzen, und im Sinnentaumel den letzten Lebensfunken zu verspielen? Wehe dem bejammernswürdigen Toren, der in dem gegenwärtigen Leben keine ernsthaftere Bestimmung sieht! - Einst wird er an den Ufern der Ewigkeit zu einem furchtbaren Bewusstsein erwachen, wenn in der kurzen Erdenzeit sein verblendetes Auge nicht mehr geöffnet wird. Weil er das heitere Licht des Tages flieht, um in dicker Nacht den finstern Pfad des Verderbens desto ungestörter wandeln zu können, so wird er sich stoßen, und o Gott! - in welche Abgründe ewiger Finsternis ohne Rettung hinabstürzen!
„Herr! lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden!“- So betete einst Moses, der Knecht Gottes, für sich und sein Volk; (Ps. 90, 12) und der Weise betet es ihm täglich mit aufrichtiger Erhebung des Herzens zu Gott nach. Er kennt die Kürze und die unaufhaltsame Flüchtigkeit der Lebenszeit, und weiß ihren bedeutungsvollen Wert und ihren fruchtbaren Einfluss auf die Ewigkeit hochzuschätzen. Seine gesunden Tage sind ihm ein erwünschtes Vorbereitungs-Mittel, um ruhig leiden und getrost sterben zu können. „Ich muss wirken - sagt er mit seinem göttlichen Meister - so lange es Tag ist; weil eine Nacht kommt, da Niemand wirken kann.“ Diesen schönen Sinn himmlischer Weisheit drückt Jesus auch in den Worten aus, deren nähere Betrachtung wir jetzt vor uns haben. Sie lehren uns: Unsere gesunden Tage als Vorbereitung auf das Kranken- und Sterbebette weise anzuwenden.
Meine Lebenszeit verstreicht,
Stündlich eil' ich zu dem Grabe,
Und wie wenig ist's vielleicht,
Das ich noch zu leben habe?
Denk', o Mensch! an deinen Tod!
Säume nicht, denn Eins ist Not.
2.
Eine ununterbrochene Kette der segensreichsten Wirksamkeit für das Wohl des armen Menschengeschlechts stellt uns die Geschichte des öffentlichen Lebens Jesu Christi auf. Jede Stufe desselben ist mit den schönsten Taten der zuvorkommenden Liebe bezeichnet. Wo man in dieser merkwürdigsten Lebensgeschichte hinblickt, sieht man allenthalben den sprechenden Beweis von der Wahrheit, die sein heiliger Mund aussprach: Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen des, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk. (Joh. 4, 34.) Die Verherrlichung seines Vaters und die Rettung des verlorenen Sündergeschlechts war der große Gesichtspunkt, der seine heilige Seele zu den größten Taten der Liebe anflammte, und seine ganze höchstwohltätige Wirksamkeit ausfüllte. Von seinem ersten öffentlichen Auftritt an, bis zu dem Augenblick hin, wo Er mit sterbenden Lippen und triumphierendem Herzen das große Wort am Kreuze ausrief: Es ist vollbracht! - Welch ein Schauplatz der reinsten, edelsten, tätigsten Liebe! Nur das, was die Evangelisten von den drei letzten Lebensjahren Jesu erzählen, ist so reich an Taten des göttlichsten Wohlwollens, dass das längste Menschen-Alter des kraftreichsten und tätigsten Menschen nichts Ähnliches aufzustellen weiß. Und doch haben uns die Heiligen Geschichtsschreiber des Lebens Jesu nicht die Hälfte seiner wundervollen und großmütigen Wundertaten erzählt. Sein Schüler Johannes, der treue Gefährte der drei letzten Lebensjahre Jesu, wüsste noch so viel Anderes, das Jesus getan hat, zu erzählen, dass die Welt die Bücher, welche noch