Mallet, Friedrich - Das Auftreten des Herrn.
Ev. Matthäi 4. V. 23-25.
Und Jesus ging umher im ganzen galiläischen Lande, lehrte in ihren Schulen und predigte das Evangelium von dem Reiche, und heilte allerlei Seuche und Krankheit im Volke. Und sein Gerücht erscholl in das ganze Syrienland. Und sie brachten zu ihm allerlei Kranke, mit mancherlei Seuchen und Qual behaftet, die Besessenen, die Mondsüchtigen, und die Gichtsüchtigen; und er machte sie Alle gesund. Und es folgte ihm nach vieles Volk aus Galiläa, aus den zehn Städten, von Jerusalem, aus dem jüdischen Lande und von jenseits des Jordans.
Bei Allem, was von unserem Herrn geschrieben steht, dürfen wir nicht vergessen, dass nicht von einem Verstorbenen die Rede ist, sondern von dem, der da spricht: „Ich war tot und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit“; nicht von einem Fernen, sondern von demjenigen, der gesagt hat: „Ich bin bei Euch alle Tage, bis an der Welt Ende;“ nicht von Einem, der etwa anderer Gesinnung geworden wäre und seine Ansicht geändert hätte, sondern von dem geschrieben steht: „Er ist gestern und heute derselbe und in Ewigkeit.“ Wenn wir uns ihm so gegenüber stellen, dann werden wir nicht nur auf seine Worte achten, sondern seine Stimme hören; dann werden wir nicht nur von seinen Taten lesen, sondern sie an uns selbst erfahren; dann wird nicht nur sein Lob und Dank aus weiter Ferne leise zu uns herüberschallen, sondern wir werden selbst von Tag zu Tag lauter frohlocken: Unsre Seele erhebe den Herrn und unser Geist freue sich Gottes unseres Heilandes. Ebenso dürfen wir, wenn wir von denen lesen, die in seiner Geschichte vorkommen, nicht denken, als sei das vergangene Geschichte, sondern es ist eine fortgehende. Diese Menschen mit ihrem Verhalten gegen ihn kommen immer wieder vor. Wenn sie genannt werden, so sind das Originale, deren Bilder unter uns leben, und wo kein Name genannt wird, da ist eine leere Stelle gelassen, in die Viele ihre Namen schreiben können, so dass, wenn wir etwa mit den Toten reden könnten und etwa fragen wollten: Wie heißt der Schächer? wir nicht einen, sondern viele Namen hören würden und wir so würden gewahr werden, dass es nicht einen Schächer gibt, sondern eine Menge. Daran denkend, lasst uns sehn, was hier in unserem Text von dem Herrn und von den Menschen geschrieben steht.
Wir reden heute von dem Herrn und betrachten seine Heimat, sein Tun, seine Wunder.
I.
Damals war Jerusalem die Stadt Gottes. Hier stand das Haus Gottes, dass er sich selbst hatte bauen lassen; hier waren die herrlichen Gottesdienste Jehovas; hier waren seine Priester, seine Diener; hier waren die Theologen Israels und alle Ältesten des Volks; hier begegnete sich die jüdische und heidnische Welt; hier war der weiteste Schauplatz einer großen Wirksamkeit; hier hätte der Herr sich eigentlich immer aufhalten müssen; hier war seine Heimat nach seinem eignen Ausspruch: Muss ich nicht sein in dem, das meines Vaters ist? Und doch hat er Jerusalem und Juda sichtbar gemieden. Auf die Feste ist er immer allen Ordnungen Gottes untertan hinauf gezogen und mitten unter dem versammelten Volk gewesen; aber er zog immer zuletzt hinauf und immer mit dem Volk wieder hinweg. Dagegen blieb Galiläa, auch nachdem er Nazareth verlassen hatte, seine Heimat, das arme Galiläa, das von Juda und Jerusalem durch das zwischenlegende Samaria getrennt war, das keine ausgezeichnete Stadt, keine ausgezeichneten Persönlichkeiten besaß, dass ringsum an heidnische Länder grenzte und mit Heiden in Verkehr stand, das darum auch verächtlich das heidnische Galiläa genannt wurde, und von dem das Wort galt, was man von Nazareth sagte: was kann von Nazareth Gutes kommen? Es lebten viele arme geringe Leute hier, verlassen und vernachlässigt, eine Herde ohne Hirten, und gerade dieses Land wählte der Herr zu seiner Heimat, unter diesem Volk zog er einher, ihm widmete er vorzugsweise seine kostbare Zeit, zu ihm kehrte er immer wieder zurück, aus diesem armen Volk wählte er seine Jünger und Jüngerinnen; die Erstlinge seiner Gemeinde waren lauter