Blumhardt, Christian Gottlieb - Lazarus, der Kranke, Sterbende und Auferweckte - Der Tod des Christen ein Schlaf.

Blumhardt, Christian Gottlieb - Lazarus, der Kranke, Sterbende und Auferweckte - Der Tod des Christen ein Schlaf.

„Solches sagte Jesus, und danach spricht Er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, schläft; aber Ich gehe hin, dass Ich ihn aufwecke.“
Joh. 11,11

1.

Es ist ein eigentümliches Verdienst des Christentums, wodurch es sich recht eigentlich dem Menschengeschlechte als „Freuden-Botschaft“ ankündigt, dass es den furchtbarsten Schrecknissen der Natur, vor denen der Sünder angstvoll zurückbebt, ihre Furcht einflößenden Larven abzieht, und sie dem Gottes- und Christus-Verehrer von ihrer beruhigenden und erfreulichen Seite darstellt. Von dieser Seite musste dem schwachen Menschenkind hilfreich begegnet werden, wenn die bangen Besorgnisse, die überall her auf ihn losdringen, und den Blick seines Geistes trüben, vor den frohen Hoffnungen des Christentums verschwinden sollten. Der arme Sterbliche, welchem die Sünde innerhalb der Trümmer des Todes und der Verwesung seinen traurigen Wohnplatz angewiesen hat, musste auf einen höheren Standpunkt gestellt werden, um die furchtbaren Erscheinungen dieser täuschenden, und durch den Fluch der Sünde zerrütteten Sinnenwelt nicht nach Name und Außenseite, sondern nach dem, was sie durch die Liebe Gottes in Christo Jesu geworden sind, und nach ihren Heilsamen Folgen für die Ewigkeit beurteilen zu können. Auf diesen höheren höchstwohltätigen Standpunkt führt Jesus seine Gläubigen hin. Sie sind durch den Glauben an Ibn ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk geworden, statt dass sie sich zuvor als Feinde Gottes, als Gegenstände seines gerechten Zorns, als unreine Sklaven böser Lüste, als Kinder des Teufels um der Sünde willen ansehen und verabscheuen mussten. Sie waren zuvor tot in Sünden und Übertretungen, und entfremdet von dem Leben, das aus Gott ist; jetzt sind sie durch die reiche Barmherzigkeit Gottes, womit Er sie geliebt hat, samt Christe lebendig gemacht. Gott hat sie mit Ihm auferweckt, und in das himmlische Wesen versetzt in Christo Jesu. Sie, die durch Furcht des Todes im ganzen Leben Knechte sein mussten, sind von ihrer bangen Todesfurcht und den Sklavenketten der Sünde erlöst; denn gerade in der großen Absicht ist der eingeborne Sohn Gottes ihres Fleisches und Blutes teilhaftig geworden, um durch seinen Tod dem, der des Todes Gewalt hat, das ist dem Teufel seine Übermacht über das arme Sündergeschlecht zu nehmen, und die Werke desselben zu zerstören. Das Gesetz der Sünde herrschte in ihren Gliedern, und diese schändliche Herrschaft ließ sie nichts anders als ewiges Verderben fürchten. Wer konnte sie von diesem Leibe der Sünde und des Todes erlösen? Wer ihre zahllosen Schulden tilgen, ihr Gewissen von den bösen Werken reinigen, den Fluch der Ewigkeit von ihnen abwenden? Das hat Jesus Christus durch sein Leben und durch sein Sterben für sie zu Stande gebracht, und eine ewige Versöhnung gestiftet. Weil sie gerechtfertigt sind durch den Glauben, so haben sie Friede mit Gott durch unsern HErrn Jesum Christum, durch welchen sie auch einen freien Zugang haben zu der Gnade, darinnen sie stehen, und sich der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit rühmen dürfen. Schwer drückte sie Krankheit und Erden-Not, trost- und hilflos sahen sie sich nach Rat und Hilfe um, und fanden nichts. Aber nun - nun rühmen sie sich auch der Trübsal, weil sie wissen, dass Trübsal Geduld, Geduld Erfahrung, und Erfahrung die seligsten Hoffnungen bringt, die unter keinen Leiden zu Schanden werden lassen.