davon vollgeschrieben werden könnten, nicht fassen würde. (Joh. 21, 25.) So weise wusste Jesus Christus die kurze Zeit seines Erdenlebens anzuwenden. Keine seiner sparsamen Stunden durfte ungenützt vorüberfliehen; sie ward mit den edelsten Taten der segensreichsten Liebe bezeichnet. Der Tag war der Offenbarung und Mitteilung des Willens seines Vaters und den göttlichen Wundertaten geheiligt; die Nacht ward zum stillen und verborgenen Gebets Umgang mit seinem Vater bestimmt. Jedermann hatte offenen freien Zutritt zu Ihm. Wer ein geistliches oder leibliches Anliegen mit sich brachte, durfte ohne Schüchternheit und Rückhalt seine Ansprüche an die göttliche Weisheit und die unermüdet tätige Wunders Liebe Jesu geltend machen. Wen der Vater Ihm zusandte, der war Ihm willkommen; auch am späten Abend des geschäftsvollsten ermüdendsten Tages fand er ein offenes Ohr und ein hilfsbegieriges Herz in Jesu. Sprecht, ihr Tausende, die ihr Worte der himmlischen Weisheit aus seinem heiligen Munde hörtet, und die ihr nie ungetröstet von Ihm hinweggehen durftet; und ihr Kranke, Elende, Hilfsbedürftige, Hungrige, Bekümmerte, sprecht: Wo habt ihr Ihn je geschäftlos gesehen? welche Stunde seines Lebens ging ungenützt vorüber? Wen von euch hat Er ohne Rat und Trost und Hilfe von sich abgewiesen, weil Er jetzt dem Vergnügen sich hingeben, und einen spielenden Zeitvertreib für sich haben wollte? Ihr wisst keine solche Stunde seines Lebens zu nennen; vielmehr seid ihr Alle Zeugen, dass sein ganzes Leben von seinem ersten Anfang an bis an sein Ende eine grenzenlose Reihe der edelsten Taten und Leiden der Liebe war.
So kostbar war Jesu seine Erdenzeit. Und je näher es seinem Lebens-Ende zuging, desto sorgfältiger wucherte Er mit jedem Augenblick; desto herrlicher und größer wurden die Taten seiner Gottes-Liebe.
3.
„Lasst uns wieder in Judäam ziehen,“ sagt Er zu seinen Jüngern. Noch war die größte und auffallendste seiner Wundertaten zu verrichten, ehe Er sein letztes Leiden antrat. Sein Freund Lazarus soll aus dem Tode und der Verwesung ins Leben zurückgerufen werden. Darum eilt Er nun, den gestorbenen Liebling der Todesgruft und die tieftrauernden Schwestern der finstern Schwermut zu entreißen, und den Abend seines Lebens mit einer Wundertat zu bezeichnen, dergleichen die Welt nichts Ähnliches gesehen hat.
Nützt du auch deine gesunden Lebenstage also, Leidender! wie sie dein Erlöser Jesus Christus genützt hat? - Blicke rückwärts auf so manche verflossene Stunde der kraftvollen Jugend und des reiferen Alters, und frage dich, ob sie unter den Gewinn oder den Verlust deines Lebens zu rechnen sei? Hast du etwas in sie gelegt, das dich nie gereut, und das auch jenseits des Grabes noch für die Ewigkeit Früchte trägt? Was hast du zu deinem Trost und zu deiner Beruhigung auf das Kranken- und Sterbelager in deinen gesunden Tagen dir eingesammelt? Welche Anwendung deiner Lebenszeit freut dich nun am meisten? Etwa die scherzenden Zeitvertreibe, die bloß sinnlichen Belustigungen, die unnützen Unterhaltungen in der Gesellschaft, die angestrengten Umtriebe des Eigennutzes? Oder diejenige Zeit, welche du der Verherrlichung deines Gottes und Erlösers und dem Heil deiner unsterblichen Seele widmetest?
