Calvin, Jean - Psalm 103.

Calvin, Jean - Psalm 103.

Inhaltsangabe: Dieser Psalm lehrt jeden Frommen, für sich persönlich dem Herrn zu danken, sodann aber auch für die allgemeine Gnade, deren er seine Auserwählten würdigte, indem er den Heilsbund in seinem Gesetze schloss und sie in die Kindschaft aufnahm. Insbesondere aber wird die Barmherzigkeit gerühmt, mit welcher Gott sein Volk, das doch schwere Strafen verdiente, hält und trägt, nicht wegen seiner Würdigkeit, sondern in freundlicher Herablassung zu seiner Gebrechlichkeit. Mit allgemeinem Lobpreis wird der Schluss des Psalms gemacht.

1Ein Psalm Davids.
Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! 2Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat! 3Der dir alle deine Sünde vergibt, und heilet alle deine Gebrechen; 4der dein Leben vom Verderben erlöset, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit; 5der deinen Mund mit Gutem sättigt, und du wieder jung wirst wie ein Adler.

V. 1. Lobe den Herrn, meine Seele. Indem der Prophet sich selbst zur Danksagung aufruft, gibt er uns ein Beispiel dafür, was jeder einzelne tun soll. Sicherlich bedarf unsere Trägheit in diesem Stück eines fortwährenden Antriebs. Wenn, wie wir aus dieser Anrede an sich selbst ersehen, nicht einmal der Prophet, den doch ein mehr als gewöhnlicher Eifer beseelte, von Lässigkeit ganz frei war, wie viel mehr bedürfen wir dieses Heilmittels, die wir uns unsrer Schläfrigkeit recht wohl bewusst sind! In den Worten des Propheten liegt also ein versteckter Vorwurf, welchen der heilige Geist uns macht, dass wir im Lobe Gottes nicht eifriger sind. Zugleich wird uns das Heilmittel gezeigt: es soll ein jeder in sich gehen, um seine Trägheit zu bessern. Denn der Prophet begnügt sich nicht, seine Seele aufzurufen, wobei er ohne Zweifel an den Sitz der Vernunft und des Gefühls denkt, sondern fügt auch hinzu: und was in mir ist. Er deutet damit auf den innersten Grund seines Wesens, auf Sinn und Herz, und ruft alle seine Seelenkräfte auf. Wer in dieser Weise sich selbst anredet, stellt sich ohne alle menschlichen Zeugen vor Gottes Angesicht. Besonders nachdrücklich ist die Wiederholung; der Prophet straft damit gleichsam seine Lässigkeit.

V. 2. Und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat! Dieser Satz erinnert daran, dass von Gottes Seite es nie an einem reichen Stoffe fehlt, ihn zu loben, wenn nur nicht unsere Undankbarkeit hindernd dazwischen träte. Erstlich lehrt uns nun der Herr, dass er darum so freundlich mit uns handelt, damit sein Name durch uns gepriesen werde. Zugleich aber straft er unsre eitle Flüchtigkeit, die uns vielmehr anderswohin umtreibt. Denn woher anders kommt es, dass wir in dieser wichtigsten Übung der Frömmigkeit so gleichgültig sind, als dass Gottes unermessliche Wohltaten, die am Himmel und auf der Erde offenkundig sind, sich in unsern Herzen unter einer schändlichen und gottlosen Vergesslichkeit begraben lassen müssen? Indem der Prophet uns lediglich vor diesem Vergessen warnt, zeigt er, dass die Neigung zu unserer Pflicht vorhanden sein müsste, wenn nur das Andenken an Gottes Wohltaten in uns lebendig wäre.

