Krummacher, Gottfried Daniel - Der Reichtum der Güte Gottes

Krummacher, Gottfried Daniel - Der Reichtum der Güte Gottes

(Zum Jahresanfang; gehalten am ersten Sonntage des Jahres 1834)

„Seid gegrüßt!“ Mit diesen holdseligen Worten redete der auferstandene Jesus jene gottseligen Weiber an, nach Matth. 28,9 und diese eilten auf ihn zu, fielen vor ihm nieder und rührten seine Füße an.

Jesus grüßte als der Auferstandene, der durch sein Leiden und Sterben Frieden und neues Licht, Freude und Leben zuwegegebracht, der darüber nach seinem gnädigen Wohlgefallen verfügte, der diese Güter wirklich und wesentlich mitteilte und sie zu genießen gab, wie er es noch stets thut. Indem sein lebendigmachender Mund samt seinem Herzen nun diesen Gruß aussprach, machte er seinen Gruß zu einem Schöpfungswerk und brachte den Frieden und die Freude in ihnen hervor, wovon sein Mund redete. Statt der bisherigen tiefen Trauer über Jesu Tod bemeisterte sich ihrer nun die innigste Freude über sein Leben, Frieden statt Verwirrung, Glaube statt Zweifel. Dies hatte denn auch die lieblichsten Wirkungen. Voll Freude und Vertrauen eilten sie nahe an ihn hinzu; voll Liebe rührten sie ihn an; voll Demut warfen sie sich ehrfurchtsvoll vor ihn nieder; sie reden kein Wort, dazu sind sie allzubewegt, allzu empfindungsvoll. Sonderbar! Der Magdalene sagt er: „Rühre mich nicht an,“ und diesen erlaubt er's; so verschieden sind seine Führungen mit gleich lieben Seelen.

Es ist in diesen Tagen viel gegrüßt worden; es ist herzlich, es ist ohne Herz, es ist mit Innigkeit, es ist oberflächlich, betend, gläubig aus Gott in Christo geschehen, meistens aber obenhin, ohne Verstand, in natürlicher Weise. Wie gern wir auch möchten, so dürfen wir das Neujahr-Wünschen und Grüßen nicht als ein Vorhandensein der Liebe betrachten. Das aber wird die Hauptsache sein, ob uns auch der lebendige Heiland gegrüßt hat, daß wir uns auch haben zu ihm nahen, seine Füße auch haben umfassen dürfen. Ach, sein Grüßen ist lauter Segen! Ach, er wolle einen Hauch seines Grußes in den jetzt zu haltenden Vortrag legen! Er grüße auch uns!

Psalm 36,7-11

Deine Gerechtigkeit stehet wie die Berge Gottes, und dein Recht wie große Tiefe. Herr, du hilfst beiden, Menschen und Vieh. Wie teuer ist deine Güte, Gott, daß Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel trauen! Sie werden trunken von den reichen Gütern deines Hauses, und du tränkest sie mit Wollust, als mit einem Strom. Denn bei dir ist die lebendige Quelle, und in deinem Licht sehen wir das Licht. Breite deine Güte über die, die dich kennen, und deine Gerechtigkeit über die Frommen! Wir eröffnen die Vorträge dieses neuen Jahres mit einer Betrachtung des wohlthätigen Reichtums der Güte Gottes, und zwar

1. in seiner Quelle,

2. in seinen wünschenswerten Erweisungen.

I.

Die Quelle alles leiblichen und geistlichen Guten ist Gott. Deine Güte, o Gott, deine Güte, heißt es zweimal in unserm Text. Eigentlich heißt es Barmherzigkeit, und ich bemerke das gern, teils, weil die Güte gegen Elende sich als Barmherzigkeit erweiset, und also erinnert diese Benennung der Güte sowohl an sie selbst, als an unser Elend; teils schließt diese Benennung das Mittleramt Christi in sich, dem wir Elende alles und jedes Gute verdanken, und zwar gern und gläubig.