Herrlicher Standpunkt der Gläubigen, auf dem sie über Leben und Sünde, über Trübsal und Tod, über Grab und Verwesung triumphieren! Eine reine Lebens-Luft atmet der leidende Christ in diesen schönen Regionen des Glaubens ein. In Allem überwindet er weit um deswillen, der ihn so hoch geliebt hat. Der furchtbarste Schreckenstönig auf seiner Lebens-Laufbahn, der Tod, ist ihm ein Bote des Friedens geworden. Getrost darf er ihm ins Auge sehen, darf ihn fragen: Wo ist dein Stachel, Tod? und Hölle, wo dein Sieg? Der Sieg ist dem Gläubigen gegeben; denn der Tod hat seine wilde Zerstörungsmiene abgelegt, und ist für den Freund Jesu ein sanfter erquickender Schlaf, eine erwünschte Ruhe von des Lebens Mühe und Arbeit geworden.

Selig sind des Himmels Erben,
Die Toten, die im HErrn sterben,
Zur Auferstehung eingeweiht.

Nach den kurzen Augenblicken
Des Todesschlummers, folgt Entzücken
Folgt Wonne der Unsterblichkeit.

Im Frieden ruhen sie,
Los von der Erde Müh',
Hosianna!

Vor Gottes Thron
Zu seinem Sohn
Begleiten ihre Werke sie. Amen.

2.

