Quandt, Carl Wilhelm Emil - Micha - Erstes Kapitel.
Die richtende Gerechtigkeit Gottes wird sich in Strafgerichten offenbaren.
Vers 1. „Dies ist das Wort des Herrn, welches geschähe zu Micha von Maresa, zur Zeit Jothams, Ahas, Jehiskia's, der Könige Judas, das er gesehen hat über Samaria und Jerusalem.“ - Der Verfasser des heiligen Buches nennt seinen Namen, seine Heimath, seine Zeit, seinen Auftrag und die Leute, denen sein Auftrag gilt.
Micha ist sein Name. Michaeas nennt man ihn mit lateinischer Wendung und Endung. Wir erkannten schon seine Bedeutung, die er mit dem Engelnamen Michael theilt, nämlich: Wer ist wie Gott. Der Name Micha war kein ungewöhnlicher in Israel. Er tritt uns zuerst entgegen bei jenem unsauberen Ephraimiten, der in der alten Richterzeit Israels der Erzvater der Ketzerei des Bilderdienstes in Israel war. Ein anderer Micha wird uns in der Geschichte Davids als Enkel seines Freundes Jonathan genannt. Viel bedeutender als die beiden genannten ist ein dritter Micha, der Sohn Jemlas, ein Prophet Gottes zu Elias Zeiten und von Elias Geiste, einer der wenigen Männer des Glaubens, die nach den schweren Verfolgungen der Isebel noch in Israel vorhanden waren; wir wissen von ihm, daß er um der Wahrheit willen, die er im Gegensatz zu den Hofpropheten predigte, von Ahab gefangen gehalten wurde. Noch bedeutender aber als er, ist nun eben derjenige Micha, dessen Weissagungen und Reden unserer Betrachtung harren. Derselbe war aus Maresa, wie Luther den Namen giebt, wörtlich nach dem Hebräischen: aus Moreseth. Es ist wohl Moreseth-Gath gemeint, eine Stadt im Süden des Stammes Juda, wahrscheinlich auf einem Platze gelegen, der einmal der Philisterstadt Gath abgewonnen war. Micha von Moreseth empfing das Wort des Herrn zur Zeit Jothams, Ahas, Jehiskia's, der Könige Juda's. Jotham regierte von 758 bis 742 vor Christo, Ahas von 742 bis 727, Hiskia von 727 bis 696; gleichzeitig mit letzterem regierte als letzter König Israels Hosea bis 722, wo Salmanassar dem Reiche Israel ein Ende machte. So haben wir also die Wirksamkeit des Propheten Micha in die zweite Hälfte des achten Jahrhunderts, deren Mittelpunkt der Untergang des Reiches Israel ist, zu setzen, in dieselbe Zeit, wo auch die Propheten Hosea und Jesaias wirkten. Wenn er aber auch schon unter Jotham und Ahas weissagte, die eigentliche Zeit seiner Blüthe, wo er auch schriftlich niederlegte, was er mündlich geredet, ist die Zeit des Regimentes des Hiskias; dafür spricht die Stelle Jeremias 26, 18. 19: „Zur Zeit Hiskias, des Königs Juda's, war ein Prophet Micha von Maresa und sprach zum ganzen Volke Juda noch ließ ihn Hiskias, der König Juda's, und das ganze Juda darum nicht tödten.“ - Von dem Auftrage, der ihm zu Theil wurde, spricht Micha also: „Dies ist das Wort des Herrn, welches geschahe zu Micha, das er gesehen hat über Samaria und Jerusalem.“ Das Wort des Herrn ist ein Gesammtausdruck; es ist die Summe der Gottessprüche gemeint, die dem Propheten zur Mittheilung an Israel gegeben wurden. Wenn Micha von dem Wort des Herrn sagt, daß er es gesehen, geschaut hat, so bezeichnet er sich damit als einen heiligen Seher, dem der Herr in Gesichten offenbarte, was der Gegenwart noth that und was die Zukunft bringen würde. Samaria und Jerusalem, jenes die Hauptstadt des Zehnstämmereichs, dieses die Hauptstadt Juda's, werden genannt als die Stätten, auf welche sich Micha's Gesichte bezogen; die Hauptstädte repräsentieren die Länder; am ganzen Israel will Gott seine richtende Gerechtigkeit und seine erlösende Erbarmung offenbaren, am Zehnstämmereich mehr die Gerechtigkeit, am Lande Jerusalems mehr seine Erbarmung; wie solches geschehen soll, macht er durch seinen Knecht Micha bekannt.