Und seine Barmherzigkeit ist groß. Ausdrücklich wird Gott die Quelle des Lebens genannt, denn er ist das Leben selbst. Es giebt ein mehrfaches Leben, das aus ihm, als dem gemeinschaftlichen Born, quillt. Es ist ein vegetabilisches Leben bei den Pflanzen, ein animalisches bei den Tieren, wozu auch der menschliche Körper gehört, das durch Krankheiten gehemmt, durch den Tod aufgehoben, durch Gesundheit begünstigt wird. Es giebt ein geistiges Leben der Geister, welches in den Verstandes- und Willenskräften besteht, die entweder von der Sünde vergiftet sind, welches bei uns Sündern der Fall ist, oder sie sind von Heiligkeit durchdrungen, wie bei den heiligen Engeln und vollendeten Gerechten. Das köstlichste Leben aber ist das geistliche Leben, das man durch die Wiedergeburt aus Wasser und Geist erlangt, das in der Ähnlichkeit mit Gott besteht, das die Tüchtigkeit zu geistlichen, heiligen Verrichtungen in sich faßt, und das der Anfang des ewigen Lebens ist. Von diesem verschiedenartigen Leben ist Gott, wie die Quelle und der Urheber, so der Erhalter und der Regierer. Läßt er im Frühling seinen Odem aus, so erneuert sich die Gestalt der Erde, und es regt sich ein tausendfaches Leben, daß es in der Luft schwirrt und summt, und wir würden, wenn wir Augen dazu hätten, Wunder an Wunder sehen. Er läßt Gras wachsen für das Vieh und Saat, zunutze den Menschen; und ob wir sein Walten merken möchten, ist es nicht alle Jahr das Nämliche mit der Üppigkeit der Saaten, der Fluren und Bäume? Daß es dem Leib samt der Seele wohlgehe, wie Johannes seinem Gajus wünscht, ist sein Geschenk, so wie Paulus die Schwachheiten und Anfechtungen, die er nach dem Fleisch litt, gelassen aus des Herrn Hand annahm, obschon sie demütigend und lästig waren. Das höchste Leben, vor welchem wir tot sind in Sünden. Gott ist die Quelle aller Staffeln des Lebens. Es kann auch im Geistlichen einem glimmenden Dochte gleichen; es kann das geistliche Leben wie in Ohnmacht liegen, daß wenig Lebensspuren wahrzunehmen sind, daß die Seele mit David betet: „Mache mich lebendig durch dein Wort!“ daß sie in Kraftlosigkeit und Mutlosigkeit hinsinkt. Aber wenn der Herr seinen Odem ausläßt, so wird der Geist lebendig wie bei Jakob; die Hoffnung wird nicht nur lebendig, sondern auch überhaupt die Erkenntnis, der Fleiß in guten Werken, der Glaube, die Liebe, die geistliche Wirksamkeit kommt recht in Gang. man kann sich freuen, loben und danken und sich erweisen als einen Diener Gottes.

Namentlich ist Gott die Quelle des ewigen Lebens in der Herrlichkeit, wo er im höchsten Maße und ohne Abwechslung in allem alles sein wird. Ist er aber die Quelle des Lebens, so sollen wir nach ihm dursten, so sollen wir auf ihn trauen, so sollen wir ihn preisen und an den Sohn glauben, denn die das thun, haben das ewige Leben und werden nimmermehr sterben. So mögen wir denn für heute und für alle Tage wissen, an wen wir uns zu halten, und zu wem wir uns zu wenden haben, um zu leben.