Durch ein bedeutungsvolles Wort hatte Jesus die voreilige Warnung seiner Jünger, nach Judäa zu gehen, zum Schweigen gebracht. Es war seine Gewohnheit, ihnen auf einmal nicht zu viel, aber immer so viel zu sagen, dass ihr Nachdenken einen reichen Stoff zur Nahrung fand. So eben dachten sie über die letzten Worte ihres göttlichen Meisters nach, und suchten sich seinen, ihnen noch immer unbegreiflichen Entschluss, einem gewissen Tode entgegen zu gehen, zurecht zu legen, als Er ihnen den nächsten Grund seiner gegenwärtigen Reise nach dem nicht mehr weit entfernten Bethanien liebreich mitteilte: „Lazarus, unser Freund, schläft, sagte Er zu ihnen; aber Ich gehe hin, dass Ich ihn aufwecke.“ Wie weise und väterlich vorbereitend war nicht diese Sprache für die Jünger, welche nun bald Augenzeugen eines dem ersten Anblick nach höchst schauervollen Schauspiels sein sollten. Auch sie hatten Lazarus, den biederen, frommen Israeliten und stillen Verehrer ihres HErrn lieb gewonnen; und wussten, wie lieb ihn Jesus habe. Das lange Zögern ihres sonst so hilfreich herben eilenden HErrn hatte sie über seine Krankheit vollkommen beruhigt; und da keine Nachrichten aus Bethanien bei ihnen einliefen, so dachten sie sich Lazarus außer aller Gefahr. Hätten sie freilich auf die Worte ihres göttlichen, immer nachdrucksvoll redenden Meisters aufmerksamer Acht gegeben, so würde bereits eine geheime Ahnung einer nahe bevorstehenden großen Wundertat in ihre Seele getreten sein. Aber dieses tieferen Nachdenkens über die Worte Jesu waren sie für jetzt noch nicht gewohnt; und weil Jesus von seinem Freunde und der Krankheit desselben schwieg, so schwiegen sie auch. Nun wird von Ihm die Sache auf einmal wieder zur Sprache gebracht: Lazarus unser Freund schläft! Schon seit mehreren Tagen war Lazarus tot, denn als Jesus zum Grabe hinkam, war er schon vier Tage lang in demselben gelegen. Keine Nachricht von dem Tode des geliebten Freundes war indes nicht gekommen; und doch war Jesus zum voraus mit der Sache bekannt, so wenig Er an seinen sterbenden Freund zu denken schien. Die allwissende Liebe kennt zum voraus den Druck, die Leiden, den Tod der Liebe. Ihr bleibt nichts verborgen, so sehr sie sich zu verbergen scheint. In der Ferne sieht sie mit Blicken des zärtlichsten Mitleids auf das Sterbebette des Geliebten hin, hört sein letztes Stöhnen; vernimmt das laute Schluchzen der Umstehenden; sein Geist und sein Herz ist unsichtbar nahe, und gießt den köstlichen Balsam des Trostes und der Beruhigung auf das schmachtende Herz des ermüdeten Pilgers, der mit unaufhaltsamer Eile seinen Sterbenslauf vollendet. Welch' ein Trost liegt für dich, trauernder Wanderer auf dem Kreuzespfade, in diesem festen Glauben an die Allwissenheit deines unsichtbaren Freundes! O könntest du in dem finstern Augenblick, wo der tiefste Kummer dir seinen Anblick verbirgt, in sein Herze schauen, und die unsichtbare Hand wahrnehmen, die dir aus dem oberen Heiligtum Kraft zum Tragen einflößt! Du leidest unter den Liebe-flammenden Augen deines allwissenden Freundes; Er weiß es, was dich drückt, ehe du es Ihm klagst; Er versteht deine Kummersprache, dein Angstgeschrei schon mit halben Worten; denn jedes Quäntchen Leiden, das dir in jedem Augenblick aufgelegt wird, ist von Ihm zum Voraus abgemessen, und mit einem aufwiegenden Grade von Trost und Kraft begleitet. Du klagst, in deiner Not nicht beten zu können, und fühlst dich zu schwach, die Worte zu finden, um dein tief empfundenes Bedürfnis auszudrücken. Lass dich das nicht kümmern! Er versteht der Augen Tropfen und des Herzens Klopfen! Er hört die leiseste Sprache deiner Sehnsucht, und liest in deinem Herzen dein verborgenes Schmachten nach seiner eilenden Hilfe. Ehe du redet, will Er antworten, und deiner Schwachheit begegnen. Er weiß Alles schon zum Voraus, und weiß es besser, als du Ihm sagen kannst. Berufe dich getrost auf seine Allwissenheit, auf seine Bekanntschaft mit den Trübsalen, mit denen du kämpfest; traue es Ihm getrost zu, dass Er nicht erst auf deine Worte wartet, bis seine Hilfe erscheint. Sie ist vor der Türe, denn sein allsehender Blick hat dein Elend gesehen, und seine allmächtige Liebe hat sich aufgemacht, über dein Bitten und Verstehen dich mit seiner Hilfe zu erfreuen.

3.