Galiläer, weswegen auch die Christen im Anfang zu Jerusalem verächtlich Nazarener und Galiläer genannt wurden. Warum hat der Herr denn das getan? warum ist er nicht in Jerusalem in seines Vaters Haus geblieben? warum hat er Galiläa zu seiner Heimat gewählt und behalten bis ans Ende? Aus vielen Antworten nur eine. Er ist der Herr, der von sich sagen kann: Wer mich sieht, der sieht den Vater; von seinem Vater aber steht geschrieben: Er sieht herab auf das Niedrige, das im Himmel und auf Erden ist. Wer ist denn niedrig im Himmel? Alle die im Himmel sind, die Engel im Himmel, die himmlischen Fürsten und Herrschaften und Obrigkeiten sind über alle Geschöpfe erhaben, aber sie sind alle niedrig Gott gegenüber. Sie sehen alle zu ihm anbetend hinauf. Wie groß und herrlich sie auch sind, Gott gegenüber fühlen sie sich klein und gering. Das ist ihr Größtes, dass sie ihn anbeten, ihm dienen, ihn ehren, zu ihm hinauf sehen dürfen, und Gott sieht auf sie herab mit Wohlgefallen. Gott sieht nicht über sich, denn über ihm ist Niemand, er sieht die Niedrigen an, die im Himmel sind. Auf Erden aber ist's nicht, wie im Himmel. Hier gibt's Wesen, die nicht niedrig und klein, die groß und erhaben sind, die nicht an Gott hinaufsehen, sondern auf ihn herab, die nichts von ihm lernen können, denn sie sind weiser als er, die seine Gnade und Hilfe nicht nötig haben, denn sie sind so mächtig, dass sie sich selbst helfen können, und so gut, dass sie noch Ansprüche auf göttliche Belohnung haben. Solche große Menschen, solche weise, gelehrte, gute und mächtige Leute, die auf Alles herabsahen, und die verlangten, dass man an ihnen hinaufsehen sollte, gab es in Jerusalem unter den Sadduzäern, Schriftgelehrten, Pharisäern, Hohenpriestern eine Menge. Das waren denn auch die Leute, die das Haus seines Vaters in eine Mördergrube verwandelt hatten. Unter diesen Menschen konnte der Herr nicht bleiben. Da war er ganz fremd, während in Galiläa doch immer noch etwas himmlisch Heimatliches war. Es wohnten freilich auch hier keine Engel, sondern sehr sinnliche Menschen, zum Teil recht verkommene. Aber unter diesen armen Menschen, gab es doch eine Menge Niedrige, die sich Gott gegenüber niedrig, sündig, arm und elend fühlten, die tief in den Staub gebückt noch zu Gott hinaufsahen, ja die es nicht wagten zu ihm hinauf zu blicken, die von fern standen, wenn Andere stolz zum Tempel hinauf gingen, und das Gebet noch nicht verlernt hatten: Gott, sei mir Sünder gnädig! Das waren Menschen, die der Herr ansehen konnte, denen er konnte näher treten, mit denen er reden konnte, in deren Mitte er den Willen seines himmlischen Vaters, der ihn zu den Verlorenen und den Niedrigen geschickt hatte, erfüllen konnte. Darum hat er Galiläa zu seiner Heimat erwählt. Und da wohnt er noch immer unter den Niedrigen, das sollten wir doch nie vergessen. Wir wollen immer hoch hinaus, wir sehen das Große an, was Etwas ist auch vor den Augen der Welt. Auch die Sache des Herrn sähen wir gern herrlich, und auch als Jünger des Herrn kann man leicht auf geistliche Höhen kommen, wo man nicht nur den Blick hat über sich, der immer demütig, klein und niedrig erhält, sondern wo man herab sieht auf Solche, die unter uns sind, auf die armen Menschen unter uns, die der Welt noch angehören, die ohne Erkenntnis, ohne Licht, ohne Gnade in der Finsternis dahingehen, oder auf die armen Christen, die noch arm an Erkenntnis, schwach im Glauben, weit zurück in der Heiligung sind. Wir haben doch mehr, wir wissen doch mehr, wir können doch mehr; wir sind schon so weit fortgeschritten, wir haben schon eine höhere Stufe erreicht, von der man nicht anders kann als auf Andere herabsehen, auch indem man sich zu ihnen herablässt. Ach, wo sind wir hingeraten, wenn wir so denken und fühlen. In Galiläa wenigstens sind wir nicht mehr, und in dies arme verlassene und verachtete Land der Niedrigen, dahin müssen wir zurückkehren und neben und bei den Elenden und Niedrigen unsre Stätte finden, wenn wir zu denen gehören wollen, die der Herr ansieht, und unter denen er wohnt und wandelt.