Der Psalmist verbindet damit eine zweifache, wichtige Beziehung, wenn er hinzusetzt: „In deinem Licht.“ Er stellt Gott als ein mitteilbares Licht, als eine Sonne vor, die erleuchtet. Licht ist eine der köstlichsten Kreaturen und die erste unter allen, dient auch als Bild der vortrefflichsten Dinge, des Himmels selbst, der ein Erbteil im Licht der heiligen Menschen, welche Kinder des Lichts, der ganzen Gnadenanstalt, welche im Gegensatz gegen die Finsternis genannt wird. Licht ist ein Bild der Heiligkeit, und im Lichte wandeln, heißt heilig wandeln. Licht ist ein Bild der Freude, so wie im Finstern wandeln oder sitzen eine Traurigkeit bezeichnet. Die heiligen Engel zeigen sich als glänzende Lichtgestalten. Jesus selbst fing bei seiner Verklärung an zu leuchten, die Gerechten werden auch einst leuchten wie des Himmels Glanz. David sagt von Gott selbst: „Licht ist das Kleid, das du an hast.“

Saulus sah den Herrn Jesum als ein Licht vom Himmel, und er nennt sich selbst das Licht der Welt und verheißet dem, der ihm nachfolget, das Licht des Lebens. „Bei dir ist lauter Licht,“ sagt Daniel, und Johannes sagt: „Gott ist Licht und keine Finsternis in ihm.“ Namentlich ist nach der Beschreibung Pauli alles Licht, was offenbar wird oder macht, und unser Text belehrt uns, daß dieses offenbar machende Licht nur von Gott ausgeht: „Denn in deinem Licht sehen wir das Licht.“ Ja, wir sehen nicht nur das Licht, sondern auch die Finsternis unseres Herzens, wie in der Natur die Schatten desto schärfer hervortreten, je heller die Sonne scheint: „Du machst meine Finsternis licht,“ sagt David. Je mehr Licht zur Selbsterkenntnis wir von Gott aus seinem Wort empfangen, desto mehr werden wir durch die Entdeckung unserer Finsternis gedemütigt. „Stellst du,“ wie Moses sagt, „unsere unerkannte Sünde ins Licht vor dein Angesicht,“ desto mehr sehen wir uns veranlaßt, zu bekennen, daß in uns nichts Gutes wohnt, ja, daß das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf und immerdar. Je mehr wir in der Erkenntnis wachsen, desto mehr werden wir bekennen, sie sei nur Stückwerk, je mehr wir in der Heiligkeit zunehmen, desto größer wird uns der Abstand vom Ziele der Vollkommenheit erscheinen, je gläubiger wir sind, desto unbedeutender wird uns unser Glaube vorkommen, und als nicht nennenswert, und je mehr ich lieb', je mehr ich find', daß ich dich lieben sollte. Je weniger Licht aber jemand hat, für desto weiser und besser hält er sich, desto aufgeblasener und ungelehriger ist er. „Nun siehet dich mein Auge,“ sagt Hiob, „darum schuldige ich mich und thue Buße in Staub und Asche.“ (Hiob 42,5.6) Hört den hocherleuchteten Apostel sagen: „Ich bin nichts!“ Hört, wie er, im Licht das Licht sehend, Gott sogar als den Urheber des Wollens, will geschweigen des Vollbringens preist. Indem aber das Licht uns unsere Finsternis offenbar macht, sehen wir in demselben auch das Herz Gottes voll Liebe, sehen wir die Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi und all' das Gute, was sonst nicht zu sehen, wenn wir nicht in seinem Licht stehen. Ohne dieses Licht können wir noch wegen unserer Sündenschuld zittern, wie dringend uns auch gepredigt wird, sie sei bezahlt. Ohne dieses Licht kann uns ein über das andere Mal verkündigt werden, daß es je gewißlich wahr sei, das Jesus Christus in die Welt gekommen sei, Sünder selig zu machen, und wir fassen dennoch kein Zutrauen. Die Güte Gottes geht an uns vorüber, aber ohne sein Licht bleibt uns das Licht selbst unsichtbar. Was ist ohne dieses Licht die Heilige Schrift? Ein versiegeltes Buch, kein Buch für elende, sündige Menschen, keine Arzenei für Kranke, sondern ein Arbeitsfeld für Gesunde. Aber wie lieblich gestaltet sich dies alles um, wenn uns die Augen geöffnet werden, die Wunder in seinem Gesetz zu sehen! Dann bedürfen wir keines Auslegers mehr, sondern wir haben nun selbst seine Herrlichkeit gesehen, dann leuchten uns die Glaubensgründe in ihrer stärkenden zuverlässigen Festigkeit so ein, daß wir nicht zweifeln können. Dagegen bleibt nichts als Finsternis und Schmerzen in dem Herzen, wenn sein Gnadenglanz gebricht.