V. 3. Der dir alle deine Sünde vergibt. Jetzt zählt der Prophet einige der Wohltaten auf, welche zu bedenken, wie er soeben sagte, wir nur zu vergesslich und lässig sind. Nicht zufällig hebt er damit an, dass Gott uns die Sünden vergibt: denn diese durch freie Gnade geschaffene Aussöhnung ist der Quell, aus welchem alle andern Wohltaten fließen. Gewiss ergießt sich Gottes Guttätigkeit auch über die Unfrommen; aber dieselben haben davon keinen Genuss, ja keinen Geschmack. Von allen Gütern also, die wir wahrhaft und wirklich genießen, ist dies der Anfang, dass Gott uns in seine Gnade aufnimmt, indem er unsre Sünden durch unverdiente Vergebung austilgt. Indem aber die Vergebung der Sünden uns dem Herrn zum Freunde macht, heiligt sie auch alle andern Güter, die er uns reichlich schenkt, so dass sie uns nun zum Heil ausschlagen. Das zweite Satzglied: und heilet alle deine Gebrechen, kann als Wiederholung desselben Gedankens, aber auch in einem weiteren Sinne verstanden werden. Denn dies sind die Früchte der Vergebung durch freie Gnade, dass Gott uns durch seinen Geist regiert, die Begierden des Fleisches tötet, uns von Fehlern reinigt und die wahre Gesundheit eines frommen und rechten Lebens herstellt. Eine gar zu flache Einschränkung des Sinnes wäre es jedoch, wollte man nur an die Heilung von körperlichen Gebrechen denken, die Gott uns nach der Vergebung der Sünden zuteil werden ließe. Ich zweifle also nicht, dass die Heilung, die dem Propheten vorschwebt, sich auf die Tilgung der Schuld bezieht, in zweiter Linie auch auf die Ausläuterung der uns noch anhaftenden Sünden, welche durch den Geist der Wiedergeburt zustande kommt. Auch gegen die Zufügung eines dritten Stücks habe ich nichts zu erinnern, dass nämlich Gott, nachdem er unser Freund geworden, uns auch die Sündenstrafen erlässt. So lernen wir aus diesem Satz, dass unser Inneres zahllose Krankheiten, ja einen tausendfachen Tod birgt, bis der himmlische Arzt uns Hilfe bringt.

V. 4. Der dein Leben vom Verderben erlöset. Dieser Satz beschreibt noch genauer, in welcher Verfassung wir uns befinden, ehe Gott unsere Gebrechen heilt; wir sind tot und für das Grab bestimmt. Umso höher müssen wir Gottes Barmherzigkeit schätzen, die sich als eine Erlösung von Tod und Verderben darstellt. Denn wenn das geistliche Leben mit einer Erweckung gleichsam aus dem Grabe anhebt, was bleibt dann noch den Menschen übrig, worin sie sich gefallen dürften? Des Weiteren lehrt der Prophet, dass eben in diesem Beginn unseres Heils, aber auch in seinem ganzen Fortgang, Gottes unvergängliche Gnade leuchtet: der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit. Buchstäblich wäre zu übersetzen: „Barmherzigkeiten“, oder „Erbarmungen,“ was noch mehr zum Lobe Gottes dient. Der Prophet will sagen, dass wir von vorn und hinten, von beiden Seiten, von oben und unten mit unermesslichem Überfluss göttlicher Gnade umgeben sind, die keine Stelle unausgefüllt lässt. Dies erläutern und steigern die nächsten Worte (V. 5): der deinen Mund mit Gutem sättigt. Dies Bild stellt uns ein reiches Mahl vor Augen, bei welchem man ohne jedes Bedenken speisen darf. Denn wer in dürftigen Verhältnissen lebt, wagt sich kaum satt zu essen. Sicherlich billigt es der Prophet nun nicht, dass man Gottes Wohltaten gierig herunter schlinge und sich in Unmäßigkeit gehen lasse, wenn ein reicherer Vorrat vorhanden ist, - aber er passt seine Sprechweise der gewöhnlichen Sitte der Menschen an und will sagen, dass uns durch Gottes Güte alle nur erwünschten Güter bis zur vollen Sättigung zufließen. Dann fügt er hinzu, dass der Herr ihm neue Lebenskraft schenkt und ihn stets unversehrt bleiben lässt: und du wieder jung wirst wie ein Adler. Ähnlich wird bei Jesaja (65, 20) die Erneuerung der Gottesgemeinde auch mit dem Zuge beschrieben, dass ein Greis von hundert Jahren noch frisch sein werde wie ein Knabe. In unserm Verse aber wird uns dargestellt, dass Gott den Seinen außer der reichsten Fülle von Gütern auch die innere Lebenskraft schenkt, damit sie dieselbe froh und mit immer neu aufblühender Frische genießen können. Zu dem Vergleich mit dem Adler bringen die Juden die Fabel bei, dass dieser Vogel allemal nach zehn Jahren bis zum Urfeuer auffliege und sich dann ins Meer stürze, wobei ihm alsbald ein neues Gefieder wüchse. Der Sinn aber wird einfach sein: Wie ein Adler eine überaus dauerhafte Lebenskraft besitzt, durch die Jahre nicht schwach wird, nicht in Krankheiten fällt und im Alter noch wie jung ist, so bleiben die Frommen durch Gottes verborgenes Wirken bewahrt, dass sie unversehrte Kraft behalten. Allerdings sind sie in diesem Leben nicht immer voller Kraft, schleppen sich vielmehr in fortwährenden Schwierigkeiten mühsam dahin; dennoch trifft in ihrer Weise für sie zu, was hier steht. Denn diese Erfahrung dürfen sie alle unfraglich machen, dass sie gleichsam aus dem Grabe gezogen werden und Gottes unzählbare Wohltaten schmecken. Jeder, der sich vorrechnet, wie viel er dem Herrn verdankt, wird mit gutem Grunde sagen, dass sein Mund mit Gütern gefüllt wurde, - wie David bekennen muss (Ps. 139, 18): „Sollte ich sie zählen, so würde ihrer mehr sein wie des Sands am Meer.“ Würde nicht unsere Böswilligkeit die Empfindung abstumpfen, müssten wir innewerden, wie Gott uns mitten in Dürftigkeit und Hunger nährt und uns allezeit den unübersehbaren Reichtum seiner Güte sehen lässt. Dass wir immer wieder jung werden, wollen wir so verstehen: wenn unser äußerer Mensch verzehrt wird, werden wir zu einem besseren Leben erneuert. So dürfen wir es nicht als eine Last empfinden, dass unsere Kräfte abnehmen, zumal der Herr mit seinem Geiste aufrecht hält, die schwach und müde sind.

