Schopf, Otto - Woher? Wodurch? Wohin?
Von ihm kommt auch ihr her in Christo Jesu, welcher uns gemacht ist von Gott zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung, auf daß (wie geschrieben steht), „wer sich rühmet, der rühme sich des Herrn.“
1.Korinther 1,30.31.
Wir sind wieder am Anfang des letzten Monats eines Jahres. Schon wieder Dezember, schon wieder bald Weihnachten! Da kommt uns die Flucht der Zeit und damit die Frage: „Woher – wohin?“ wieder vor die Seele. Unser Text sagt uns woher: Von ihm, d.h. von Gott, kommt auch ihr her. Er zeigt uns ein Ziel, zwar keine Persönlichkeit und keinen Ort zunächst, sondern ein begrifflich gefaßtes Ziel: die Ehre Gottes; auf daß, wer sich rühmet, der rühme sich des Herrn. Und wenn wir nun fragen: wie und wodurch kommen wir zu so hoher Abkunft und wie und wodurch zu so hohen Ziel, dann antwortet uns unser Text: in Christo Jesu, welcher uns geworden ist von Gott zur Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung, Erlösung.
Woher wir kommen, damit wollen wir uns zunächst beschäftigen und dann mit der anderen Frage: wohin wir zielen sollen. Am meisten und längsten beschäftigt uns die zweite Frage, die auch im Texte im Vordergrund steht: Wodurch wir unsere Bestimmung erreichen. Von ihr aus fällt dann auch ein helles Licht auf die beiden Fragen woher und wohin und sie berühren wir daher sowohl bei der ersten als bei der dritten Frage.
Also von ich, von Gott dem Vater und dem Ursprung aller Wesen und Dinge, kommen wir her. Römer 11,36 sagt uns das noch ausführlicher: Von oder genauer aus ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge; und das gleiche lesen wir nochmals im achten Kapitel unseres Briefes im Anfang des sechsten Verses: So haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von oder aus welchem alle Dinge sind und wir zu ihm. Welch hoher, herrlicher Ursprung! Mensch, wer und was du auch heute seist, du kommst von Gott, und die ganze Welt, die du mit irgendeinem deiner Sinne wahrnimmst, sie kommt von Gott, aus Gott. Es ist zwar nicht so, wie etliche meinen, daß die Welt und das All ein Stück von Gott ist, sondern sie und alles ist sein Werk. Aber es ist auch nicht so, wie andere dachten, daß das ganze Weltall oder doch seine Urbestandteile wie Gott von Ewigkeit her gewesen sei. Nein, Gott hat dem, was nicht ist, gerufen, daß es sei, und am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Aber in Gottes Gedanken, in Gottes Willen und in Gottes Schöpferweisheit und Wunderallmacht hat alles Geschaffene seinen Ursprung. Und darum kann man, wenn man das wahrnimmt, Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, an seinen Werken erkennen. Er hat sich nicht unbezeugt gelassen, hat uns viel Gutes getan und vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegeben und unsere Herzen erfüllt mit Speise und Freude, und all diese gute Gabe ist eben darum so gut, weil sie von oben herab, von dem guten Gott, dem Vater des Lichts kommt (Jak. 1,17). Freilich, all diese guten Gaben, sie reichten nicht aus, die Menschen haben den Geber nicht geehrt und ihm nicht gedankt, und deshalb ist ihr unverständiges Herz verfinstert worden, so daß sie Gott nicht erkannten an den Ereignissen und Schicksalen der Völker, denen Gott Ziel gesetzt und zuvor versehen, wie lang und weit sie wohnen sollten, daß sie den Herrn suchen sollten, ob sie ihn nicht fühlen und finden möchten.
Aber so tief ist der Mensch gesunken, der ins Bild Gottes geschaffen und dadurch besonders ausgezeichnet ist, daß er seines Ursprungs vergessen hat und ihn geleugnet hat, indem er sprach: es ist kein Gott; während wir doch in ihm leben, weben und sind. Aber ob auch die sein vergessen, die Gottes Odem in ihrer Nase haben, so können doch wir ihn nicht vergessen, denen er das Pfand, den Geist, seinen Geist, in die Herzen gab. Gilt es schon von den natürlichen Menschen in einem gewissen Sinn, was die heidnischen Dichter sagen: sie sind göttlichen Geschlechtes, so gilt es noch viel völliger, tiefer und anders von denen, die durch göttliche Kraft und göttliche Weisheit teilhaftig worden sind der göttlichen Natur, welche nicht von dem Geblüt noch von dem Willen des Fleisches, noch von dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind.