Lazarus, unser Freund, schläft! Glücklicher Sterbliche, den der HErr der Herrlichkeit Freund nennt! Seine Freundschaft wiegt alle Erdenfreuden und alle Erdenleiden unendlich auf. Was du selbst auszusprechen nicht wagen darfst, weil das tiefe Gefühl deiner Unwürdigkeit dich vor Ihm in Staub und Asche beugt, das spricht sein Mund und sein Herz aus. Mund und Herz! Ja, denn Er kennt die armselige Komplimenten- und Modesprache der Welt nicht. Er fühlt innig, was Er spricht, und spricht nichts, was nicht Tat und Wahrheit ist. In dem Munde eitler Welt-Verbindungen hat durch schnöden Missbrauch der ehrwürdige Name der Freundschaft seine hohe Bedeutung und seine Kraft verloren. Es ist Gesellschafts- Ton geworden, seine Freunde wie sein Kleid zu wechseln, und sie nur so lange zu benutzen, und Freundschaftsliebe gegen sie zu Heucheln, so lange man sie zu seinen eigennützigen Zwecken gebrauchen zu können glaubt. Kommen sie in Verlegenheiten, in unglückliche Lagen, in denen sie der tätigen Freundschaft am meisten bedürfen, so zieht man sich auf eine kluge Art zurück, und will sie nicht mehr kennen. So macht's die bundbrüchige Welt-Freundschaft, die dieses schönen Namens niemals würdig ist. Die Freundschaft Jesu ist ganz anderer Art. Sie bleibt dem armen Erdenpilger bis zum Tode getreu. Mit jedem Tage wird sie stärker, inniger, zärtlicher, hilfreicher. Ihr schönes Fundament ist unser großes Bedürfnis , und sein noch größeres Erbarmen. Je mehr das Herz ihrer bedarf, desto mitteilender wird sie. Deine Armut und Gebrechlichkeit, deine Schmach und dein Bedürfnis wird sie niemals scheuen vielmehr wird sie sich nur um so zärtlicher gegen dich ergießen. Solche Freunde will Jesus Christus haben, die Seiner bedürfen, und einen rechten Gebrauch von Ihm zu machen wissen. Diese sind die Nächsten seines Herzens. Wer nichts mit Ihm zu machen, nichts von Ihm zu nehmen, bei Ihm keinen Genuss zu finden weiß, hört eben damit auf, sein Freund zu sein. Warum jammerst du über deine große Bedürftigkeit? Siehe, das zieht den hilfreichen Jesum an sich, und bestimmt Ihn umso mehr, dir mit seiner Freundlichkeit entgegen zu eilen. Warum macht dich das Gefühl deiner Sündigkeit blöde? Weißt du denn nicht, dass du als reuevoller und schwerbeladener Sünder gerade der rechte Gegenstand des huldreichen Erbarmens deines Jesu bist? Dein Schaden ist Ihm nicht zu groß, Er heilt ihn; deine Verdorbenheit nicht zu tief gewurzelt - Er hat eine Gnade, die über Alles ist.

4.

Lazarus ist sein und seiner Jünger Freund; denn wer ein Freund Jesu ist, ist zugleich aller seiner Freunde Freund. Wer es mit Ihm hält, mit dem halten es alle Gute und Fromme. Siehe, so ausgedehnt und zahllos ist durch die Freundschaft Jesu deine Freundschaft im Himmel und auf Erden geworden! Du bist ein Glied an seinem Leibe, und ziehst wie alle andern Glieder Kraft und Leben aus dem gekrönten Haupte Jesu Christo. Durch Ihn ist Alles, was einen Funken von Liebe zu Ihm in seinem Herzen hat, in die genaueste Verbindung miteinander getreten. Ein unsichtbares göttliches Band schlingt sich um Alle, heiligt, segnet, und beseligt Alle. Eben darum ist auch dein Leiden ein gemeinschaftliches Leiden Aller; so wie auch deine Freude die Freude Aller ist. Sei noch so verborgen und ungekannt; tausende deiner Brüder und Schwestern gedenken deiner in ihrem Gebet zu Gott, denn sie gedenken aller Glieder dieser unsichtbaren Gottes Familie. Vielleicht fleht gerade in diesem Augenblick in einem fernen Lande ein Freund Jesu für seine leidenden Mitbrüder und Mitschwestern; und der Segen seines Gebets gilt auch dir. Väter und Mütter, Brüder und Schwestern nehmen Teil an deinen Schmerzen, und der Seraph vor dem Throne Gottes freut sich deiner Geduld und deines Glaubens. Schätze diese unsichtbare Verbindung mit allen Verehrern Gottes und Jesu Christi nicht gering; du bist ein Glied an dieser großen Kette, und sollst durch Leiden zu einem desto reichlicheren Genuss dieser allumfassenden Gottes-Gemeinschaft gebildet werden. Du machst dieser Jesus-Familie, zu der du gehörst, Freude und Ehre, wenn du unter deinen Drangsalen bis ans Ende standhaft ausharrst. Ein jedes Glied derselben hat sein Kreuz getragen, und trägt es noch Millionen derselben sind durch heißere Trübsalsgluten für die vollendete Welt groß erzogen worden, als du zu erdulden hast. Darum sei getrost, und achte deinen Anteil an dem gemeinschaftlichen Leidenskelch der unsichtbaren Gemeine Jesu hoch.