6Der Herr schaffet Gerechtigkeit und Gericht allen, die Unrecht leiden. 7Er hat seine Wege Mose wissen lassen, die Kinder Israel sein Tun. 8Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte.

V. 6. Der Herr schaffet Gerechtigkeit usw. Nachdem David die Wohltaten aufgezählt, die er von Gott empfangen, geht er über den Kreis dieser persönlichen Betrachtung hinaus. Allerdings rechnet er ohne Zweifel sich selbst mit ein, wenn er rühmt, dass Gott denen hilft, die Unrecht leiden, wie er denn diese Hilfe in vielen Verfolgungen erfahren hat. Aber er sagt doch auf Grund seiner Erfahrung aus, wie Gott sich an allen zu erweisen pflegt, die man ungerechterweise unterdrückt. Und weil die Gläubigen in dieser Welt immer unter Wölfen umhergehen müssen, ist in doppeltem Ausdruck von Gerechtigkeit und Gericht die Rede, wobei buchstäblich sogar zu übersetzen wäre: „Der Herr schaffet Gerechtigkeiten und Gerichte.“ Wir sollen daraus abnehmen, dass es Gottes regelmäßiges Amt ist, seinen Knechten beizuspringen, so oft er sie Unrecht leiden sieht. Dass Gott es auf sich nimmt, die uns angetanen Beleidigungen zu rächen, leitet uns zur Geduld an; deckt er uns doch mit dem Schild seiner Gerechtigkeit und verteidigt uns mit dem Schwert seines Gerichts, so oft man uns unbillig angreift.

V. 7. Er hat seine Wege Mose wissen lassen. Durch die persönlich erfahrenen Wohltaten wird David mit gutem Grunde dazu geführt, im Namen des auserwählten Volks zu sprechen. Er blickt auf den allgemeinen Bund Gottes und gibt dadurch der Überzeugung Ausdruck, dass er nur als Glied der Gottesgemeinde mit so vielen Gütern überschüttet wurde. Dass Gott dem Mose seine Wege kundtat, deutet auf die Erlösung des Volks bis zum Eintritt in das gelobte Land. Hier lag ja der entscheidenste Erweis von Gottes Gerechtigkeit und Gericht, aus welchem man abnehmen konnte, dass Gott allezeit den Unterdrückten ein gerechter Helfer sein werde. Weil aber dies alles an der Verheißung hing, richtet sich ohne Zweifel auf diese vornehmlich der Blick; Gott hat seine Gerechtigkeit dem auserwählten Volk, das er zu seinem Eigentum genommen und mit welchem er den Bund geschlossen hatte, handgreiflich erwiesen. Dies durfte zuerst Mose als Gottes Diener und Vermittler, dann auch das ganze Volk erfahren. Denn eben in dieser ihm von Gott angewiesenen Stellung kommt Mose hier in Betracht; durch seine Hand wollte der Herr dem Volk seine Wege kundtun. Gottes Wege und sein Tun werden nun darin offenbar, dass er mit wunderbarer Macht sich zur Befreiung seines Volks erhob, es durch das Rote Meer führte und mit vielen Zeichen und Krafttaten seine Gegenwart bezeugte. Weil aber dies alles aus dem Gnadenbunde floss, fordert David sich und andere auf, dem Herrn eben für die Erwählung zum Eigentumsvolk und für die Erleuchtung durch die Lehre des Gesetzes zu danken; denn, wie es nichts Jämmerlicheres gibt als den Menschen, wenn er den Herrn nicht kennt, so tut sich uns anderseits der unvergleichliche Schatz vollen Glückes darin auf, dass Gott sich mit dem Zeugnis seiner väterlichen Liebe zu uns herablässt.