Also, obwohl wir in sündlichem Wesen geboren und unsere Mütter uns in Sünden empfangen, so gilt uns doch, von ihm, dem großen Gott, kommt auch ihr her. Hebet eure Häupter in die Höhe, ihr Armen, ihr Schwachen, ihr Unglücklichen, denkt eurer hohen Abkunft, denkt daran, wo ihr herkommt. Laßt euch nicht abstumpfen, bleibt nicht an der Erde und ihrem Elend haften. Von ihm kommt auch ihr her.
Aber freilich, wenn wir denken, wo wir hergekommen sind und denken daran, wo wir hingekommen sind, dann müssen wir unsere kaum erhobenen Häupter wieder beschämt senken. Was dort in Jesaias 4 von dem König von Babel gesagt ist, das gilt von uns allen! Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern. Da wird dieses Wort, daß wir aus Gott stammen, uns der allerernsteste Mahnruf, und es gilt uns: Gedenke, wovon du gefallen bist und tue Buße.
Aber eben, wenn ein Mensch anfängt, in der Fremde, in der Gottesferne zu gedenken, wovon er gefallen ist, zu gedenken des Vaterhauses und in sich zu schlagen, wenn der Entschluß in ihm reift. Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt in den Himmel und vor dir, ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße, dann ist es wichtig, drei Worte zu beachten, die in unserem Text hinter den Worten „von ihm kommt auch ich her“ stehen, die Worte „in Christo Jesu.“ Diese Worte erinnern uns daran, daß schon die Erschaffung der Welt und des Menschen vermittelt war durch den einen ewigen Mittler zwischen Gott und Menschen, durch den Sohn. Denn wie alle Dinge aus Gott dem Vater sind, so sind sie alle durch den Sohn. Vergl. 1. Kor. 8,6: So haben wir nun einen Herrn, Jesum Christum, durch welchen alle Dinge sind und wir durch ihn, und Joh. 1,3, wo vom Vater gesagt ist: Alle Dinge sind durch dasselbige gemacht und ohne dasselbige ist nichts, was gemacht ist, und Ebräer 1,2: Welchen er gesetzt hat zum Erben über alles, durch welchen er auch die Welt gemacht hat, und endlich Kol. 1,16, wo wir lesen, daß alles durch und in dem Sohn geschaffen sei. Also ist der Sohn der Mittler der Schöpfung, so gut wie der Erlösung. Er ist der Boden, in dem alles wurzelt, das wahrhaft lebt. Er war der Weg vom Vater zur Menschheit, als sie geschaffen wurde, und darum ist er der natur- und schöpfungsgemäße Weg wieder von der Menschheit zum Vater. Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater, denn durch ihn.
Ist jemand in Christo, dann ist er eine neue Kreatur. Wollen wir also zurückkehren zu unserem Ursprung, wollen wir wieder zu Gott kommen, so müssen wir zu dem kommen, den der Vater und der sich selbst uns bereitet hat zum neuen und lebendigen Weg. Wollen wir zu Gott kommen und von Gott angenommen werden, so müssen wir zu dem „Geliebten“ kommen, in dem er uns angenehm gemacht hat. Zu ihm zieht uns der Vater durch das Wort von der Versöhnung; zu ihm lädt uns der Geist und spricht: komm, und er selbst spricht: Kommet her zu mir alle, und wer zu mir kommt, den will ich nicht hinausstoßen. Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke (Joh. 7,37).
Für die aber, die schon zu Jesu gekommen sind, nicht nur vorübergehend, zu vorübergehender „Erquickung“, zu vorübergehendem Schmecken der Kräfte der zukünftigen Welt, zum eine zeitlang Glauben, sondern zum „Bleiben in ihm“, zum „sein in Christo“, zum „mit Christo gestorben, gekreuzigt und auferstanden sein“, zum verborgenen Leben mit Christo in Gott, für uns gilt, würdig des Herrn zu wandeln und seine Tugenden zu verkündigen. Indem wir dies tun und je mehr wir es tun, erfüllen wir unsere Bestimmung und erreichen unser Ziel, nämlich die Verherrlichung des Herrn, wie sie ausgesprochen ist in den Worten des 31. Verses: „Auf daß, wer sich rühmet, der rühme sich des Herrn.“
Aber ist das denn ein erstrebenswertes Ziel, ist das denn ein lebenswerter Lebenszweck? Wir suchen von Natur die Befriedigung unserer Wünsche. Wir denken uns ein Leben dann lebenswert, wenn wir erreichen, was wir wollen und begehren. Es regt sich in unserem Herzen ein Widerspruch! Erst wollen wir unser Durchkommen haben, einen Platz im Leben, einen geachteten, guten, warmen Platz.