II.
Was hat aber der Herr in Galiläa getan? Er hat da nicht irgendwo seine Residenz aufgeschlagen und hat sich da aufsuchen und verehren lassen, sondern er ist umhergezogen im ganzen Lande, in Städten und in Dörfern. Da ist kein Ort so klein gewesen, in dem er nicht eingekehrt wäre, kein Haus so einsam und so niedrig, an dem er wäre vorübergegangen, ohne es zu beachten. Es sollten ihn Alle hören und sehen, auch die Kinder und die alten Leute und die Frauen, die das Haus nicht verlassen konnten, und weil es überall solche gab, die nicht zu ihm kommen konnten, darum kam er zu ihnen. Der Eifer des Herrn Zebaoth, der Liebeseifer seines himmlischen Vaters, der da will, dass allen Menschen geholfen werde, hat ihm keine Ruhe gelassen. So ist er umhergezogen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, wie wenn Einer in einem wüsten Lande suchend umherzieht und keine Hitze und Mühe scheut, weil Geld in dem Lande zu finden ist, oder Perlen und Edelgesteine, wo jeder Fund die Mühe und Beschwerde des Suchens überschwänglich lohnt. So ist er umhergezogen.
O, wie wenig sind die Seelen der Menschen auf Erden und wie hoch sind sie im Himmel geachtet! Sie sind das Gold und Silber des Hauses Gottes. Sie sind die Kleinodien seines Herzens, die er verloren hat, und sein Sohn ist darum in die Welt gekommen, sie zu suchen und in diesem Suchen ist er unermüdlich gewesen und ist es noch, und alle Mühen und Beschwerden und alle schweren und trüben Erfahrungen, die er dabei gemacht hat, hat er für nichts geachtet. Und wenn er einen Menschen gefunden hat, dem er helfen, den er seinem himmlischen Vater zuführen konnte, und wenn's auch ein armer Sünder und Zöllner war, dann hat er sich gefreut wie Einer, der einen großen Schatz gefunden hat. Er hat in dieser heiligen und schweren Arbeit sich und seinen Jüngern keine Ruhestunde gegönnt, er hat sich oft bis zum Ermatten des Leibes und der Seele angestrengt, er ist einmal ermüdet in so tiefen Schlaf versunken, dass ihn selbst der Sturmwind und die Wogen des Meeres nicht aufwecken konnten, - weil er wusste, dass seine Zeit so kurz war. Jetzt kann ein Prediger 30, 40, 50 Jahre predigen; aber der Herr wusste, dass ihn die Welt nicht lange würde dulden und tragen können; er wusste, dass seine Zeit sehr kurz war; er vergleicht sie daher selbst nur einem Tage, der nur einige Arbeitsstunden hat, dem bald die Nacht folge, wo er nichts mehr tun könne. Darum muss er sagen: Ich muss wirken, so lange es für mich Tag ist. Darum konnte er sich und seinen Jüngern keine Ruhe gönnen. Darum ist sein ganzes Leben mehr ein Wandeln als ein Wohnen gewesen, ein Umherziehen von Ort zu Ort, so dass, als sein Lebensabend kam, er sagen konnte: Ich bin überall gewesen, und man von allen Leuten, die in diesem finstern Lande wohnten, sagen konnte: Sie haben ein großes Licht gesehen.