Du benutztest zwar vielleicht die gefunden Tage deines Lebens zu fleißiger Arbeit in deinem Beruf, in deiner Haushaltung, in deinem sonstigen Wirkungskreise; aber welches war die Haupt-Triebfeder, die dich in deinen Geschäften leitete? War es bloß Eigennutz und Gewinn sucht, eitle Begierde nach Ehre und Ansehen, die dich in Bewegung setzte; oder war es Liebe zu Gott, zu deinem Erlöser, und zu deinen Mitmenschen? - Handeltest du in dem Geist und Sinn, in dem Jesus Christus gehandelt hat? Ihn begleitete die reinste, edelste, großmütigste Liebe gegen die Menschen, und die tiefste Ehrfurcht gegen seinen Vater zu allen seinen Verrichtungen. War deine zeitliche oder deine ewige Wohlfahrt das Haupt-Augenmerk aller deiner Handlungen? Gewiss wichtige Fragen, welche der ernsthaftesten Prüfung wert sind. Von allem deinem Fleiß bleibt dir auf deinem Kranken- und Sterbelager nichts übrig, als das, was du zur Ehre Gottes und Jesu und zum Heil deiner Seele und der Seelen deiner Mitbrüder aus Liebe getan hast. Nur dieser Stunden kannst und darfst du dich von Herzen freuen, und von ihrer Aussaat ewige Früchte hoffen. All' dein übriges Tun, so ausgebreitet und glänzend es in den Augen der Menschen auch sein mag, gehört unter deine Sündenschulden, für die du Vergebung bedarfst, wenn bloß zeitlicher Eigennutz, törichte derselben waren. Es ist eine Fleisches- Aussaat, die Verderben bringt. Möchte dir in deinen gesunden Tas gen dieses Haupt Augenmerk deines Lebens stets zur Seite gehen, damit du auf dem Krankenbette deiner verflossenen Stunden dich freuen, und im Vertrauen auf die Gnade Jesu getrost glauben darfst, nicht vergeblich gelebt zu haben.
4.
Niemals ließ sich Jesus Christus durch bange Leidens-Besorgnisse und Furcht vor Gefahr von den Dienstleistungen der Liebe zurückschrecken. Was seinen Vater verherrlichte, das musste getan sein, wenn Er sich auch einem gewissen Ungemach, ja selbst dem Tode dadurch aussetzte. Diese großmütige Gesinnung hatten seine Jünger Ihm damals noch nicht abgelernt. Sie wissen, dass sein Freund Lazarus gefährlich krank lag, und doch wollen sie den besten Arzt zurückhalten, nach Bethanien zu gehen, aus Furcht, Er und sie möchten in Judäa in die Hände ihrer Feinde geraten. Aber diese Besorgnis hält den hilfreichen Jesus keinen Augenblick zurück; Er will im Dienst der Liebe sein Leben aufopfern. Strebst du auch nach diesem göttlichen Sinn? Schüler Jesu! Macht dir's Freude, um des Guten willen Etwas zu leiden, und mit Jesu seine selige Schmach zu teilen? Oder trittst du furchtsam zurück, wenn es in der Nachfolge Jesu und im Dienst der Liebe Etwas zu dulden gibt? Tue es nicht; diese Torheit würde dir sonst bittere Reue bringen. Ist es nicht schändlich gedacht, sich des besten HErrn zu schämen, und aus Furcht vor Leiden und Gefahr Ihm ungetreu zu werden? Hat Er nicht vielmehr die höchste Ursache, sich deiner zu schämen vor seinem Vater und seinen heiligen Engeln? Aber das hat Er nie getan; das will Er auch jetzt nicht tun. Wenn Leidensscheue und Todesfurcht den göttlichen Meister zurückgehalten hätten, nach Judäa zu ziehen; wer hätte dir helfen und deine Erlösung zu Stande bringen können? - Schäme dich dessen, was im Tode dich gereuen muss; aber des HErrn und seines beseligenden Dienstes brauchst du dich niemals zu schämen, denn Er bleibt der einzige Trost und das köstlichste Labsal auf dem Kranken- und Sterbebette. Darum werde weise, und strebe allein nach dem, was zu deinem ewigen Frieden dient.
5.