5.

Nicht weniger inhaltreich und anziehend ist das Bild, das Jesus vom Tode seines Freundes gebraucht. Lazarus, unser Freund, schläft, sagt Er in einem beruhigenden freundlichen Tone, wie der Mensch vom sanften Morgenschlummer zu reden pflegt. In welch' ein mildes liebliches Gewand weiß Jesus die schrecklichsten Natur-Erscheinungen einzukleiden! Sie sollen für die Gläubigen eine ganz andere Gestalt gewinnen, als die Sünde und der Fluch der Sünde ihnen aufgedrückt hat. Der Tod mit allen seinen Schrecknissen ist in den Augen Jesu ein Schlaf; das düstere Grab eine stille Ruhekammer, die Er selbst eingeweiht hat. Zwar sind diese Ausdrücke Bilder; aber sie sind die wahren und eigentlichen Bilder für den Heimgang der Gläubigen, die den Tod nicht sehen sollen ewiglich. Indes der Verächter Gottes und Jesu auf seinem Kranken- und Sterbebette von den heftigsten Bissen seines erwachenden Gewissens gemartert wird, Tag und Nacht mit banger Finsternis und herzzermalmender Todesfurcht bis zum Angstschweiße kämpft; indes er verzweiflungsvoll die Stunde seiner Geburt verwünscht, und unter den Donnerschlägen des pochenden Herzens in das tobende Flammenmeer einer strafenden Ewigkeit hinabstürzt: - legt sich der Freund Jesu vertrauensvoll und getrost am Ende seiner irdischen Laufbahn auf sein sanftes Lager nieder, ruht in den Armen seines ewigen Erbarmers, den er kennt und liebt, und schläft ruhig ein, bis der laute Posaunenschall des Toten-Erweckers ihn zum ewigen Frühlingsmorgen der Seligkeit mächtig aus seiner stillen Ruhekammer hervorruft.

6.

Der Freund Jesu schläft ein! - Die Lebensreise hat ihn ermüdet, und allmählig seine Kräfte verzehrt. Als ein stiller Wanderer im fremden Lande hatte er nur Eins im Blick behalten - sein geliebtes Vaterland dort oben. Dieses konnte er nimmermehr vergessen, wenn es auch viele seiner Mitpilger vergaßen, dass sie bloß Gäste und Fremdlinge hienieden sind, und ein besseres Vaterland suchen sollen. Der Pfad seiner Pilgrimschaft war schmal gewesen, aber gerade und am sichersten zum Ziele führend. Manche Dornen hatte er auf demselben angetroffen, die seinen strauchelnden Fuß verwundeten. Hohe Berge und tiefe Täler musste er oft einsam und mit Heimwehkrankem Herzen durchwandern; und nur die Hoffnung, bald das sehnlichst erwünschte Vaterland zu erreichen, konnte ihn mit neuem Mut stärken, der vielen Schwierigkeiten ungeachtet dennoch getrost seine Reise fortzusehen. Oft benetzte der Schweiß eines schwülen Tages seine bestäubte Stirne, oft floss eine wehmütige Kummerträne über seine Wangen. Beinahe wäre er auf halbem Wege ermüdet und unmächtig niedergesunken; doch der HErr stärkte ihn mit neuer Kraft, dass er nicht erlag, und hellte seinen trüben Blick mit einer neuen heiteren Aussicht auf das immer näher kommende Vaterland auf. Die schwerste Last, die ihn beinahe zu Boden drückte, die Sünde, nahm der HErr auf seinen Rücken, und trug sie; und nun wanderte der blöde Fremdling munter seine Straße fort. Die neuen mächtigen Hindernisse überwand er durch die rührende Erinnerung an die erbarmungsvolle Liebe seines göttlichen Führers. -