II.

Der heilige Psalmist preiset den wohlthätigen Reichtum der Güte Gottes nach unserm andern Teile wegen ihrer kostbaren, begehrenswerten Erweisungen und Wirkungen. Zuerst preiset er sie im allgemeinen: „Du hilfst beiden, Menschen und Vieh.“ Er thut alle Hilfe, so auf Erden geschieht, er giebt Regen und fruchtbare Zeiten und füllet unsre Herzen mit Speise und Freude, obschon das Vieh ihm nicht Bewußtsein danken kann, und der Gottlose es auch nicht will, sondern murrt und praßt und nicht den Herrn in dem Angenehmen erkennt, das ihm wiederfährt, sondern es auf Rechnung des Zufalls und seiner Geschicklichkeit und Klugheit setzt, Gott aber nur die Schuld der Widerwärtigkeiten beimißt. Möchte er dagegen in diesen seinen Ernst, in jenem seine Güte erblicken und sich durch beides zur Buße leiten lassen! Welchen großen Vorteil hätte er davon! Insbesondere erweiset sich die göttliche Barmherzigkeit an den Menschenkindern, sie verschafft ihnen sicheren Schutz, sodaß sie unter dem Schatten seiner Flügel trauen mögen. Wie gut kommt uns dieses nicht bei dem Antritt eines neuen Jahres zu statten! Wir wissen nicht, was uns begegnen kann, wie ein verschlossenes Buch liegt es vor uns, seine Blätter sind beschrieben, aber ihr Inhalt ist uns unbekannt. Daß es blos angenehmer Art sei, läßt sich nicht mit Wahrscheinlichkeit für einen jeden vermuten. Was für Unannehmlichkeiten es sein mögen, in welchem Maße, von welcher Seite, in welcher Dauer sie uns treffen mögen, ist uns unbekannt, wir haben kein erlaubtes Mittel, die Zukunft zu erforschen, und keine Macht, sie zu ordnen. Unleugbar befindet sich alles in einer bedenklichen Gährung, und wir erblicken keine menschliche Kraft, die sie leitet und bändigt. Im Bürgerlichen ringen das monarchische und das gesetzlose Prinzip, das man mit einem glimpflicheren Namen das Verfassungs- oder konstitutionelle System nennt, auf eine bedenkliche Weise mit einander, im kirchlichen und religiösen Gebiete steigern sich die Reibungen bis zu einer bedeutenden Höhe, und dann durchzieht noch immer eine tötliche Seuche das Land.

Hier tritt nun die reiche Barmherzigkeit Gottes ein und bietet denen, die es bedürfen, und die dafür empfänglich sind, einen hinlänglichen Schutz an. Unser Text vergleicht sie ausgebreiteten Flügeln, womit die großen Vögel, deren Nester nach oben keinen Schutz haben gegen die Witterung, ihre zarten Jungen überschatten, und so Regen und Hagel von ihnen ableiten. So sagt auch der Herr Jes. 31,5: „Der Herr Zebaoth wird Jerusalem beschirmen, wie die Vögel thun mit Flügeln, schützen, erretten, darin umgehen und aushelfen.“ Und vergleicht sich Jesus nicht einer Henne, welche ihre Küchlein versammeln will unter ihre Flügel, sowie einem Adler, welcher seine Fittiche über seine Jungen ausbreitet? Hier ist ein vollkommener Schutz gegen alle Gefahr und in derselben, sodaß der Psalmist im 91. Psalm ausruft: „Ob tausende fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen, daß du nicht erschrecken müssest vor dem Grauen der Nacht, noch vor den Pfeilen, die des Tages fliegen, vor der Seuche, die im Finstern schleicht, vor der Pestilenz, die im Mittag verderbet. Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage sich deiner Hütte nahen!“ Dies, wohl erkannt, erweckt zum Vertrauen.