Kurz war das Erdenleben Jesu; wie bald flossen seine vom Vater bestimmten zwölf Stunden hin. In der Blüte seines Alters stand Er schon am Abend des Lebens. Aber nicht nach der Zahl der Jahre, sondern nach der treuen Gott wohlgefälligen Benutzung derselben hast du die wahre Dauer seines und deines Lebens abzumessen. Nur der hat lange gelebt, welcher gut gelebt hat. Jeder Mensch hat seine zwölf Stunden, sein Tagewerk, das ihm Gott zu vollenden aufgetragen hat. Aber die Länge dieser Stunden sind Keinem bekannt; nur der Vater kennt sie. Darum wirke, so lang es Tag ist; denn es kommt eine Nacht, wo Niemand wirken kann. Benutze die Tagesstunden deiner gesunden Tage, um in deinem Tagewerk nicht zurückzubleiben, und von dem Tode überrascht zu werden, noch ehe du dasselbe vollendet hast. Was willst du das Gute, das du heute tun kannst und sollst, auf den morgenden Tag verschieben? Weißt du denn, ob dieser noch zu deinen zwölf Lebensstunden gehört? Vielleicht stehst du in diesem Augenblick bereits am Abend derselbigen, und kannst morgen nichts mehr tun. Darum lass dir dein Tagewerk so ernstlich angelegen sein, wie es Jesu, deinem HErrn, angelegen war. Auf die kommende Nacht wollte Er nichts aufschieben, denn Er wusste, dass sich in dieser auf dieser Erde nichts mehr auf diese Weise tun lässt. Darum war Er treu und emsig, sein Tagewerk vor dem Einbruch der Nacht zu vollenden. Sei auch du getreu bis an den Tod, so wird dir Jesus Christus die Krone des Lebens geben. Du darfst dich darüber nicht ängstigen, wenn dein Lebens - Abend bälder, als bei vielen Andern herbeirückt. Auch in Jesu Leben waren die Tagesstunden kurz. Wie lang oder wie kurz sie bei dir sein sollen, das kannst du seiner Weisheit und Liebe ruhig überlassen. Aber dafür hast du zu sorgen, dass du dein von Gott dir aufgegebenes Tages werk nicht versäumest, und der Tod dich nicht unbereitet finde. Zur treuen und Gott wohlgefälligen Vollendung desselben hast du keine Stunde zu viel; darum verschwende sie nicht, und halte jede derselben gewissenhaft zu Rat. Du hast aber auch hierzu keine zu wenig; darum sei unbesorgt, wenn deine zwölfte Stunde früher schlägt, als du vermutetest.
6.
Sollst du ohne gefährlichen Anstoß auf deinem schmalen Lebenspfade wandeln können, und das schöne Ziel deiner himmlischen Berufung in Christo Jesu glücklich erreichen, so musst du Licht haben. Nur wer des Tages wandelt, der stößt sich nicht, denn er sieht das Licht dieser Welt. Jesus Christus ist das Licht der Welt; Er selbst gibt sich diesen großen Namen, (Joh. 3, 19. 8, 12.) und was Er von sich sagt, das ist ewige Wahrheit. Wer Ihm nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis. Um demnach in dieser finstern Welt voll Sünde nicht anzustoßen und gefährlich zu fallen, muss das Herz Ihn haben und von seinem Licht erleuchtet sein. Alles außer Ihm ist Finsternis, so laut es sich auch unter der täuschenden Maske der Aufklärung als ein neues Licht ankündigen mag. In dem von Natur verfinsterten Verstand und Herzen des Menschen kann und will Er sein himmlisches Licht anzünden, und die Todes-Finsternis der Sünde vertreiben. Nach diesem Licht der Wahrheit hast du vor allem Andern zu fragen, wenn du im Leben und im Tode nicht irre gehen willst. Ohne dieses Licht irrst du in der öden Wildnis des Lebens pfadlos umher, jagst nach blendenden Schatten, und wirst jämmerlich betrogen. Traue diesen täuschenden Irrwischen nicht; siehe dich nach der rechten Lebenssonne um, die deinen dunklen Pfad beleuchtet und dein Inneres erwärmt. Wohl dir, wenn du dieses Licht gefunden hast, Leidender! Unter seinem wohltuenden Einfluss kann es nie ganz finster in deiner Seele werden. Du darfst niemals fürchten, dich zu stoßen, und im Abgrund der Trübsale zu versinken, wenn Jesus Christus bei dir ist, und dir zur Seite wandelt. In seiner Gemeinschaft lässt sich's auch unter dem schwersten Ungemach getrost ausharren, und im härtesten Kampfe siegen. Siehe du nur immer auf den Lichtstrahl, der von oben kommt; und verzage nicht, wenn eine düstere Wolke seine erfreuende Klarheit deinem suchenden Blicke verbirgt. Die Wolke eilt vorüber, und der trübe Himmel heitert sich wieder auf. Freue dich dieses Lichts, und wandle mutig bei demselben Schritt für Schritt weiter. Benutze es, so gut du kannst; und du wirst mit jedem Tage seine erheiternden Strahlen besser kennen lernen und froher genießen. Ein Kind des Lichts soll stündlich reiner, lebendiger, duldender, liebender werden.