V. 2-4. „Höret, alle Völker, merke auf, Land, und alles, was darinnen ist; denn Gott der Herr hat mit euch zu reden, ja der Herr ans seinem heiligen Tempel. Denn siehe, der Herr wird ausgehen aus seinem Ort, und herabfahren und treten auf die Höhen im Lande, daß die berge unter ihm schmelzen, und die Thäler reißen werden; gleichwie Wachs vor dem Feuer verschmilzet, wie die Wasser, so unterwärts fließen.“ - „Höret zu, alles Volk! Höret, ihr Völker alle!“ das waren nach 1 Kön. 22, 28; 2 Chron. 18, 27 die letzten Worte gewesen, mit denen der ältere Namensgenosse Micha's, der Sohn Jemlas, über hundert Jahre zuvor seine prophetische Laufbahn geschlossen hatte. Womit jener Micha geendet, beginnt dieser Micha, indem er anhebt: „Höret, alle Völker“; er kündigt durch solchen Eingang an, daß er in den Fußtapfen seines für Gott eifernden Vorgängers einhergehe, daß er nicht blos desselben Namens, sondern auch desselben Glaubens sei. Er ruft aber die Völker alle und die Erde mit ihrer Fülle im Geiste zusammen, damit sie ein Zeugniß der Gerechtigkeit Gottes vernehmen, das er zeuget wider sie, und das Micha im Geiste vorhergeschaut hat. Was schaute denn Micha im prophetischen Geiste? Er schaute den Herrn hervorgehend aus seinem heiligen Tempel, aus jenem geheimnißvollen Allerheiligsten Gottes im dritten Himmel, wo er, der mit seiner Allgegenwart Alles erfüllet, in besonderster geheimnisvoller Weise thront in einem Lichte, da Niemand zukommen kann. Aus diesem seinem heimeligsten Orte sieht der Prophet den Herrn hervorgehen, mit den Völkern zu reden, wörtlich: wider sie zu zeugen, d. i. seine richtende Gerechtigkeit zu offenbaren. Gott thut dies, indem er herabfährt, d. h. indem er, der Allgegenwärtige und doch in seinem Tempel in besonderer Herrlichkeit Wohnende, seine wirksame Kraft auf die Erde, auf die Menschen hin concentrirt; und indem er, herabgefahren, auf die Höhen im Lande tritt, d. h. Alles, was hoch und erhaben und hoffärtig ist, seine Gerichte erfahren läßt. Die Folge dieser richterlichen Offenbarung ist, daß die Berge unter ihm schmelzen, und die Thale reißen, gleichwie Wachs vor dem Feuer verschmilzt, wie die Wasser „so unterwärts fließen“, wörtlich: beim Wasserfall. Die Berge bilden das Hohe und Mächtige in der Creatur ab; ihr Zerschmelzen bedeutet also das Zunichtewerden aller irdischen Größe. Die Thale bilden die Mengen der Völler ab; ihr Reißen, ihr Zerbröckeln, ihr Zerstäuben in der Art, wie Wasser beim Wasserfall in Wasserstäubchen zerstäubt, bedeutet also das Zunichtewerden der Völker. - So ist also das Gesicht, das Micha hat, ein Gesicht von dem Gerichtstage des Herrn. Die volle Erfüllung dieses Gesichtes steht uns Allen noch bevor; am jüngsten Tage wird der Herr sich als den Weltenrichter im allgemeinen Gericht über die Völker offenbaren.
