Blumhardt, Christian Gottlieb - Lazarus, der Kranke, Sterbende und Auferweckte - Lazarus der Kranke
Joh. 11, 3. 4. Da sandten seine Schwestern zu Jesu, und ließen Ihm sagen: HErr! siehe den Du lieb hast, der liegt krank. Da Jesus das hörte, sprach Er: „Die Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch geehrt werde.“
1.
„Welchen der HErr lieb hat, den züchtiget Er; er stäupt aber einen jeglichen Sohn, welchen Er aufnimmt.“ Diese alte Wahrheit, welche der Apostel Paulus als die gewöhnliche Erziehungsmethode Gottes mit den Seinigen anführt (Ebr. 12, 6. f.) und womit er die gläubigen Ebräer zur standhaften Beharrlichkeit unter ihren Leiden um Christi willen aufzumuntern sucht, hat sich seit 1800 Jahren an einer großen Zahl leidender Freunde Jesu aufs neue bestätigt, und sich eben dadurch dem Herzen jedes aufrichtigen Bibelverehrers teuer und wert gemacht. Seitdem die Sünde in diese Welt gekommen ist, und der Tod mit seinem ganzen traurigen Gefolge als unausbleibliche Wirkung derselben, seitdem nennt man die Welt ein Tränental, und den Wohnort der erkrankten Menschheit ein Siechenhaus. Man darf nicht erst auf die Geschichte der verflossenen Jahrhunderte zurückgehen, um das finstere Gemälde mit allen seinen Trauerfarben und Todesschatten auszumalen, das seit dem Dasein der Sünde in der Welt das Menschengeschlecht darstellt. Auch nur ein Blick auf uns und unsere nächsten Umgebungen verkündigt uns laut und verstehbar genug, dass die Sünde unsere geistige und körperliche Natur geschwächt, und ihr zerstörendes Gift in alle Adern und Blutgefäße unsers Wesens verbreitet hat. Vergeblich wenden wir unsere Augen hinweg von diesem düstern Schauplatz der leidenden Menschheit; vergeblich tun wir uns Gewalt an, die Jammergestalten zu vergessen, die täglich an uns vorübereilen. Wir selbst, wir selbst sind von dem gemeinschaftlichen Los unserer Mitbrüder nicht ausgeschlossen; der Leib der Sünde und des Todes, den wir mit uns umhertragen, erinnert uns früher oder später mit einer nur um so demütigenderen Stärke daran, dass unser Fleisch wie Gras, und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blume ist, je mehr wir uns diese niederschlagenden Ansichten unserer Menschennatur fremde zu machen suchten. O der schädlichen Torheit, die sich's verbergen will, dass sie Staub und Asche ist, und dennoch die zerstörenden Keime der Krankheit und des Todes in sich trägt! Wir wandeln auf Totengräbern, und vergessen so leicht, dass auch uns, wer weiß wie bald? ein düsteres Grab geöffnet wird. Wir begegnen stündlich hinwelkenden Schatten von Menschen, die, des Lebens müde, ihren abgenutzten Wanderstab am nächsten Grabhügel niederlegen, und der Gedanke macht so selten den gehörigen Eindruck auf unsere Herzen, dass wir ihnen vielleicht noch voran eilen werden, und in jedem Fall nicht weit hinter ihnen zurück bleiben. Da, dort seufzt einer unserer Mitbrüder auf dem Krankenbette; der Schmerz wütet durch alle seine Glieder; sein Herz und sein Auge fleht sehnsuchtsvoll um Erlösung von allem Übel: Aber wir fliehen von seinem Schmerzenslager hinweg, und verstopfen unser Ohr vor seinen Seufzern, um dem Gedanken den Zutritt zu unserm Herzen zu versperren, dass auch uns ein solches Ungemach treffen könne.