V. 8. Barmherzig und gnädig ist der Herr usw. Hier scheint eine Anspielung an jenen Ausruf Moses (2. Mos. 34, 6) vorzuliegen, der angesichts einer besonderen Offenbarung Gottes Wesen deutlicher als je beschreibt. Als er Gottes Herrlichkeit aus der Nähe schauen durfte, brach er in dieses Wort aus: „Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue.“ Jenen lobpreisenden Spruch, der kurz zusammenfasst, was von Gott selbst zu wissen uns nützlich ist, wendet David trefflich auf seine Lage an. Er wollte es auf Rechnung der reinen Güte Gottes setzen, wenn das Volk, das durch seine Sünden immer wieder aus dem Gnadenstande der Kindschaft gefallen war, doch seine Ehrenstellung behielt. Übrigens wollen hier im Allgemeinen lernen, dass man wahre Erkenntnis Gottes immer nur in der Erfahrung des Glaubens haben kann: Gott lässt sich nicht in seinem verborgenen Wesen erforschen, sondern nur, was wir uns wohl merken wollen, soweit er sich uns mitteilt. Wie oft müssen wir sehen, dass die Menschen, wenn von Gott die Rede ist, ihren Geist auf verkehrte und hohle Spekulationen lenken und sich mit unnützen Dingen abgeben, wobei sie an den Wirkungen Gottes, die uns begegnen und in denen sein lebendiges Bild sich spiegelt, achtlos vorübergehen. Und doch werden die Menschen nichts Nützlicheres tun können, als immer wieder Gottes Weisheit, Güte, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu betrachten. Besonders geeignet, unsern Glauben zu erbauen und sein Lob zu verherrlichen, wird die Erkenntnis seiner Güte sein. Darum erklärt Paulus (Eph. 3, 18) als unser erhabenstes Streben, dass wir die Breite und die Länge und die Tiefe und die Höhe der unaussprechlich reichen Gnade erkennen sollen, die Gott uns in Christus erschlossen hat. Dies ist auch der Grund, weshalb David in Moses Nachfolge Gottes Barmherzigkeit mit so vielen Worten preist. Denn erstlich ist unser schlimmstes Laster eine teuflische Anmaßung, die dem Herrn sein Lob entreißt; sie sitzt so tief, dass sie sich nicht entwurzeln lässt. So erhebt sich Gott, um dieses frevelhafte Selbstvertrauen des Fleisches niederzuschlagen, und behauptet majestätisch seine Barmherzigkeit, durch die allein wir stehen. Zum andern: wo wir in Gottes Gnade ausruhen sollten, zittern und wanken unsere Herzen, und es wird uns nichts schwerer, als zu fassen, dass wir einen gnädigen Gott haben. Gegen diesen Zweifel setzt David in Moses Nachfolge alle diese Worte: Gott ist barmherzig, sodann gnädig oder guttätig; weiter trägt er freundlich und sanftmütig die Sünden der Menschen; endlich ist er von großer Güte und Treue.

9Er wird nicht immer hadern, noch ewiglich Zorn halten. 10Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden, und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat. 11Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade walten über die, so ihn fürchten. 12So ferne der Morgen ist vom Abend, lässet er unsre Übertretungen von uns sein.

V. 9. Er wird nicht immer hadern. Diese Sätze ziehen den Schluss aus dem voran stehenden Lobpreis Gottes, der vermöge seines Wesens freundlich ist, auch wenn er beleidigt wurde, und immer zum Verzeihen bereit. Es war nötig, dies hinzuzufügen: denn unsere Sünden würden uns den Zugang zu seiner Güte verschließen, wenn uns nicht ein Weg zur Versöhnung Gottes gezeigt würde. Zwischen den Zeilen aber können wir lesen, dass Gott mit den Sündern streitet, um sie durch die Empfindung ihrer Schuld zu demütigen; bald aber steht er davon ab, sobald er sie überwunden und bußfertig sieht. Der Herr hat auch einmal anders geredet (1. Mos. 6, 3): „Mein Geist wird nicht weiter mit den Menschen streiten,“ – weil sie nämlich ihrer Missetaten überführt und für die Verdammnis reif waren. Dass aber David hier sagt, Gott werde nicht immer hadern, ruht vielmehr darauf, dass er sich erbitten lässt, gern verzeiht und sein Recht nicht verfolgt. Darauf deutet auch das zweite Satzglied: noch ewiglich Zorn halten. Gott ist nicht wie ein Mensch, der heimliche Rachegedanken gegen einen andern hegt, dem er eine Beleidigung nicht verzeihen kann, und nur auf eine Gelegenheit zur Durchführung wartet. Gott lässt sich vielmehr aus freien Stücken zur Aussöhnung herbei. Wir sollen jedoch wissen, dass dies nicht unterschiedslos für das ganze Menschengeschlecht gilt, sondern ein Vorrecht der Gottesgemeinde ist. Ausdrücklich wird der Herr (5. Mos. 5, 9) ein schrecklicher und eifriger Gott genannt, der die Missetat der Väter an den Kindern heimsucht. David aber schiebt hier die Ungläubigen beiseite, auf welchen Gottes ewiger und unversöhnlicher Zorn lastet, und zeigt uns vielmehr, wie freundlich und nachsichtig der Herr gegen seine Kinder ist, wie er denn selbst sagt (Jes. 54, 8): „Ich habe dich einen kleinen Augenblick gezüchtigt; aber mit ewiger Gnade will ich dich geleiten.“ Das eben Gesagt wird sodann durch die Erfahrung oder den Erfolg bestätigt (V. 10): denn allein der wunderbaren Geduld Gottes dankten es die Kinder Israel, dass sie bisher bewahrt blieben und Bestand behielten. David will etwa sagen: Ein jeder von uns prüfe sein Leben. Wie vielfältig haben wir Gottes Zorn gereizt, ja reizen ihn fortwährend! Er selbst aber hält nicht nur seine Strafen zurück, sondern hütet noch in seiner Gütigkeit die, die zu verderben er wohl Grund hätte.