Der Propheten erste Sage,
Füllst die Welt mit Angst und Klage.
Welch' ein Zittern, welch' ein Schrecken,
Wenn, was Finsternisse decken,
Einst der Richter wird entdecken.
Richter der gerechten Rache,
Schenke Nachsicht meiner Sache,
Eh' ich zum Gericht erwache.
Aber der jüngste Tag hat mancherlei ernste Vorspiele in vorhergehenden Zornestagen Gottes; und das allgemeine Gericht am Ende bildet sich vor in vielen vorlaufenden theilweisen Gerichten über einzelne Völker. Auf ein solches ernstes Vorspiel, auf ein nahes Gericht über seine Völker Israel und Juda bezieht der Prophet sein Gesicht, indem er demselben im Folgenden die praktische Deutung giebt:
V. 5. „Das alles um der Uebertretung willen Jacobs, und um der Sünde willen des Hauses Israel. Welches ist aber die Uebertretung Jacobs? Ist es nicht Samaria? Welches sind aber die Höhen Judas? Ist es nicht Jerusalem?“ - Das Alles, was am jüngsten Tage seine vollständigste Erfüllung haben wird, wird sich in Bälde über Israel entladen um der Uebertretung willen Jacobs (der Stammvater wird genannt, aber sein Geschlecht ist gemeint) und um der Sünde willen des Hauses Israel (Haus so viel als Geschlecht). Die Uebertretung Jacobs aber hat ihren Hauptsitz in Samaria; die Höhen, d. i. die Sünden der Hoffart. Juda's, haben ihren Hauptsitz in Jerusalem. In den beiden Königsstädten gipfelt die Sündhaftigkeit beider Länder, gleichwie noch heute Satan seine größte Macht entfaltet in den großen Städten. Darum offenbart sich auch der Zorn Gottes über die Sünde zuerst an den großen Städten.
V. 6. 7. „Und ich will Samaria zum Steinhaufen im Felde machen, die man um die Weinberge legt, und will ihre Steine in das Thal schleifen und zu Grunde einbrechen. Alle ihre Götzen sollen zerbrechen, und all ihr Hurenlohn soll mit Feuer verbrannt werden, und will all ihre Bilder verwüsten, denn sie sind von Hurenlohn versammelt und sollen auch wieder Hurenlohn werden.“ - So spricht der zürnende Gott, Micha redet als sein Dollmetscher. Das Gericht trifft zuerst Samaria, weil es zuerst und zumeist gefrevelt hat und das Maß seiner Sünden zum Ueberlaufen voll war. In einen Steinhaufen, Trümmerhaufen soll es verwandelt werden; aus dem Berge, den Häuser und Paläste zieren, soll ein Weinberg werden. Samaria war von dem Vater Ahabs, dem israelitischen Könige Amri, ums Jahr 822 vor Christo erbaut und Samaria genannt nach dem Namen Semers, von dem er den Berg, wo die Stadt erbaut ward, gekauft hatte. Sie lag etwa 16 Stunden nördlich von Jerusalem auf stattlicher Höhe und war etwa zwei Jahrhunderte lang die Residenz der Könige Israels und zugleich - die Residenz Baals, des Götzen, dem Ephraim nachlief. Was Samaria durch seine Hurerei mit den Götzen der Heiden, da es den lebendigen Gott, seinen Gemahl, verlassen, erworben hat; alle Herrlichkeiten Baals, mit denen es geschmückt war, die Baals-Gärten und Haine, die Baals-Tempel und Altäre und Bilder - all' dieser Glan; soll in die Hände der Heiden fallen „als Hurenlohn“, als Schatz für die Tempel und Priester der Heiden, die mit ihren Götzen buhlten. Dies göttliche Strafurtheil über Samaria ist bald in Erfüllung gegangen. Die Syrer eroberten die sündenvolle Stadt im Jahr 722 nach dreijähriger Belagerung und bevölkerten sie mit fremden Colonisten; unter den Makkabäern aber ward sie dem Boden gleichgemacht. Die Römer bauten sie zwar wieder auf, und Herodes der Große verschönerte sie; aber Micha sollte doch Recht behalten. Heutzutage ist auch von dem Samaria des Herodes nichts mehr zu sehen; der ganze Berg, auf dem die alte Stadt lag, ist jetzt bis oben hinauf beackert; doch ist mitten auf dem Acker noch ein Ruinenhaufen zu sehen, und nicht weit davon liegt ein ärmliches Dorf, Namens Sabustiah.