Doch sind wir Christen, so werden wir auch in diesem Stück christlich denken und handeln. Der wahre Schüler Jesu findet in dem finstern Leidensbild, das diese Erde darstellt, eine heitere, lichtvolle, beruhigende Seite, die seinem Auge ganz andere Ansichten eröffnet. Er erblickt mitten unter dem Gewühl durchkreuzender Trübsale einen großen Zweck voll hoher Gotteswürdiger Bedeutung, der die sonst geheimnisvollen Mittel der Leiden in heilsame Bildungsmittel für das herrliche Reich Gottes umwandelt, und ihnen die trübselige Larve abzieht, worin sie eingehüllt sind. Ihm ist das Krankenbett seiner leidenden Mitbrüder und die Bekanntschaft mit ihren Trübsalen eine segensreiche Schule der Weisheit und richtiger Selbsterkenntnis. Hier lernt er, was er an keinem andern Orte so anschaulich lernen kann: Die große Hilfsbedürftigkeit unserer geistigen und irdischen Menschen-Natur, und die gänzliche Unentbehrlichkeit Jesu Christi, als des besten Arztes für Leib und Seele. In stiller Leidens-Verborgenheit freut er sich dieser höchstwünschenswerten Offenbarung der Person Jesu Christ, und lernt in der Schule der Trübsal zu seinem ewigen Lobe Ihm nachrühmen:
Barmherzig, gnädig, geduldig sein,
Uns täglich reichlich die Schuld verzeih'n,
Heilen, stillen und trösten, erfreu'n und segnen,
Und unsern Seelen als Freund begegnen,
Ist seine Lust.
O wer nur immer bei Tag und Nacht
Sein zu genießen, recht wär' bedacht:
Der hätt' ohne Ende von Glück zu sagen,
Und Leib und Seele müsst immer fragen:
Wer ist wie Du?
2
Lazarus, der Freund Jesu, ward krank. Wie gefährlich sein Krankheits-Anfall gewesen sein müsste, beweist das, dass er wenige Tage darauf wirklich starb. Die evangelische Geschichte spricht nicht umständlicher von seinem Leiden, weil es ihr bloß darum zu tun ist, im Allgemeinen die bedenkliche Lage und große Hilfsbedürftigkeit der frommen Familie in Bethanien darzustellen. Sie will dadurch die Last, welche sie drückte, nicht verkleinern, sondern überlässt es jedem teilnehmenden Herzen, sich in ihre bedrängte Lage zu stellen, und an ihren häuslichen Leiden Anteil zu nehmen. Wenn ein Mensch nicht schon selbst unter mancherlei körperlichen Schmerzen gelitten hat, so ist er gewöhnlich zu unempfindlich gegen die Leiden seiner Mitbrüder, weiß sich nicht recht in ihre schmerzhaften Empfindungen hineinzuversetzen, und ihre traurige Lage richtig zu beurteilen. Unbekannt mit ihren Bedürfnissen, und mit der besten Art, ihnen in ihrer Not an die Hand zu gehen, und ihre Schmerzen, so viel wie möglich, zu lindern, wird man bald gleichgültig gegen sie, und überlässt sie ihrem Kummer, um ihn in ihre verwundete Brust zu verschließen, und ihr Tränenbrot allein zu essen. Anders empfanden die beiden Schwestern, Martha und Maria, bei den Leiden ihres geliebten Bruders. Was die äußerliche Pflege und sorgfältige Hilfeleistung der mütterlichen Martha nicht vermochte, das ersetzte die teilnehmende Maria durch ihre innige lebhafte Mitempfindung jedes Schmerzens ihres leidenden Bruders, durch sorgsames unermüdetes Aufmerken auf seine Winke, durch die feinsinnige Erfindungs-Kunst ihrer zärtlichen Liebe, durch ein mildes, kraftvolles, tief mitempfundenes Trostwort, das sie ihm im rechten Augenblick, auf die rechte Weise, im sanften Wehmuts-Tone ans Herz zu legen wusste.