Und als was ist er denn umhergezogen, was hat er denn unter diesen Leuten getan? Die Schrift antwortet: er hat sie unterrichtet in den Schulen und hat gepredigt von dem Königreich. Er ist also nicht als der Sohn Gottes, ja nicht einmal als ein Prophet und Gesandter Gottes aufgetreten, sondern er hat den niedrigsten Namen angenommen, den Namen eines Rabbi, eines Lehrers, nicht etwa eines Schriftgelehrten oder Theologen, sondern eines armen Lehrers armer Jünger, der nicht einmal ein eigenes Haus oder eine eigene Schule hat, sondern in den Judenschulen oder unter freiem Himmel die Leute um sich her versammelt. Er hat sich auch als Mensch erniedrigt, um nur einen Raum in der Welt zu gewinnen und dem Menschen mit seiner Gnade und Liebe und Wahrheit nahe zu kommen. Wenn die Sonne ein persönliches Wesen wäre und der Erde nicht mehr von ferne leuchten wollte, sondern gern zu ihr kommen wollte, um sie selbst in eine Welt des Lichtes und Lebens zu verwandeln, da müsste sie ganz klein werden, um Raum auf Erden zu gewinnen. So hat sich unser lieber Herr ganz klein gemacht und ist in der Niedrigkeit eines Rabbi umhergezogen, hat sich auch so nennen lassen von Jedermann, und seine Jünger sind's auch so gewohnt gewesen ihn so zu nennen, dass selbst nach seiner Auferstehung, wo Thomas ausrief: mein Herr und mein Gott! eine Magdalena ihm zu Füßen sank mit dem Ausruf: Rabbuni, mein Lehrer! Und wir dürfen ihn noch so nennen, ja, er kann nicht unser Herr und unser Heiland werden, wenn er nicht zuvor unser Lehrer geworden ist; ja er redet zu uns, als wenn all sein Begnadigen, sein Helfen, sein Heilen ein Lehren wäre. Er sagt: Lernt von mir, so werdet ihr Ruhe finden. für eure Seelen. Er vergleicht das allergrößte Ereignis des Himmels und der Erde, sein Kommen von Oben, von Gott in diese Welt einem Säemann, der ausging zu säen: in dieses demütige Wort kleidet er seine ganze Geschichte. Die erste und älteste und gewöhnlichste Arbeit auf Erden ist das Säen; es ist auch die Arbeit, die zu den niedrigsten gerechnet wird, eine Arbeit, wobei man nicht groß und geehrt und herrlich werden kann. Zugleich aber ist ein Säemann, der ausgeht zu säen, ein Bild des Friedens, der Stille und der Ruhe bei der Arbeit und ebenso ein Bild des Vertrauens und der Hoffnung, Der Same, den er ausstreut, ist ihm lieb; es ist sein eignes Gut, es ist sein eignes Brot, von dem er sich nähren muss, und er streut es aus, er wirft es weit von sich weg, er weiß, dass manches Körnlein verloren geht, aber er streut es aus in Hoffnung, es werde aus der Saat eine Ernte kommen, und es werde das Körnlein, was er ausgestreut hat, 30- und 60- und 100-fältig wiederkommen. Und das ist wirklich die Arbeit des Herrn auf Erden gewesen. Er hat den Samen mitgebracht aus dem Hause seines himmlischen Vaters, und er ist umhergezogen in Galiläa wie ein Säemann auf seinem Acker. Unterrichtend und predigend hat er den Samen ausgestreut in Hoffnung und ist nicht müde