Solchen Gerichten des Herrn gegenüber ist der Prophet voll Schmerz und Wehmuth, und von diesen Gefühlen beseelt spricht er, nun nicht mehr im Namen Gottes, sondern in seinem eigenen Namen und im Namen der trauernd in die Verbannung ziehenden Einwohnerschaft:
V. 8. „Darüber muß ich klagen und heulen, ich muß beraubt und bloß dahergehen, ich muß klagen, wie die Drachen, und trauern, wie die Straußen.“ - Darüber, wegen des eben geschilderten Gerichts über Samaria. „Beraubt und bloß sein“ ist das Zeichen der Kriegsgefangenen, die vom Feinde weggeführt werden. - Die Weggeführten, und Micha schon jetzt, indem er sich in ihre schreckliche Lage versetzt, klagen wie die Drachen und trauern wie die Straußen. Unter den Drachen sind die Schakale zu verstehen, die im Morgenlande berüchtigt sind wegen ihres Mark und Bein durchdringenden Geheuls, weswegen sie auch bei den Arabern „Söhne des Geheuls“ heißen. Der Strauß ist ein in den Sandwüsten Asiens und Afrika's einheimischer Vogel; das Weibchen hat eine klagende Stimme. Dem Geschrei des Schakals und der Klage des Straußes sind die Jammerlieder ähnlich, die die Kinder Samaria's singen, da sie ihre Stadt verlassen und in die assyrische Gefangenschaft abziehen.
Soweit reicht die Deutung, die der Prophet seinem Gesicht in Beziehung auf Samaria giebt; aber auch Jerusalem, auch Juda ist um seiner Sünden willen der richtenden Gerechtigkeit Gottes verfallen, auch auf Jerusalem bezieht sich das geschaute Gesicht; und daß es sich auf Jerusalem und Juda bezieht, ist des Propheten tieferer Schmerz, denn er ist selbst ein Kind Juda's. Schmerzvoll geht er nun im Folgenden zur Deutung des Gesichts für seine näheren Landsleute über, indem er fortfährt:
V. 9. „Denn ihrer Plage ist kein Rath, die bis in Juda kommen und bis an meines Volkes Thore gen Jerusalem hinan reichen wird.“ - Denn ihrer Plage ist kein Rath - diese Worte gehen noch auf den Jammer Samaria's und bezeichnen zum Schlusse die ganze Trostlosigkeit der durch Gottes Zorngericht über Samaria verhängten Zustande. Die Plage wird bis in Juda kommen - damit schlägt nun Micha den tieferen Ton seiner Trauer an, einen Ton, der bis an's Ende des Kapitels fortzittert. Die Plage wird bis in Juda kommen und bis an meines Volkes Thore gen Jerusalem hinan reichen - so weissagt der Prophet, aber durch die Weissagung des Propheten zieht sich die Klage des Patrioten, dem man es anmerkt, wie sauer es ihm wird, ein Gerichtsprophet für sein Volk und Land zu sein. Aber wie ein Briefträger die Briefe mit schwarzem Siegel ebensogut abgeben muß, als die mit rothem Siegel, so muß auch ein Prediger des Herrn predigen, was Gott ihm aufgetragen, sei es eine Last, sei es eine Lust. Ein Prediger leistet Gott und Menschen schlechte Dienste, wenn er die Plagen verschweigt, die der Herr den Sündern droht; aber er soll, wo er Plagen zu verkündigen hat, sie niemals verkündigen mit lachendem Munde, auch nicht mit gleichgültigen Mienen, sondern wie Micha mit Trauer und mit Thronen, als der auch ein Kind seines Volkes ist und auch leidet, wo alle leiden. Man soll sein Geschlecht nicht blos bedrohen, sondern auch lieben; man soll seine Zeit, wo sie gesündigt hat, nicht blos strafen, sondern auch beklagen; unser Gott will auch für seine Hiobsposten Boten, die nicht blos gehorsam, sondern auch voll Mitleid sind.