O der liebende Mensch kann seinem leidenden Mitbruder auf so mannigfaltige Weise zu Hilfe kommen; durch so vielfältige Kanäle wohltätig auf sein Inneres und Äußeres wirken; so manche Lasten, die ihn niederdrücken, durch tätige Teilnahme erleichtern, und das herbe Gefühl der Schwäche und Hilfsbedürftigkeit des Kranken, der in Absicht auf seine vielfachen Bedürfnisse nur von Andern abhängt, durch die Art seiner Behandlung versüßen. Je feinsinniger, sanfter, geräuschloser dies geschieht, je spürbarer die Empfindung des Kranken in dem Herzen des teilnehmenden Freundes wiederhallt, je mehr die Liebe ihre Gaben und Hilfen unter dem schönen Schleier des warmen Mitgefühls verhüllt, desto willkommener ist der Dienst der Freundschaft. Dazu gehört freilich eine Marienseele, deren innerste Saiten mit leichter Mühe berührt werden können; aber auch Marthas Dienstleistungen sind alles Dankes wert. Ihre Entschlossenheit und ihr Muth in der größten Verlegenheit, ihre Bereitwilligkeit und Hilfsbegierde, ihr fertiges Geschick und ihre muntere Eile bereiten dem Hilfsbedürftigen Kranken ein sanfteres Lager, und mancherlei leibliche Erquickungen.
3.
Lazarus, der Freund Jesu, lag krank darnieder. Seine Gottesfurcht und seine achtungsvolle Liebe zu Jesu schließen ihn darum von den allgemeinen Lasten des Menschenlebens und den Gefahren der Krankheiten und des Todes nicht aus. Es ist ein falscher Wahn, den Mancher von dem Irrweg der Sünde auf den schmalen Pfad des Lebens eine Zeitlang mit sich herübernimmt, als ob das Christentum ihn vor den Übeln des Lebens sichere. Andere sind in Gefahr, sich daran zu stoßen, wenn sie die harten Leiden sehen, worunter hie und da ein rechtschaffener Christusverehrer seufzt. Manche sind sogar kühn genug, in ihrem Irrtume mit Hiobs Weibe den gedrückten Christen zu fragen: „Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Gib Gott den Abschied, und stirb!“ Solche leidige Tröster haben die Natur und das Wesen des Christentums noch nicht recht gefasst. Sie müssen sich zuerst mit dem Buchstaben der Lehre Jesu und seiner Apostel bekannt machen, ehe sie für den Beweis empfänglich sind, dass Buchstabe und Geist des Christentums so wenig mit den allgemeinen und besonderen Erdenleiden in irgend einem auch nur scheinbaren Widerspruch stehen, dass es vielmehr Jesus zur ersten Bedingung seiner Jüngerschaft macht, täglich sein Kreuz auf sich zu nehmen, und in stiller Geduld Ihm auf dem dornigen Lebenspfade nachzufolgen. (Luk. 9,23. Matth. 10,38.) Und stellte Er nicht selbst an sich das merkwürdigste Beispiel auf, dass der gehorsame Schüler des Vaters den Mühseligkeiten dieses Lebens nicht ausweichen könne und dürfe, wenn er zu den schönen Tugenden des Reichs Gottes allmählig heran reifen, und zur unerschütterlichen Glaubens-Festigkeit gelangen solle?
4.
Aber hat denn wirklich das Ungemach des Christen eine so anstößige Seite, ihr stillen Träger schwerer Kreuzeslasten, dass ihr dadurch in Gefahr geraten könnt, an euch selbst und an der göttlich-weisen Führung eines Himmlischen Freundes in der dunkeln Stunde der Trübsal irre zu werden? - Es ist wahr, Manche unter euch liegen schwer darnieder, und seufzen unter ihrer drückenden Bürde aus der Tiefe sehnsuchtsvoll um Erlösung empor. Es ist wahr, dass es Leidensstunden gibt, welche den mannigfaltigen Druck der sterblichen Hülle dadurch zehnfach vermehren, dass ein düsteres Gewölke den Himmel unserer Seele anzieht, und jeden Lichtstrahl der erquickenden Hoffnung verdunkelt. O wer euch in solchen bangen Lagen flehen hörte: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott! zu Dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott! Wenn werde ich dahin kommen, dass ich sein Angesicht schaue?“ Wer euch klagen hörte, dass der Trost eures Herzens von euch gewichen sei, und Gott eures Jammers vergessen habe: Der kann nicht anders, als mit tiefer Rührung euch betrachten, und eure Kummertränen mit teilnehmendem Schmerz auffassen.