V. 11. Denn so hoch der Himmel usw. Ein Gleichnis prägt noch tiefer ein, dass Gott seine Gläubigen nicht straft, wie sie es verdient haben, sondern nach seiner Gnade mit ihren Übeltaten streitet. Der Ausdruck will besagen, dass Gottes Erbarmen gegen uns ganz unermesslich ist: es wird mit dem ungeheuren Umfang der weiten Welt verglichen. Weil aber dem Erbarmen Gottes der Zugang zu uns verschlossen wäre, solange sich unsre Schuld ihm hindernd entgegenstellt, wird hinzugefügt (V. 12): So ferne der Morgen ist vom Abend, lässet er unsre Übertretungen von uns sein. Alles in allem: so weit und breit die Welt ist, ergießt sich Gottes Barmherzigkeit über die Gläubigen; und damit nichts ihren Lauf hindere, werden deren Sünden gänzlich ausgetilgt. Es lässt sich aber noch einmal ersehen, was ich schon sagte, dass nicht im Allgemeinen davon die Rede ist, wie Gott sich zur ganzen Welt stellt, sondern wie er sich den Gläubigen erweist, die ihn fürchten. Daraus ergibt sich auch, dass nicht die Gnade vorschwebt, kraft deren Gott anfänglich uns sich zu Freunden macht, sondern mit welcher er ständig geleitet, die er mit väterlicher Liebe umfasste. Denn sein Erbarmen beweist sich einmal darin, dass er uns, die wir bis dahin ihm fern standen, aus dem Tode in das Leben versetzt, das andre mal aber darin, dass er uns aufrecht erhält. Denn jener erste Gnadenerweis würde alsbald verschwinden, wenn nicht die tägliche Vergebung ihn stützte. Wir sehen daraus, welch grobe Torheit die Behauptung der Papisten ist, dass die Vergebung durch freie Gnade nur einmal geschenkt werde, dass man aber darnach die Gerechtigkeit erwerbe oder ihren Besitz bewahre durch das Verdienst der Werke, und dass eine neue Schuld durch genugtuende Leistungen abgezahlt werde. David beschränkt nicht Gottes versöhnende und die Sünden vergebende Gnade auf einen Augenblick, sondern lässt sie sich bis zum Ende unseres Leben erstrecken. Nicht minder kräftig dienen unsere Sätze auch zur Widerlegung der Schwärmer, die sich und andere durch den verrückten Aberglauben an eine vollkommene Gerechtigkeit irreführen, als bedürfe man weiterer Vergebung nicht.

13Wie sich ein Vater über Kinder erbarmet, so erbarmet sich der Herr über die, so ihn fürchten. 14Denn er kennet, was für ein Gemächte wir sind; er gedenket daran, dass wir Staub sind. 15Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde; 16wenn der Wind darüber gehet, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr.