Die letzten Verse des ersten Kapitels bilden nun eine nähere Ausführung des ernsten Wortes: „Die Plage wird bis in Juda kommen.“ Der Prophet schildert im Folgenden mit der größten Anschaulichkeit das Kommen der Plage, wie es im Norden Jerusalems beginnend, Jerusalem und über Jerusalem hinaus den Süden trifft. Der Prophet spricht als Einer, der im Geiste Augenzeuge ist der richtenden Gerechtigkeit Gottes, die sich in der Verheerung der Städte Juda's kund thut.
V. 10. „Verkündiget es ja nicht zu Gath, lasset euer Weinen nicht hören; sondern gehet in die Trauer-Kammer und sitzet in der Asche.“ - Wörtlich übersetzt, lautet dieser Vers also: „Verkündiget es ja nicht zu Gath (d. i. zu Kundt); lasset euer Weinen nicht hören zu Acco“ (d. i. zu Weinau); in Beth-Leaphra (d. i. in Aschenheim) sitze ich in der Asche. Drei kurze Sprüche, in denen auf treffende, geistreiche Art die Namen der Städte mit den Ereignissen der Zukunft in Verbindung gesetzt werden. In Gath, der Stadt, deren Namen Kundt bedeutet, soll man nicht künden das Gericht über Juda; denn Gath, eine der fünf Philisterstädte, verarmt, seitdem auf ihrem eigenen Gebiete die jüdische Stadt Moreseth-Gath, die Heimath Micha's, aufblühte, würde jauchzen und jubeln über das Unglück Juda's. Zu Acco soll man das Weinen nicht hören lassen, denn Acco (auch Ptolomais genannt, jetzt St. Jean d'Acre), die Stadt der Phönicier, der neidischen Nachbarn Israels, würde lachen, sobald sie hörte von dem Unheil Juda's. In Beth-Leaphra soll man in der Asche sitzen, denn Beth-Leaphra (sonst Ophra genannt) war eine israelitische Stadt im Gebiete Benjamins.
V. 11. „Du schöne Stadt mußt dahin mit allen Schanden; die Einwohnerin Zaenans wird nicht ausziehen, um des Leides willen des Nächsten Hauses; er wird es von euch nehmen, wenn er da sich lagern wird.“ - Wörtlich: „Hebe dich davon, du Einwohnerin von Saphir (d. i. Schön au), nackend mit Schanden; die Einwohnerin von Zaanan (d. i. Auszug) wird nicht ausziehen, nämlich um dem Feinde Widerstand zu leisten; die Trauer wird in Beth-Ezel (d. i. Haus des Stillstands) nicht ihren Stillstand erreichen.“ Saphir, Zaanan und Beth-Ezel, drei nördlich von Jerusalem genannte, nicht weiter bekannte Städtlein, Stationen, auf denen das feindliche Heer nach Jerusalem vordringt. Auch in diesem Verse lauter Anspielungen auf den Klang oder die Bedeutung der Städtenamen; wer an eine dieser Städte dachte oder sie sah, in dem sollte alsobald der Gedanke lebendig werden an den starken und eifrigen Gott, der die Sünden nicht ungestraft läßt.