Wir gleichen von Natur den Juden, die sprachen: „Es ist nicht Zeit, daß wir des Herrn Haus bauen,“ wohl aber ist es Zeit, unsere Häuser zu bauen. „Auf eine gelegenere Zeit“ verschieben wir wie Felix die ernsten Dinge. Das ist die Lebensweisheit dieser Welt. Und unser Gott und sein Wort kennt diese Weisheit auch: „Ein jeglicher sahe auf seinen Weg.“ „Den Weg des Friedens wissen sie nicht,“ so urteilt die Schrift darüber, und auf die Dauer zeigt es sich, daß die Weisheit dieser Welt Torheit ist, denn „sie vergehet.“ Immer wieder zeigt es sich, daß der Herr „die Weisen fähet in ihrer List,“ daß „sie einen Rat beschließen und es wird nichts daraus,“ und da sie sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden. Nabel und Ahitophel, der reiche Mann, der glaubte, einen Vorrat auf viele Jahre gesammelt zu haben und dessen Seele in der Nacht gefordert wurde, sind einige aus der Reihe der törichten Weisen, deren Geschlecht mit Kain anfängt, deren Weisheit einem Lot sein Vermögen, einem Saul sein Königreich, einem Judas und Ananias das Leben, und, wenn nicht alles trügt, ihre Seligkeit kostete. Und die Zahl der Weisen dieser Art ist Legion. Solcher Mißerfolg der natürlichen Weisheit muß uns nachdenklich und zweifelhaft in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit machen.
Und wenn wir nun hören, daß Christus, der Sohn Gottes, durch den alles geschaffen und alles versöhnt ist, uns gemacht ist zur Weisheit, so muß das unsere Aufmerksamkeit erregen. Wenn wir irgendein wichtiges Geschäft unternehmen wollen, so fragen wir Sachverständige um Rat. Wenn wir nun den fragen könnten, durch den alles gemacht ist, was gemacht ist, wäre es denn töricht, ihn zu fragen? Ist er nicht sicher weiser als alle Menschen und Engel? Und da er zugleich der ist, durch den dies alles mit Gott versöhnt ist, ist er dann nicht auch gerechter und heiliger und darum vertrauenerweckender als irgend ein anderer? Ein Augenblick ersten Nachdenkens muß uns sagen: tausendmal ja!
Und nun hören wir gar, daß er für uns da ist, für uns zur Weisheit gemacht und geworden ist, für uns d.h. uns zu liebe, uns zu gute, daß er uns zur Verfügung steht. Und wenn er uns nun sagt: Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, wenn er uns durch seinen Diener sagen läßt: Wir sollen nicht mehr uns selbst leben, d.h. nicht mehr zuerst an uns denken, verdient sein Rat dann nicht Beachtung? Er hat ja selbst nach der Regel gehandelt, die er uns gibt, ist gekommen, Gottes Willen zu tun und tat ihn gerne. „Er hielt es nicht für einen Raub“ usw., und wohin hat ihn dieses Tun des Willens Gottes, dieses Verherrlichen des Vaters geführt: Gott hat ihn erhöhet und hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist. Und, um menschliche Beispiele zu wählen: Hat Abraham töricht gewählt, als er das Bergland den Sodomsauen vorzog, hat Joseph töricht gehandelt, daß er sich den Zorn von Potiphars Weib zuzog, anstatt die Sündenlust und den Sündenweg zu wählen, hat Moses wirklich etwas dadurch verloren, daß er, anstatt mit dem Heere Pharaos zu ertrinken, den Platz an der Spitze des Volkes Gottes wählt, zu dem er durch die Einsamkeit in der Wüste gelangte? Wäre es klüger gewesen, wenn Daniel und seine drei Freunde mehr nach des Königs als nach Gottes Willen gefragt hätten? Nein, wahrlich nein, die göttliche Torheit ist weiser denn die Menschen sind und darum ist auch für unser Glück und Wohlergehen am besten gesorgt, wenn wir Gottes Ehre und Verherrlichung suchen.