Der letzte Abend der Reise, an dem er das geliebte Vaterland schon ganz nahe sah, rückte herbei; aber noch war einer der steilsten Berge der ganzen Reise zu erglimmen. Die Nacht ereilt ihn mit schnellen Schritten, und seine Kräfte sind beinahe erschöpft. Der Kampf wird mit jedem Augenblick stärker, und er ist in Gefahr, ehe er den Berg erstiegen hat, über einen Felsen kraftlos hinabzusinken. Er ermannt sich aufs neue, denn eine unsichtbare Hand reicht ihm den Balsam der Stärkung dar. Er glimmt weiter und weiter, und - nun ist endlich die steile Bergspitze erreicht; ihn umatmet erquickender Frühlingsduft. Im süßesten Wohlgeruch legt er seinen Wanderstab nieder, setzt sich unter Lob- und Danktränen hin und schläft ein. Und siehe - gleich am nächsten herrlichen Morgen erwacht er im geliebten Vaterlande.

7.

Der Freund Jesu schläft! Nun hat alle Erden-Not ein Ende; und es ist im Tränentale ausgeweint. Das Lamm, das auf dem Thron sitzt, wischt die Tränen liebevoll ab, und weidet seine Geliebten an frischen Wasserbächen der Erquickung. Die schwere Bürde des Leibes und der Seele, die hienieden so oft den unsterblichen Geist drückten, ist für immer abgeladen. Neues ewiges Leben durchströmt das herrliche, himmlische Daseins-Gefühl. Man hat von diesen Kummertagen nichts übrig behalten, als die süßeste dankbarste Erinnerung an die erbarmungsreiche Liebe Gottes und Jesu Christi und an die wundervolle anbetungswürdige Weisheit seiner Wege. Alles Andere ist vergessen, wie man den Traum der Nacht beim Erwachen am heitern Morgen vergisst. Lob und Preis strömt aus den Herzen der Heimgeretteten zur Ehre Dessen, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Süßes erquickendes Bild des Todes! Mit Wonne gedenken wir deiner, und beten den HErrn an, der dem, selben seinen verwundenden Stachel genommen hat. Wohl dem, der unter die Zahl der Freunde Jesu gehört; sein Glück ist im Leben und im Sterben unaussprechlich! Er ist unter den Gnadenflügeln Jesu Christ vor allen Schrecknissen der Sünde und des Todes gesichert. Sanft ruht er am Ende seiner Laufbahn in den Armen Jesu aus, und stimmt ein in die Loblieder der Vollendeten:

Preis sei unserm Lamm gegeben!
Sein wird man im Sterben froh;
Durch sein Sterben, durch sein Leben
Kämpft und stirbt und siegt man so.
Eingehüllt in seine Wunden -
Und besprengt mit seinem Blut,
Hat man's in den letzten Stunden
Und sofort auf ewig gut.

Ihme folgt man ohne Weinen
Bis zur Grabes Düsternheit,
Weilen seine Gruft den Seinen
Diese Kammer eingeweiht.
Gerne legt man seine Glieder
Auch auf Hoffnung in die Gruft,
Bis Er sie am Ende wieder
Allesamt ins Leben ruft.

Seelen! Gebt doch ohne Ende
Unserm Gott und Lamm den Preis!
Der die Werke seiner Hände
Also hoch zu ehren weiß.
Eilet nun mit munterm Glauben
Eurer schon erkauften Ruh',
Eilet als gelockte Tauben
Eurer ew'gen Heimat zu.

Leidet nur in Hoffnung gerne,
Glaubt, indem das Auge weint;
Bis ihr einst als helle Sterne
An dem neuen Himmel scheint.
Jesu Kreuz sei unser Tiegel,
Der uns unsre Schlafen nimmt,
Bis auf Zions reinem Hügel Nichts mehr unsre Freude hemmt! Amen.

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