V. 13. Wie sich ein Vater über Kinder erbarmet usw. Hier wird nicht bloß ein neues Gleichnis zur Erläuterung des Gesagten vorgeführt, sondern zugleich auch der Grund aufgedeckt, weshalb Gott so gütig verzeiht, weil er nämlich unser Vater ist. Aus der gnädigen Annahme zur Kindschaft fließt es, dass Gott über unsere Sünden sich immer wieder gnädig erweist: aus dieser Quelle also müssen wir die Hoffnung auf Vergebung schöpfen. Da nun niemand aus eigenem Verdienst die Kindschaft erlangt, so folgt, dass uns die Sünden aus Gnaden vergeben werden. Dass aber Gott mit einem irdischen Vater verglichen wird, geschieht nicht, weil er ihm wirklich gliche, sondern weil seine unvergleichliche Liebe gegen uns nicht anders ausgedrückt werden kann. Damit man aber Gottes väterliche Nachsicht nicht als einen Freibrief für freches Sündigen missbrauchen möge, wiederholt David noch einmal, dass Gott nur seinen rechten Verehrern, so ihn fürchten, so gnädig sei. Schon dies ist ein Zeichen mehr als gewöhnlicher Geduld, dass er seine Sonne über Böse und Gute aufgehen lässt (Matth. 5, 45), aber hier ist von der gnädigen Zurechnung der Gerechtigkeit die Rede, um deren willen wir als Kinder angesehen werden. Sie wird nur solchen zuteil, die sich dem so gütigen Vater zum Eigentum ergeben und in Ehrfurcht sich seinem Wort unterwerfen. Aber weil auch das beste Streben nach Frömmigkeit hinter der Vollkommenheit weit zurückbleibt, haben wir zur einzigen Stütze unseres Heils nur Gottes Güte.

V. 14. Denn er kennet, was für ein Gemächte wir sind. Wenn es allein der Blick auf unser Elend ist, der den Herrn bestimmt, uns freundlich zu tragen, so muss alles zunichte werden, was die Menschen von eigener Würdigkeit sich anmaßen. Dies wollen wir uns noch einmal fleißig einprägen, nicht bloß, um den Hochmut des Fleisches zu zähmen, sondern auch damit unsre Unwürdigkeit nicht unsre Zuversicht hemme oder hindere. Denn je elender und verächtlicher unsere Lage ist, umso geneigter wird Gott zum Erbarmen sein: um sich zum Wohltun getrieben zu fühlen, genügt es ihm, dass wir Schmutz und Staub sind. Eben dahin zielt (V. 15) das folgende Gleichnis, nach welchem die ganze Herrlichkeit des Menschen unter einem einzigen Hauch verdorrt wie eine flüchtige Blume. Eigentlich kann man ja nicht sagen, dass der Mensch blühet, aber weil sich doch behaupten ließe, dass er immerhin einige Schönheit besitzt, so gibt David dies zu, sagt aber, dass er sei wie eine Blume auf dem Felde; ja er verkündet, dass wir vielmehr dem Rauch und Schatten gleichen und wie ein Nichts sind. Allerdings schmücken uns, solange wir in dieser Welt leben, manche natürliche Gaben und – damit ich von anderem schweige – wir weben und sind in Gott (Apostelg. 17, 28): aber weil wir nichts anderes besitzen als geliehenes Gut, das uns in jedem Augenblick genommen werden kann, darum ist alles Schein oder ein flüchtiges Bild. Von der Kürze des Lebens ist hier nun recht eigentlich unter dem Gesichtspunkt die Rede, dass sich Gott dadurch bestimmen lässt, uns gnädig zu verzeihen, - wie es auch anderwärts heißt (Ps. 78, 39): „Er gedachte, dass sie Fleisch sind, ein Wind, der dahinfährt und nicht wiederkommt.“ Allerdings kann man fragen, weshalb David nicht auf die Seele hinweist, welche des Menschen bestes Teil ist, sondern einfach verkündet, dass wir Staub und Asche sind. Ich antworte: Wenn auch die Seele nach ihrer Auswanderung aus dem Gefängnis des Körpers lebendig bleibt, so hat sie doch in sich selbst keinen Bestand. Sie ward geschaffen, um den Leib zu beleben: aber sie besitzt keinen Tropfen von Leben, den Gott ihr nicht einhauchte. Wenn Gott seine Gnade zurückzieht, so ist die Seele nicht minder ein Hauch, als der Leib Staub ist: sicherlich wird man am ganzen Menschen nichts als lauter Eitelkeit finden.

17Die Gnade aber des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit über die, so ihn fürchten, und seine Gerechtigkeit auf Kindeskind 18bei denen, die seinen Bund halten und gedenken an seine Gebote, dass sie darnach tun.