Fragt morgen früh die Trinker von heute Abend, ob sie glücklicher, gesunder, wohlhabender, frischer und im Besitz eines ruhigeren Gewissens sind als die, die heute auf Gottes Wege und Willen bedacht waren. Fragt die Reichen, ob sie glücklicher sind, froher in die Zukunft sehen als Gottes Kinder. Ist es denn wirklich weiser, den Lehren derer zu lauschen, die, je weiser sie sind, desto weniger gewiß zu wissen behaupten? Ist es weise, mit vieler Mühe ihre Gedanken zu verstehen und zu verstehen suchen, die nur wenige Gebildete überhaupt verstehen können und diese selbst nicht so ausdrücken können, daß Unbegabte und Ungebildete, Alte und Kinder sie verstehen können? Man rühmt im praktischen leben stets das Einfache und merkt nicht, daß die Weisheit dieser Welt sich eben dadurch verurteilt, daß sie gar nicht einfach ist. Also die Form wie der Inhalt und die Wirkung ist mehr als mangelhaft.
Aber wenn wir das alles auch einsehen und zugeben müssen, warum wird es den Menschen so schwer, ja, aus eigener Kraft zu schwer, zuerst zu trachten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit? Eben weil dieses Reich Gottes ein Reich ist, in dem Gerechtigkeit herrscht, und in uns herrscht Sünde. Wir sind nicht nur Blinde und Toren, sondern Schuldbeladene und Ungerechte. Aber der, durch den alles weislich geordnet ist, ist auch der, durch den alles sehr gut gemacht ist, und seine Weisheit ist unserer Sünde gegenüber nicht zu Ende. Er ist uns auch zur Gerechtigkeit geworden.
Daß er der Weg zum Vater wurde, das war kein Kinderspiel; das war kein Werk seiner Macht und seiner Weisheit, das war ein Werk seiner heiligen Liebe. Der Vater hat den Plan entworfen und hat ihn ausgeführt durch den Sohn. Wir haben schon vorher davon gesprochen, daß der Sohn das Bindeglied, der Mittler sei zwischen Gott und seiner Schöpfung. Durch die Sünde haben die Menschen ihrerseits die Verbindung mit Gott gebrochen, sie sind Gottes Widersacher und Feinde geworden. Sie konnte nicht zum Himmel hinaufsteigen, um die Verbindung wieder anzuknüpfen, dazu fehlte ihnen die Macht und die Heiligkeit. Sie konnten Gott keine Sühne für ihre Sünde bieten. Denn durch die Sünde war ihr Leben befleckt, und zudem war es kein Leben mehr, es war in Gottes Augen ein Sterben, es war Tod. Daß sie nicht augenblicklich zermalmt und vernichtet waren, das dankten sie Gott, der ihnen trotz der Sünde noch eine Gnadenfrist und einen Gnadenrest ließ, und der, obwohl er um seinetwillen wie um ihretwillen ihnen und ihrer Sünde seinen heiligen Liebeszorn entgegensetzen mußte, doch ihren Tod nicht wollte. Also die Kreatur war befleckt, verschuldet, dem Tode verfallen und unfähig, von sich aus die Verbindung mit Gott wieder anzuknüpfen. Aber was die Kreatur nicht tun konnte, das konnte der Erstgeborene aller Kreatur tun, das Haupt der Schöpfung Gottes, der Sohn.