V. 12. „Die betrübte Stadt vermag sich nicht zu trösten; denn es wird das Unglück vom Herrn kommen auch bis an das Thor Jerusalems.“ - In genauer Übertragung: „Die Einwohnerin von Maroth (Wimmerort) jammert um ihr Glück; denn u. s. w.“ Maroth die letzte nördliche Station vor Jerusalem; nach ihrer Einnahme konnten auch die Thore Jerusalems nicht mehr sicher sein; Jerusalem, der Herzpunkt des jüdischen Reiches und Lebens, fällt nun auch den Feinden in die Hände. „Das Unglück vom Herrn wird kommen, herabsteigen auf das Thor von Jerusalem“ - eine wörtliche Beziehung auf die Schilderung . Gerichts über Sodom und Gomorra 1 Mose 19, 24. Jerusalem ist ein zweites Sodom geworden, wie Jesaias denn (1, 10) die Häupter Jerusalems geradezu anredet: „Höret des Herrn Wort, ihr Fürsten von Sodom!“ und das Volk von Jerusalem: „Nimm zu Ohren unseres Gottes Gesetz, du Volk von Gomorra.“ Aber auch über Jerusalem hinaus dem Süden zu wälzt sich das Verderben des Gerichts.
V. 13. „Du Stadt Lachis, spanne Renner an und fahre davon; denn du bist der Tochter Zion der Anfang zur Sünde, und in dir sind gefunden die Uebertretungen Israels.“ - Lachis (d. i. die Hartnäckige, Schmerzerobernde) gehörte zum Stamme Juda und lag südlich von Jerusalem an der Straße nach Gaza; früher eine kanaanitische Königsstadt, war sie von Josua dem Stamme Juda zugetheilt und von Rehabeam zur Festung gemacht; es scheint sich aber kanaanitisches Götzenwesen in ihr erhalten und selbst Jerusalem angesteckt zu haben. Sie wird die Strafe für ihre Frevel erhalten und sich eiligst aus dem Staube machen.
V. 14. „Du wirst müssen Gefangene geben, sowohl als Gath. Der Stadt Achsib wird es mit den Königen Israels fehlen.“ - Genauer: „Du wirst müssen Verzicht thun auf Moreseth-Gath (d. h. auf das Erwerbthum von Gath); mit den Häusern zu Achsib (d. i. zu Fehlstadt) wird's den Königen Israels fehlen. Die auf das Erwerbthum von Gath Verzicht leisten muß, ist die Stadt Moreseth selbst; zu Achsib (nicht der Seestadt drei Meilen nördlich von Acco, sondern zum Stamm Juda gehörig, sonst auch Chesib genannt) scheinen die jüdischen Könige Häuser gehabt zu haben, wenigstens würde anders das Wortspiel, dessen Micha sich bedient, nicht recht verständlich.
V. 15. „Ich will dir, Maresa, den rechten Erben bringen; und die Herrlichkeit Israels soll kommen bis gen Adullam.“ - Maresa lag in der Niederung des Stammes Juda nach der Philistergrenze hin und war berühmt durch einen Sieg, den hier Assa über die Mohren erfocht. Der Name müßte, um das hebräische Wortspiel nachzubilden, wiedergegeben werden mit Erb heim: - Erbheim, ich will dir den rechten Erben (nämlich den, der dich erobern soll) bringen. Dies Maresa ist nicht zu verwechseln mit der Vaterstadt Micha's, Moreseth. Adullam, oder Odollam, lag ebenfalls in den Niederungen des Stammes Juda; der Name heißt Bislang; die Herrlichkeit Israels wird kommen bis gen Aislang, Adullam wird der Endpunkt der Herrlichkeit Israels sein, da wird es ganz aussein mit derselben.