geworden, obgleich er wusste, dass manches Samenkorn zertreten oder von den Vögeln des Himmels würde verzehrt werden, dass selbst manches von denen, die aufgehen, von der Hitze würde versengt oder von den Dornen erstickt werden. Er hat unterrichtet die Kinder, die Unwissenden, und das hat er besonders in den Schulen getan; und er hat gepredigt das Königreich öffentlich, wenn Viele um ihn versammelt waren, das Königreich Gottes, das im Himmel ist, das Gott den Menschen bereitet hat, seine Rechte, seine Sitten, seine Schätze, seine Herrlichkeiten; er hat den ganzen Rat Gottes verkündigt, die tiefen Gedanken und wunderbaren Ratschlüsse seines himmlischen Vaters, obwohl er wusste, dass Kinder und Frauen, Ungebildete und Unwissende ihm gegenüberstanden, denen, was er sagte, zu hoch oder zu tief war; er hat es doch gesagt; er hat daran gedacht, dass Gott den Geist des Menschen dazu bestimmt hat, Gott zu vernehmen, Gottes Gedanken in sich aufzunehmen, wie das Auge das Licht der Sonne in sich aufnimmt, und das, was den Weisen und den Klugen eben darum, weil sie so weise und klug sind, verborgen bleibt, den Unmündigen offenbaren kann. Und was der Herr so selbst getan hat und dadurch als die höchste und herrlichste Arbeit auf Erden geheiligt hat, das hat seitdem nicht aufgehört; das setzt er fort bis auf den heutigen Tag, und überall, wo das Himmelreich ist hingekommen, da ist dies Säen vorausgegangen, und da ist aus diesem Säen das Himmelreich emporgekommen. Und so ist der Herr auch jetzt noch fort und fort in der Welt ein Säemann. Er erscheint nicht groß und mächtig auf Erden als ein König, der befiehlt und gebietet, der herrscht und regiert. Er hat ein Amt auf Erden eingesetzt und in beständiger Wirksamkeit gehalten bis auf den heutigen Tag. Das ist aber kein Herrscheramt. Die Diener desselben sollen nicht groß und mächtig einhergehen, sollen keine Regenten, keine Herrscher, keine Gewaltigen sein: sie sollen Lehrer und Prediger sein; sie sollen Arbeiter sein auf seinem Land, Säeleute auf seinem Acker, die in seinem Dienste stehen, und die es wissen, dass sie selbst keine großen Dinge tun können und auch nicht tun sollen, die mit den Größten unter allen Arbeitern, die der Herr je auf Erden gehabt hat, sagen müssen: So ist nun der, der da sät und begießt, nichts; der aber ist Alles, von dem das Gedeihen kommt. So ist der Herr in seinen Dienern fortwährend klein und niedrig in der Welt. Die Könige herrschen auf Erden und die Gewaltigen breiten um sich her eine große Majestät aus, und in ihren Dienern und ihren Beamten wird diese Herrschaft offenbar und geübt. Aber der Herr erscheint fort und fort in der Niedrigkeit eines Predigers, eines Lehrers des Himmelreichs in seinen Dienern, und er fordert und verlangt vorerst gar nichts von den Menschen, als dass sie ihn hören, und dass sie sein Wort so viel wert halten, einmal dabei stille zu stehen und es zu bewegen in ihrem Geiste und ihrem Herzen.
III.