Wie ein Höherer und Weiserer auf die Stufe des Niederen und Törichten herabsteigen kann, während ein Niederer und Törichter nicht aus eigener Kraft sich auf den höheren Standpunkt hinaufschwingen kann, wie ein Reicher des Armen Schulden bezahlen, ein Starker des Schwachen Last auf sich nehmen, ein Freier den Platz des Sklaven einnehmen, ein Unschuldiger die Strafe des Schuldigen auf sich nehmen kann, wie eines Königs Wort und Tat für Millionen seiner Untertanen Geltung und Bedeutung hat, so daß, was er für sie unterschreibt und erwirkt, ihnen allen zu Gute kommt, so hat der Sohn Gottes, das Haupt der Schöpfung, sich an die Spitze der Menschheit gestellt, durch seine Menschwerdung ist eine Verbindung zwischen Menschheit und Gott hergestellt worden, wie sie durch alle bisherigen Worte, Taten und Einrichtungen Gottes nicht hatte hergestellt werden können. Zunächst ist in Jesu Person göttlicher Geist und menschliches Fleisch vereinigt worden. Diese Vereinigung zwischen Gottheit und Menschheit in der Person Jesu ist auf alle Proben gestellt worden, die nur möglich waren, und nie ist die menschliche Seite seines Wesens in Widerspruch geraten mit der göttlichen. In jeder Beziehung hat sein heiliger Geist das Fleisch, die menschliche Seite in Jesu Person, in völligem Gehorsam gehalten. In dreißig Jahren Alltagsleben, Müdigkeit, in Hunger, Furcht, Trauer und allen Reizungen, die uns menschliche Sünde und Torheit und teuflische Versuchung und Feindschaft bereiten kann, hat der Mensch Jesus nie einer Sünde geziehen werden können. In Gehorsam und Geduld im Strafen und Lehren, im Trösten und Locken, im Wunder tun und Prophezeien hat er getan und geredet, was er vom Vater sah und hörte, zu des Vaters Zeit, auf des Vaters Art und Weise, zu des Vaters Ehre. Und als es galt, mit dem Tode zu ringen, und als es galt, den eigenen, nicht unheiligen Willen dem Willen des Vaters unterzuordnen, und als er zur Sünde, zum Sündopfer und Fluch für uns gemacht, das Unverdienteste, Fremdartigste zu leiden hatte, das Von-Gott-verlassensein, da hat er es vollbracht, die finsteren Mächte besiegt, die Handschrift, die wider uns war, ausgetilgt, am Vater festgehalten und an der Menschheit festgehalten, die Schuld gesühnt, die Feinde mit Gott versöhnt und Leben und unvergängliches Wesen ans Licht gebracht.
So ist er für uns Gerechtigkeit geworden, so sind wir in ihm Gerechtigkeit Gottes geworden.
Er ist unsere Gerechtigkeit in dem Sinne geworden, daß Gott uns um des einen vollkommenen Gerechten willen allen Ungerechten Gnade anbieten läßt. Die Gerechtigkeit des einen Gerechten ist so vollkommen, daß sie die Menge der Sünden anderer zudeckt; das von ihm bezahlte Lösegeld ist so völlig, daß er alle loskaufen kann. In diesem Sinne ist die Versöhnung eine der ganzen Welt zugute kommende. Gott hat die Welt geliebt, Gott hat in Christo die Welt mit ihm versöhnt; Christus ist für alle gestorben und der Heiland aller Menschen.
Nun ist die Frage, ob die Welt diese Versöhnung annimmt. Die Brücke ist geschlagen, nun gilt es, sie zu beschreiten.
Hier entsteht nun eine Scheidung unter den Menschen, die ohne Unterschied allzumal Sünder sind, und ohne Unterschied allzumal durch Gnade gerecht werden können.
Die einen seufzen unter der Anklage ihres Gewissens, sie erkennen die Sündhaftigkeit ihrer Sünde, sie erkennen die Sklaverei und das Elend der Sünde, sie hassen die Sünde; sie schämen sich, daß sie gegen einen solchen Gott gesündigt haben, es tut ihnen leid, sie verurteilen sich, sie möchten nicht mehr weitersündigen. Sie haben das Bedürfnis, das alles Gott zu sagen, und hätten gern seine Verzeihung. Und wenn sie nun hören, daß Gott ihnen seine Versöhnung und Vergebung anbietet, daß Gott ihnen ihre Sünden nicht zurechnen will, eine Gerechtigkeit ohne Werke, dann atmen sie auf, dann fassen sie Mut, sie blicken auf Jesu Leben, Leiden und Auferstehen, sie hören auf Jesu Wort, sie spüren, es ist wahr, und sie machen Gott nicht zum Lügner, sondern vertrauen seinem Wort; denen wird dieses Zutrauen um des Wortes und Werkes Jesu willen von Gott zur Gerechtigkeit Gerechnet. Denn dem, der nicht mit Werken umgeht, glaubt aber an den, der den Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit. Nun sie denn sind gerecht worden durch den Glauben, haben sie Frieden mit Gott, und ewiges Leben, denn wer an den Sohn glaubet, der hat das ewige Leben.