„Daß Menschenkinder trauen!“ Gewiß liegt ein besonderer Nachdruck auf dem Wort: Menschenkinder. Es bezeichnet etwas Schwaches, das kein Haar schwarz oder weiß machen kann, obgleich es darum sorget, etwas Unzuverlässiges, das sich des morgenden Tages nicht rühmen darf; es bezeichnet sogar etwas Böses und Sündliches, denn wenn Gott auf sie herabsiehet, so findet er keinen, der Gutes thut, auch nicht einen. Wenn also solche vertrauen dürfen, ja sollen, so ist das etwas Wunderbares. Mag uns unsere Schwäche und Unzuverlässigkeit dieses Vertrauen auch wünschenswert machen, so raubt uns doch unsre Sündlichkeit alles Recht und alle Würdigkeit dazu und schlägt unsern Mut darnieder. Aber, o welch' ein Glück! Lernen wir die Art dieser Flügel kennen, so finden wir, daß sie auch den sündigen Menschenkindern, ja eben ihnen Mut einflößen, denen eben ihre erkannte Sünde, dieses höchste aller Übel, der kräftigste Antrieb werden soll, zu trauen, oder, wie es eigentlich heißt, Zuflucht zu nehmen, denn es waltet die Barmherzigkeit, und die schattigen Flügel sind die durch den zwiefachen Gehorsam Jesu Christi gestiftete Versöhnung, um derer willen eben sündige Menschen trauen dürfen. Das, das ist eben die sichernde Festung, die sich uns auch bei dem Beginn dieses neuen Jahres öffnet, in welche wir durch Trauen einziehen, und in der wir Schutz finden. Es wäre genug, wenn wir, wie Petrus sagt, auch nur kaum erhalten würden, wenn wir blos unsre Seele retteten, wenn auch unser Fleisch zu Grunde ginge, aber es wird mehr verheißen. „Sie werden trunken von den reichen Gütern deines Hauses, und du tränkest sie mit Wollust, als mit einem Strom.“ So stark auch diese Ausdrücke klingen, so wenig sind sie übertrieben. Es ist wahr, die volle Erfahrung tritt erst dann ein, wann wir nicht mehr auswohnen von dem Herrn, sondern bei ihm daheim und im Hause sind. Es ist wahr, es sind nur des Geistes Erstlinge, und wir, die wir sie haben, sehnen uns bei uns selbst nach der Kindschaft und warten auf unser Leibes Erlösung. Es ist wahr, hier ist noch der Kampfplatz, wo Geist und Fleisch auf einander stoßen, das es wohl, wie Paulus sich einmal ausdrückt, ein Gefecht als mit wilden Tieren ist. Wahr ist es, daß manche, in den Augen des Herrn teuere Seelen wohl statt des Trunkenwerdens verschmachten vor Durst, und Hunger statt Sättigung empfinden. Aber dessen ungeachtet bleiben diese glänzenden Worte auch hienieden nicht ganz unerfüllt, teils dem Glauben nach, teils im Genuß. Der Glaube eignet sich den ganzen Christus und mit ihm alle die reichen Güter seines Hauses zu, die so groß sind, daß er ihrer zwar ganz für sich, aber doch nur so, wie der Sonne, bedarf, die zugleich für alle andere genugsam ist. Diese Zueignung hat Staffeln, je nachdem der Glaube schwach oder stark ist, sie kann aber und soll mit einer solchen Zuversicht geschehen, und geschieht auch wirklich, wenigstens oft, mit einer solchen Zuversicht, welche alle Zweifel ausschließt und die noch zukünftigen Güter als schon gegenwärtig betrachtet. In dieser Beziehung heißt es dann: Ihr seid selig geworden, ihr habt das ewige Leben, ihr seid in's himmlische Wesen versetzt, ich bin gewiß. Ja, auch im wirklichen Genuß werden Seelen hienieden wohl trunken von den reichen Gütern des Hauses Gottes und gesättigt mit Wollust als mit einem Strom. Meistens geschieht dieses bald im Anfang. Die Seele meinte nicht anders, als sie müßte wegen ihrer Sünden verdammt werden, nicht anders, als der heilige und gerechte Gott werde sie umbringen, und siehe, er vergiebt ihr alle ihre Sünden, und macht sie davon gewiß. Alsdann wird sie gleichsam trunken und rumort als von Wein, sie redet, wie mit neuen Zungen, und lobet und preiset in neuen Sprachen, daß es eine Pracht ist, es anzuhören. Sie ist im Himmel! Dies wiederholt sich von Zeit zu Zeit, sonderlich wenn eine Seele nachgehends durch schwere Anfechtungen geübt wird, wo sie wohl meint, es sie jetzt schlimmer um sie gestellt, als je zuvor. Ruft der Herr dann wieder: „Hie bin ich, hie bin ich!“ so wird sie wie entzückt. Dies geschieht auch außerdem bei manchen von Zeit zu Zeit, sodaß sie es kaum haben ertragen können, auch wohl in ihrem Tode, gewiß wird's aber allen Wiedergebornen nach demselben zuteil. Dann, dann werden sie ewiglich trunken.