7.
Trauriger Gedanke, dass so viele Menschen die Finsternis mehr lieben, denn das Licht. Aber wundern darf es uns nicht, denn ihr Tun ist böse. Ihre Werke darf das Tageslicht nicht anblicken. Jeder Lichtstrahl der himmlischen Wahrheit jagt sie tiefer in die Finsternis der Sünde hinein. Wer möchte doch gerne unter die Zahl dieser Nachtwandler gehören, die sich stoßen weil sie dem Licht den Rücken bieten. Sie fliehen vor ihrem besten Freund, der sie gern im Leben und im Tode glücklich machen möchte. Warum fliehet ihr denn vor seinem erheiternden Lichte? Unglückliche! Warum schließt ihr gewaltsam eure Augen zu, wenn ein erleuchtender Strahl in dieselben fallen will? Gewiss - ihr kennt die Seligkeiten noch nicht, die euch Jesus gern mitteilen möchte; euch ist das himmlische Leben noch fremd, das sein Geist im Herzen erweckt; sonst würdet ihr stille stehen, die Augen öffnen, und das Licht der ewigen Wahrheit in euer Herz aufnehmen. Soll denn der größte Gewinn des Menschenlebens für euch verloren gehen? Wollt ihr in der Finsternis leben, und in der Finsternis sterben, um ein Raub der ewigen Finsternis zu werden? Das könnt ihr nicht wollen, wenn ihr weise seid. O der unglückseligen Kranken, die dieses heitere Licht entbehren müssen, weil sie es in gesunden Tagen mutwillig verschmäht haben! Was kann sie unter den folternden Körperschmerzen beim Anblick des stündlich näher kommenden Todes trösten und beruhigen? Ihre genossenen Weltfreuden? Diese sind verschwunden, und haben nichts als bittere Rückerinnerungen zurückgelassen. Ihre scherzhaften Zeitvertreibe? Diese lohnen mit Gewissens-Angst und Herzens-Unruhe. Ihre eigennützigen und ehrgeizigen Anstrengungen? Die Frucht dieser Arbeit ist Elend und Verderben. Wo ist das Licht, das ihnen jetzt den dunkeln Pfad der Leiden und des Todes beleuchtet? Vergeblich suchen sie es, denn aus Sündenliebe haben sie immer nur des Nachts gewandelt, und das Licht, das sie erleuchten wollte, von sich gestoßen. Bejammernswürdige Unglückliche! ihr leidet zehnfach, denn ihr leidet in der Finsternis. Ihr könnt euch vielleicht noch auf einem aus dem Schiffbruch euers Lebens an das Licht der Ewigkeit hinüber retten, wenn ihr die kostbaren Augenblicke euers Kranken- und Sterbebettes ernstlich benutzt, im Glauben des Verdienstes Jesu teilhaftig zu werden. Noch hat eure letzte Lebensstunde nicht geschlagen, die euch in einen Zustand hinüber führt, in dem ihr Buße, Glauben und Seligkeit vergeblich suchen werdet. Wie? wolltet ihr die letzten kostbaren Augenblicke des Abends euers Lebens gleichfalls verträumen, weil Ihr bereits die schönen Tagesstunden verträumt habt? Das könnt ihr nicht wollen, wenn ihr es gut mit euch selbst meint. Also hinweg mit der törichten Sicherheit der Seele, hinweg mit jeder eitlen Selbsttäuschung! Nur Jesus Christus kann euern großen Schaden noch heilen, und euer verwundetes Gewissen trösten. Fliehet mit reumütiger Seele zu Ihm, denn bei Ihm ist viele Vergebung; seid aufrichtig gegen Ihn und gegen euch selbst, und verhehlet Ihm eure Wunden und Beulen nicht. Auch ihr sollt Schächers-Gnade bei Ihm finden, wenn Er ein reuendes Schächer-Herz in euch findet.