V. 16. „Laß die Haare abscheeren, und gehe kahl über deine zarten Kinder; mache dich gar kahl wie ein Holer; denn sie sind von dir gefangen weggeführet.“ - Diese Schlußanrede geht an Zion, an das Volk, an die Mutter der Kinder, die davongeführt werden. Das Ausraufen und Kahlscheeren der Haare war bei den Völkern des Alterthums ein Zeichen tiefer Trauer; den Israeliten war es bei der Trauer durch das Gesetz verboten; wenn Micha also Zion zuruft: Laß dir die Haare abscheeren, so ist in seinen Augen Zion schon ganz zur Götzendienerin geworden, die, wie sie in heidnischer Art gesündigt hat, nun auch in heidnischer Art zu trauern hat. „Gehe kahl über deine zarten Kinder“, wörtlich: „Mache dich kahl wegen der Kinder, die deine Lust sind.“ Kahl wie ein Adler - bezieht sich wohl weniger auf den Goldadler, der sein Gefieder zeitweise verliert und neues bekommt, als vielmehr auf den fahlen und grauen Geier, der einen nackten, kahlen Kopf und Hals hat. -
Wann ist denn nun dies von Micha zuvorgeschaute und hier gedrohte Strafgericht Gottes über Jerusalem und Juda hereingebrochen? Da der Prophet V. 9 sagt: „Die Plage, die Samana trifft, wird auch bis in Juda kommen“ - so haben Viele gemeint, des Propheten Strafdrohung über Juda habe ihre Erfüllung in demselben Ueberfall der Assyrer gefunden, in welchem die Samaria angekündigten Gerichte sich erfüllten. Allein da „die Kinder Zions“ nicht wie „die Kinder Samarias“ von den Assyrern in die Gefangenschaft weggeführt wurden, so kann das Auge des Propheten bei seiner Drohung über Jerusalem nicht an den Assyrern haften geblieben sein, sondern muß die babylonische Zerstörung Jerusalems mitgeschaut haben; denn erst bei der Einnahme Jerusalems durch die Babylonier wurden die Einwohner in die Gefangenschaft geführt.
So bildet denn das ganze erste Kapitel ein großes, düsteres Gemälde, in das kein Schimmer der Hoffnung fällt. Und doch, daß Gott durch seinen Propheten dies Gemälde dem Volke entwerfen läßt, ist selbst eine Thatsache, die Hoffnung macht. Denn hätte Gott Lust am Verderben des Gottlosen, so würde er ihn unverwarnt und ohne erst viele Worte zu verlieren, in's Verderben fahren lassen. Wenn Gott sich noch die Mühe macht zu drohen, so kann dies Drohen nur ein Zeichen seiner Liebe sein, derzufolge er harrt, ob nicht sein Drohen noch den Sünder zur Buße leite. Samaria und Jerusalem haben sich nicht zur Buße leiten lassen, so haben sich die angedrohten Gerichte des Herrn endlich über ihnen entladen müssen. Solches aber widerfuhr ihnen zum Vorbilde und ist geschrieben uns zur Warnung. Darum wer sich läßt dünken, er stehe, mag wohl zusehen, daß er nicht falle. Lasset uns Buße thun und beten, daß die Zeit der Gerichte uns nicht unverhofft betrete; denn mit Feuer wird gesalzen, was milde Zucht verschmäht, und was den Thau verachtet, mit Flammen übersät. Laßt uns die Gnadenzeit nicht versäumen, sondern in ihr bedenken, was zu unserm Frieden dient, so werden wir, wenn der Herr ausgehen wird aus seinem Ort und treten wird auf die Höhen im Lande, daß die Berge schmelzen und die Thäler zerstäuben, Bergung finden in den Wunden Jesu Christi. Das hilf uns, lieber himmlischer Vater! Amen.