Mit Recht nennt der Psalmist diese Güte oder Barmherzigkeit teuer, kostbar und betet: Breite sie über die, die dich kennen, und deine Gerechtigkeit über die Frommen oder Rechtschaffenen!„ Wie teuer ist deine Güte, o Gott! Wie teuer in ihrer Erwerbung, wozu nichts Geringeres erforderlich war als die Sendung des Sohnes Gottes in die Welt, nichts Geringeres als seine Dahingabe in den Tod, nichts Geringeres als seine unsäglichen Leiden, als sein kostbares Blut! Wie kostbar muß ein Gut sein, das mit solch' einem Aufwande erworben wurde! Wie teuer ist sie, die Barmherzigkeit Gottes, an sich! Deine Güte ist besser, denn Leben. Mir ist Barmherzigkeit wiederfahren. Wer das mit Paulus sagen kann, der kann auch mit ihm rühmen: Ich habe alles und habe überflüssig. Wem Barmherzigkeit widerfahren ist, dem folgt auch Gutes sein Leben lang. Kostbar soll sie daher jedem sein und immer kostbarer werden. Ohne sie gilt doch am Ende alles weniger als nichts, alles ist verloren. Was mag denn ein Mensch Höheres besitzen und Würdigeres suchen als Barmherzigkeit? So verhalten sich die von Gott Erweckten auch wirklich. Diejenigen, welche ihre Sünde, ihr Elend, ihr Verlorensein recht fühlen und erkennen, die schreien, wie jene thaten, Jesum unablässig an: Erbarme dich mein! Und sie schreien nicht vergeblich. Es wird zu ihnen heißen: Was willst du, daß ich dir thun soll? Dir geschehe, wie du willst, gehe hin in Frieden! Die so schreien, werden trunken werden von den reichen Gütern des Hauses Gottes. Wie angemessen ist denn der Wunsch, die Bitte: „Breite deine Güte über die, die dich kennen, und deine Gerechtigkeit über die Frommen!“ Die Aufmerksamkeit des heiligen Psalmisten richtet sich auf das Häuflein derer, die Gott kennen, auf die Frommen oder Rechtschaffenen und Aufrichtigen, in einem Gegensatz gegen die blinde Welt, die weder den Sohn, noch den Vater kennt und den Geist der Wahrheit nicht empfangen kann. Diese, die Rechtschaffenen, im Gegensatz gegen die Heuchler, die blos mit Gesetzes Werk ohne innerliche Lust und Liebe umgehen, und in denen allerlei Tücke und Falschheit herrscht.