8.
Es kommt die Nacht, da Niemand wirken kann. So dachte Jesus Christus, und fand darin einen mächtigen Beweggrund, mit jeder Tagesstunde weise zu wuchern, und dieselbe zum Besten seiner tiefgefallenen Mitbrüder auszukaufen. Dächten wir, wie Er, wie bald müsste der Leichtsinn und die Lebens-Sicherheit aus unserer Seele weichen. Lebt nicht Mancher, wie wenn sein Leben hienieden ewig dauern würde? Seine Gleichgültigkeit gegen die Religion, die Vernachlässigung seiner Berufspflichten, die Unordnung in seiner Haushaltung, das rastlose Jagen nach Erden-Vergnügungen, das ängstliche Aufhäufen der vergänglichen Güter dieser Welt - sind nicht dieses alles traurige Zeugen einer unbesonnenen und gefährlichen Sicherheit, welche der mit jedem Tage näher herbeirückenden Nacht vergisst, und das Eine Notwendige des Lebens nicht achtet. Sind uns denn die uns von allen Seiten umgebenden Erinnerungen an den Tod so fremde geworden? Sollen wir denn nie aus dem betäubenden Traume des Leichtsinns erwachen, und einmal mit einem nüchternen Blick bei uns selbst einkehren? Einmal werden wir doch aus den eitlen und törichten Welt-Zerstreuungen in unser inneres Selbst zurückgewiesen werden, und dann vergeblich neue Versuche wagen, uns selbst zu fliehen, und unsern Seelen-Zustand zu vergessen. Wohl dem, der zu guter Zeit dieses Meisterstück himmlischer Weisheit lernt, sich im Ernste zu fragen: Wer bin ich, und was soll ich werden? Wohl dem, dem auch die bitterste Wahrheit seiner Selbstprüfung lieber ist, als die süßeste Selbsttäuschung! Er wird zur wahren Nüchternheit der Seele gelangen, und sich manchen bitteren Schmerz auf seinem Kranken- und Sterbebette ersparen. Zu dieser Weisheit will Jesus Christus seine Schüler hinführen. Sie ist der Grundstein unsers Glücks und einer bleibenden Seelenruhe.
Wie sicher lebt der Mensch, der Staub,
Sein Leben ist ein fallend Laub;
Und dennoch schmeichelt er sich gern,
Der Tag des Todes sei noch fern.
Der Jüngling hofft des Greises Ziel,
Der Mann noch seiner Jahre viel,
Der Greis zu vielen noch ein Jahr,
Und Keiner nimmt den Irrtum wahr.
Sprich nicht: Ich denk' in Glück und Not
Im Herzen oft an meinen Tod.
Der, den der Tod nicht weiser macht,
Hat nie mit Ernst an ihn gedacht.
Wir leben hier zur Ewigkeit,
Zu tun, was uns der HErr gebeut;
und unsers Lebens kleinster Teil
Ist eine Frist zu unserm Heil.