V. 17. Die Gnade aber des Herrn usw. Nur dies bleibt den Menschen übrig, in Gottes Barmherzigkeit ihren Bestand zu finden: es wäre mehr als töricht, eine Stütze in sich selbst zu suchen. Nachdem aber David die Menschen gedemütigt hat, fügt er am rechten Orte den Trost hinzu. Ist auch in uns keine innere Kraft, die nicht alsbald in Rauch vergehen müsste, so bleibt doch Gott der unausschöpfliche Lebensquell, der unsrer Dürre zu Hilfe kommt. Dieser Gegensatz muss wohl beachtet werden. Denn welchen Leuten wird alle eigene Kraft abgesprochen? Eben den Gläubigen, die durch den Geist Gottes wiedergeboren sind und ihn mit wahrer Frömmigkeit verehren: sie haben trotz alledem kein anderes Ziel ihrer Hoffnung als Gottes reine Güte. Weil aber Gottes Güte ewig ist, hindert die Schwachheit der Gläubigen nicht, dass sie sich des ewigen Heils bis zum Ende und mitten im Tode rühmen. David zieht ihrer Hoffnung keine engeren Zeitgrenzen als der Gnade Gottes, auf die sie gegründet ist. Zu dieser Gnade fügt er die Gerechtigkeit, von der wir schon öfter sagten, dass sie ein Ausdruck für den Schutz ist, mit welchem Gott die Seinen hütet und bewahrt. Gott also ist gerecht, nicht weil er einem jeglichen vergilt, wie er es verdient hat, sondern weil er treulich mit den Seinen handelt, indem er sie mit seiner Hand deckt. Diese Gerechtigkeit setzt der Prophet sehr passend an die zweite Stelle nach der Gnade, gewissermaßen als ihre Durchführung. Von ihr sagt er auch, dass sie auf Kindeskind währe, gemäß dem Wort (5. Mos. 7, 9), dass Gott Barmherzigkeit tut an tausend Geschlechtern. Welch großartiger Liebeserweis, dass der Herr nicht nur einzelne Menschen in seine Gnade aufnimmt, sondern gleichsam durch Erbrecht die Nachkommen als Genossen derselben Kindschaft mit ihnen zusammenfasst! Wie sollte er nun uns verwerfen, da er unsre Kinder und Enkel in seine Obhut nimmt und damit beweist, wie kostbar ihm unser Heil ist! Weil es übrigens eine sehr nahe liegende Gefahr ist, dass Heuchler mit falscher Vorspiegelung der Gnade Gottes sich täuschen, oder entartete Söhne fälschlich sich aneignen, was den Vätern verheißen war, wird noch einmal jene Ausnahme eingeprägt, dass Gott nur denen gnädig ist (V. 18), die seinen Bund halten, den doch die Ungläubigen durch ihre Verkehrtheit unwirksam machen. Dass an Stelle der Furcht Gottes jetzt vom Halten oder Bewahren des Bundes geredet wird, ist bemerkenswert: David prägt damit ein, dass wahre Verehrer Gottes nur diejenigen sind, die in Ehrfurcht seinem Wort gehorchen. Der rechte Maßstab menschlicher Frömmigkeit ist der, ob man sich dem Worte Gottes unterwirft und der von ihm vorgeschriebenen Ordnung folgt. Weil aber der Bund Gottes auf Gnade gegründet ist, gehört zu seiner rechten Bewahrung vor allem, dass man dem Herrn traue und ihn anrufe. Keineswegs überflüssig ist auch der Zusatz: und gedenken an seine Gebote. Denn trotz aller Erinnerungen Gottes verlieren wir uns nur zu schnell in die Sorgen der Welt, viele Zerstreuungen bringen uns ab, viele Lockungen machen uns schläfrig. Vergesslichkeit erstickt das Licht der Lehre, wenn die Gläubigen sich nicht immer wieder aufwecken. Sie gedenken aber an seine Gebote, wenn sie darnach tun. Dies wird ausdrücklich eingeprägt. Denn viele haben zwar eine geschickte Zunge zum Reden, aber ihre Füße sind langsam und ihre Hände fast erstorben.

19 Der Herr hat seinen Stuhl im Himmel bereitet, und sein Reich herrschet über alles. 20Lobet den Herrn, ihr seine Engel, ihr starken Helden, die ihr seinen Befehl ausrichtet, die ihr höret auf die Stimme seines Worts! 21Lobet den Herrn, alle seine Werke, an allen Orten seiner Herrschaft! Lobe den Herrn, meine Seele!