Der Herr breitet aber seine Güte und Gerechtigkeit über die aus, die ihn kennen, wenn er ihre Zahl vermehrt, daß täglich hinzu gethan werden zu der Gemeine, die da gläubig werden, wenn er seine Barmherzigkeit über sie fortsetzt, daß sie weder die Flamme anzündet, wenn sie durchs Feuer, noch die Fluten verderben, wenn sie durch Wasser müssen, wenn sie wachsen in der Erkenntnis unsers Herrn Jesu Christi, und ihnen die Geheimnisse des Reiches Gottes immer tiefer und gründlicher aufgeschlossen werden, nach der Fürbitte Christi: Ich habe ihnen deinen Namen kund gethan und will ihnen kund thun, auf daß die Liebe, damit du mich liebest, sei in ihnen und ich in ihnen (Joh. 17,26). Wenn dadurch ihr Glaube und ihre gesamte Gottseligkeit sehr wächset, daß sie aus dem Grase zur Ähre, ja zum vollen Weizen in der Ähre wird, dann breitet er seine Güte aus über die, die ihn kennen. Er breitet seine Gerechtigkeit aus über die Frommen, wenn er ihnen nicht nur neue Fehltritte verzeiht und die Wunden heilt, die ihnen dadurch beigebracht wurden, und die sie schmerzten, sondern sie auch feste Tritte thun lehrt mit ihren Füßen, daß sie nicht mehr straucheln wie die Lahmen, wenn er ihnen hellere Einsichten schenkt in die stellvertretende Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, wenn er sie tüchtiger macht, diese mit völligerem Glauben zu umfassen, darin zu ruhen und den Honig aus diesem Felsen zu genießen, alles andere dagegen für Schaden und Kot zu achten, wenn sie endlich bequemer gemacht werden, die Früchte dessen zu genießen, was er ausmacht, da er sie in dem Gerichte längst mit Ehren dargebracht.

O inhaltreiche, wichtige Bitte: Breite deine Güte aus über die, die dich kennen! Sie sei und werde unser Hauptanliegen, besonders an diesem ersten Sonntag im neuen Jahre! Diese Bitte hat eine allgemeine Tendenz, und wenn sie erfüllt wird, so haben es Juden und Heiden zu genießen. Die Völker, die bisher in Finsternis saßen, sehen dann ein großes Licht, und was könnte ihnen Erfreulicheres begegnen, als wenn des Herrn Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sich bis zu denselben ausdehnte! In unserm deutschen Vaterlande regt sich nebst vielem Bösen auch manches Gute und Erfreuliche. Wie, wenn dieses sich wie ein Wasserstrom unaufhaltsam ausbreitete und immer mehr Boden, immer mehr Eingang, immer mehr Herzen fände! Es geschehe also!

Unsere Gemeine ist in der That zum Teil ein lieblicher Lustgarten Gottes, mag sie auch andernteils einer häßlichen Wüste gleichen. Herr, breite deine Güte aus über die, die dich nicht kennen, daß des wüsten Landes immer weniger und des guten Ackers immer mehr werde, daß diese Stadt, dieses Thal heißen kann. Meine Lust an ihr! Sie breite sich aus, diese Güte, besonders über euch, die ihr ihn wirklich dem Anfang nach kennt! Er leite euch in kräftigen Seilen der Liebe, sei euch wie ein erquickender Tau und weise euch immer mehr den Weg, worauf euch euer Gang nicht sauer wird! Ja, sie reiche hinaus, diese Barmherzigkeit, bis zum Thron und der geheiligten Person Seiner Majestät, unsers Königs, seines geliebten ersten Sohnes und den Seinigen allen, und ergieße sich herab auf die Armen, auf alle hohen und niederen Beamte bis zu unserer Provinz und Stadt!

Gnade und Barmherzigkeit sei mit allen, die Jesum Christum lieb haben, unverrückt! Amen.

Quelle: Krummacher, G. D. - Gesammelte Ähren

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