Aber in dem Leben des Herrn berühren sich die äußersten Gegensätze. Dieser Jesus von Nazareth, der als jüdischer Rabbi in Galiläa umherzieht, ist doch umgeben mit einer Herrlichkeit, vor der alle Herrlichkeit der Welt erbleicht. Es ist etwas auf Erden, vor dem alle menschliche Größe verschwindet, vor dem alle menschliche Hoheit sich beugen muss, ja wo man sagen muss: Wie gar nichts sind doch alle Menschen! Das ist das menschliche Elend. Ihm gegenüber sind die Größten, Mächtigsten und Weisesten der Erde gar nichts. Sie können sich nicht selbst davor schützen und können Niemand daraus erretten. Es kehrt in die Paläste so gut ein wie in die Hütten. Es gibt Könige, die blind sind, und es gibt Millionäre, die lahm sind, und es gibt Niemand, der sein Haus dem Tod verschließen kann. Der reiche Mann stirbt sowohl wie der arme Lazarus. Aber so hat nie ein Mensch dem menschlichen Elend gegenübergestanden, als dieser Jesus von Nazareth. Er steht über ihm in göttlicher Macht und Majestät in der Weise eines Menschen, der in der Höhe Gott der Herr ist. Es begegnet ihm in jeglicher Gestalt, und er gebietet ihm, und es neigt sich vor ihm, es weicht vor ihm hinweg wie die Schatten der Nacht vor der aufgehenden Sonne, und mitten in dem Elend der Menschen erscheint auf einmal die Majestät, die die Schrift schildert in den Worten: So er spricht, so geschieht's; so er gebietet, so steht es da. Was sind alle Taten der Mächtigen und Gewaltigen der Welt gegen die Taten des Herrn Jesus; ja was sind selbst alle Taten der Propheten und der größten unter den Gesandten und Menschen Gottes gegen seine Taten! Auch Moses, der Mittler des alten Bundes, hat Zeichen und Taten und Wunder verrichtet, vor der die königliche Macht sich beugen musste, aber wie verschwinden seine Taten gegen die seines Herrn. Seine Taten waren Taten des Schreckens; es waren Plagen, es waren Gerichte. Aber die Taten des Herrn sind lauter Wohltaten, lauter Liebestaten; aus jeder leuchtet nicht nur die Herrlichkeit der Macht, der Majestät Gottes, sondern zugleich mit ihr die Herrlichkeit der Liebe Gottes, die Offenbarung seiner großen Barmherzigkeit. Die Taten Moses verbreiten Schrecken und Entsetzen, die Taten des Herrn verbreiten Freude und Wonne. Moses durchzieht mit seinen Taten Ägypten wie eine Gewitterwolke, die Alles überschattet und Schrecken und Entsetzen verbreitet. Der Herr geht mit seinen Taten wie eine Sonne auf, die das ganze Land überstrahlt und überall den Fluch in Segen verwandelt. Seine Taten rufen es laut in die Welt hinein: Er ist der Verheißene, er ist der Heiland, der da hilft, er ist der Herr, der auch vom Tode errettet! Zu ihm darf man kommen, wie man ist, mit allen seinen Sünden, mit allem seinem Elend: er nimmt uns an und hilft uns! Man braucht ihm nichts zu bringen, kein Geschenk, keine Gabe; er fordert nichts von uns, um es zu vergelten; er macht auch keine Bedingung; er fordert nicht etwa vorher eine Besserung und nachher einen Dank; er verlangt gar nichts, als dass man zu ihm kommt und zu ihm sagt: Ich habe deine Gnade, deine Hilfe nötig; ich bin so elend; wenn du mir nicht hilfst, dann kann mir Niemand helfen, dann muss ich sterben in meinen Sünden, dann muss ich umkommen in meinem Jammer. Er verlangt nichts, als dass wir seiner Liebe vertrauen sollen, dass wir an seine Macht glauben sollen. So hat er sich dargestellt allen Menschen gegenüber; so haben ihn erfahren Alle, die sich so an ihn gewandt haben, ohne eine einzige Ausnahme. So war er, und so ist er auch heute noch. Selig sind die Armen, selig sind die Leidtragenden, selig sind die Hungernden und Dürstenden nach Gerechtigkeit, selig sind die Elenden, selig die Menschen, die unter der Last der Sünde und des Todes weinen; denn für sie ist er da ihre Traurigkeit in Freude zu verwandeln. Wo die Menschen reich sind, wo sie sagen: ich habe genug und bedarf nichts, wo sie keine andere Tränen kennen als die der Leidenschaft und der weltlichen Traurigkeit: da ist er nicht, und da wird es nicht erfahren, was er ist, und was er den Menschen sein kann und sein will. Aber wo die Menschen sich arm und elend fühlen, wo sie es erkennen, dass sie einen barmherzigen Heiland und einen allmächtigen Helfer nötig haben: da ist er, und da offenbart er sich, und da muss endlich jede tiefe Klage sich verwandeln in den Freudenruf: Meine Seele erhebt den Herrn und mein Geist freuet sich Gottes meines Heilandes; denn er hat große Dinge an mir getan. Amen!