V. 19. Der Herr hat seinen Stuhl im Himmel bereitet. Nachdem David Gottes Wohltaten aufgezählt, mit welchen er jeden einzelnen sich verpflichtet und auch die ganze Gemeinde umfängt, erhebt er nun im Allgemeinen seine unermessliche Herrlichkeit. Er will damit die Menschen vor allem lehren, dass sie über die ganze Welt sich aufschwingen müssen, so oft sie Gottes gedenken; denn seine Majestät geht über alle Himmel. Weiter sollen sie lernen, seine Macht nicht mit menschlichem Maß zu messen: denn sein Reich herrschet über alles. Damit aber niemand meine, dass darunter nur irdische Kreaturen gebeugt werden, redet er in erster Reihe (V. 20) die Engel an. Indem er sie zum Lobe Gottes aufruft, erinnert er sich und alle Gläubigen, dass es nichts Besseres und Erwünschteres gibt, als den Herrn loben: denn selbst für Engel gibt es keine edlere Übung und Beschäftigung. Gewiss sind nun die Engel für diesen Dienst so willig und eifrig, dass sie eines Antriebs von unserer Seite nicht bedürfen. Und sollten wir angesichts unserer Trägheit uns anmaßen, sie zu erinnern? Aber wenn auch die Engel schnell voran laufen und wir in unsrer Langsamkeit ihnen kaum folgen können, - so ruft David sie doch um unseretwillen zum Lobgesang auf: ihr Beispiel soll uns aus unsrer Schläfrigkeit aufwecken. Die Engel werden nun auf der einen Seite als starke Helden beschrieben; aber sofort wird hinzugefügt, dass sie gänzlich von Gottes Wink abhängig sind: die ihr seinen Befehl ausrichtet. Bei aller Begabung mit größter Kraft also kennen sie doch keine größere Ehre, als dem Herrn gehorchen. Es heißt auch nicht bloß, dass die Engel seine Befehle ausrichten, sondern es wird hinzugefügt: die ihr höret auf die Stimme seines Worts. Darin liegt ein Hinweis auf ihre stete Bereitschaft, zu gehorchen.

V. 21. Alle seine Heerscharen. Dieser Ausdruck deutet nicht, wie einige Ausleger wollen, auf die Sterne, sondern setzt noch denselben Gedanken fort, ist jedoch keine überflüssige Wiederholung. Denn als „Heerscharen“ werden die tausendmal Tausende bezeichnet, welche, aller seiner Winke gewärtig, bei Gottes Thron stehen. Des Weiteren werden sie angeredet: seine Diener, die ihr tut, was ihm wohlgefällt. Denn wir sollen wissen, dass sie die Zeit nicht in müßiger Betrachtung der Herrlichkeit Gottes hinbringen, sondern zum Werk bereitstehen, wie sie uns denn zu Dienern und Wächtern gegeben sind. Was zuvor Gottes Wort hieß, wird jetzt als das bezeichnet, was ihm wohl gefällt. Beide Ausdrücke haben ihren guten Grund: denn Sonne, Mond und Sterne bewegen sich zwar nach den von Gott verordneten Gesetzen; da sie aber keine Vernunft haben, kann man nicht im eigentlichen Sinne sagen, dass sie seinem Wort und seiner Stimme gehorchen. Allerdings wird solches Gehorchen zuweilen den stummen Kreaturen zugeschrieben; aber es ist dies nur ein Bild, welches ausdrückt, dass sie nach ihrer verborgenen Naturanlage Gottes Ratschlüsse ausführen müssen. Im eigentlichen Sinne passt aber dieser Ausdruck für die Engel, welche verstehen, was Gottes heiliger Mund verordnet, und den Vorsatz haben, ihm zu willfahren. Dass sie tun, „was ihm wohl gefällt“, deutet anschaulich auf einen frischen und fröhlichen Gehorsam. David will sagen, dass die Engel nicht bloß überhaupt Gottes Befehlen gehorchen, sondern gern und mit der höchsten Freude auf seine Winke achten, um auszuführen, was ihm wohl gefällt.

V. 22. Lobet den Herrn, alle seine Werke. Endlich ergeht die Rede an alle Kreaturen: denn wenn sie auch keine Stimme und Empfindung haben, müssen sie doch irgendwie Gottes Lob widerklingen lassen. Daraus sollen auch wir lernen, dass kein Winkel Himmels und der Erde von diesem Lob Gottes frei bleibt. Wir haben durchaus keine Entschuldigung dafür, wenn wir dem Beispiel der Kreatur nicht folgen, die uns unsere Gleichgültigkeit zum Vorwurf macht, indem sie ihren Schöpfer lobt. Alle Orte seiner Herrschaft werden absichtlich genannt, damit der Eifer der Gläubigen desto glühender werde. Denn wenn für Gottes Lob nicht einmal die Gegenden, da man seine Stimme nicht hört, stumm sein dürfen, wie dürften wir schweigen, denen Gott mit seiner heiligen Stimme zuvorkam, indem er für sie seinen Mund öffnete! Endlich lässt David ersehen, zu welchem Zweck er Gottes Wohltaten aufzählte und seine Herrschaft pries, nämlich um sich selbst anzuspornen: Lobe den Herrn, meine Seele!

Quelle: Müller, Karl / Menges I. - Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift - Psalter

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