Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Warum es der Herr uns zuweilen verbirgt und so zu sagen nicht wissen lässt, dass er unser Ziel und unsre Seligkeit ist. Von dem großen geistigen Hunger der Menschen. Bei drohenden Landplagen die Dinge allzu menschlich anzusehen, ist schädlich.
Sehr werte und herzlich geliebte Schwester!
Die innige Neigung zur Einsamkeit und Stille scheint mir nur verliehen zu sein, um mir das Gegenteil beschwerlicher zu machen; doch vielleicht auch, um mich zu bewahren durch dieses Gegengewicht, dass ich mich nicht zu viel einlasse oder zu großen Anteil nehme an der äußern Tätigkeit. Leben wir nur dem Herrn, dann ist an unserm Zufrieden- oder Unzufriedensein, unserm Wohl oder Übel nichts gelegen; denn er ist unser Ziel und darum unsre Seligkeit, und nicht wir selbst. Es würde bei allen Mühseligkeiten dieses Lebens ein übergroßer Trost sein, wenn die Seele dies immer wüsste; aber da dieses Wissen leicht die Eigenliebe nähren und uns in uns selbst befangen halten könnte, so gefällt es dem Herrn, uns oft durch ein gläubiges Nichtwissen zu führen. Und ach! wie sicher und schnell würden wir wandeln, wenn wir uns nur ohne umzusehen in diesem gläubigen Nichtwissen unserm göttlichen Führer überließen!
Überall ist großer Hunger unter den Menschen, und doch gibt ihnen Niemand Speise. Die gewöhnliche Nahrung, welche ihnen gereicht wird, genügt nicht mehr. Wer die Gnade hat zu beten, der mag wohl den Herrn der Ernte bitten, dass er Arbeiter in seine Ernte sende. Verbinde ich die Stimmung von innen mit dem von allen Seiten einbrechenden Urteile Gottes von außen, dann muss ich daraus schließen, dass die letzten großen Veränderungen vor der Türe stehen, mit denen der Herr seine Tenne fegen und den Weizen in seine Scheune sammeln, aber die Spreu mit ewigem Feuer verbrennen wird (Matth. 3, 12.). O ja, er wird seinen Weizen gut verwahren, und wenn er auch im Siebe mit der Spreu etwas umhergestoßen und geworfen wird, so geschieht dies bloß, um ihn von der Spreu zu reinigen und dann zu sammeln. Ich bezweifle nicht, dass der Herr auf die Seinigen acht hat. Er bewahre sie nur vor der schädlichen ungläubigen Beunruhigung, vor allzu großer Furcht und vor dem zu menschlichen Betrachten und Besprechen der Dinge; denn dieses zerstreut nur die Guten und macht sie dadurch schwach. Beten und sich von Allem los reißen, was die Feinde nehmen können, wird die beste Verteidigung sein. Unser Gott ist der Herr der Heerschaaren, unter dessen Oberbefehl alle Feldlager und Könige stehen. Und dieser unser Gott wird gewiss seinen Zweck und sein Ziel erreichen, sei es durch diesen oder jenen Menschen oder auf diesem oder jenem Wege, darauf können wir uns sicher bei ihm verlassen. Lese den ganzen 40. Psalm.
Ich bleibe durch die Gnade
Dein in dem Herrn verbundener liebender, doch schwacher Bruder.
Mülheim, den 3. Oktober 1747.