Aber kennt ihr denn nicht auch die heitere Seite des Schmerzens, der an euerm Körper und an eurer Seele nagt? Habt ihr's noch nicht versucht, euch durch die Kraft der Gnade, die in den Schwachen mächtig ist, aus der finstern Höhle banger Schwermut zu den tröstlichen Aufschlüssen des Evangeliums emporzuschwingen? Sind so bald alle Hoffnungen aus eurer Seele verschwunden, dass der Vater der Liebe das Gebet des Elenden höre und erhöre? Macht einmal die Probe, mit euerm düstern Blick nicht immer auf die finstere Gestalt eurer Leiden hinzuschauen, sondern denselben zutrauensvoll auf den allmächtigen Erbarmer hin zurichten, von dem alle Hilfe kommt. Gewiss, euer Glaube wird nicht sinken; ihr werdet zwar bisweilen sagen, aber doch nimmermehr verzagen.
5.
Unglücklicher Weise für den kranken Lazarus und seine beiden bedrängten Schwestern hatte der Hass der Juden Jesum, ihren hilfreichen Freund, von dem nahe gelegenen Jerusalem jenseits des Jordans entfernt. Indessen erfuhren sie doch bald den Ort seines Aufenthalts. Wäre Jesus da, hieß es, so würde Er in unserer kummervollen Lage bald Rat geschafft haben. Er könnte unsern kranken Bruder, den Er so zärtlich liebt, nicht so heftig leiden sehen, ohne zu helfen. Hat Er schon so vielen Unbekannten und Fremden geholfen, die seinem Herzen nicht so nahe waren; was würde Er an unserm Bruder, was an uns tun, die wir so schwer mit ihm leiden? Wenn Er's nur wüsste, in welcher Verlegenheit wir uns jetzt befinden, Er würde sich durch nichts abhalten lassen, ungeachtet der Mordlust seiner Feinde mit einem Herzen voll Hilfsbegierde zu uns über den Jordan herüberzueilen, und unsern Jammer in Freude zu verwandeln. Wo der menschliche Arzt kein Hilfsmittel mehr weiß, da weiß Er noch Rat und Hilfe zu schaffen. Wir wollen es keinen Augenblick länger anstehen lassen, Ihn mit unserer dringenden Not bekannt zu machen.
Gesagt - getan! Ein Eilbote wird an Jesum abgesandt, durch den die bedrängten Schwestern Ihm sagen lassen: HErr! siehe den Du lieb hast, der liegt krank!
Schöne einfältige Sprache der zutrauensvollen Liebe zu Jesu! - Wie wenig Aufwand in Worten, und doch wie Vieles mit Wenigem gesagt! Jesus hatte es ja schon durch die Tat gezeigt, dass Er ihren Bruder liebe. Darauf dürfen sie sich bei Ihm getrost berufen. Und seine Liebe sie ist nicht leerer Wortschall, sie ist Tat und Wahrheit. Sie dürfen darauf rechnen, dass Er auch in dem gegenwärtigen Fall auf die erste Nachricht herbei eilen, und dem Kranken Linderung und Hilfe bringen werde.
Wenn es alle Kranke so machten, und die teilnehmenden Freunde von allen kranken Freunden diese Sprache führen dürften, wie unaussprechlich Vieles wäre schon damit gewonnen! O der unglückseligen Ratlosigkeit so mancher sogenannten christlichen Familie, die sich nicht zu raten weiß, wenn der Vater oder die Mutter oder ein Kind krank darnieder liegt! Da ist des Rennens und Laufens, des Weinens und Klagens kein Ende. Schon am ersten Tage müssen es alle Freunde wissen, aber dem besten, teilnehmendsten Freunde sagt man nichts davon. Jedem, der in den Weg tritt, klagt man seine Not; aber Dem klagt man nichts, Dem, so weit die Schöpfung geht, Alles zu Gebote steht, und Der eben daher am besten und wirksamsten trösten könnte. Nur vom leiblichen Arzt, nur von den zahlreichen Arzneien, die am Bette des Kranken stehen, erwartet man Hilfe, aber zu dem unsichtbaren Arzt, der allein helfen kann, kommt man nicht, um Ihn um seine Hilfe anzusprechen.
Anders machten es Martha und Maria. Jesus muss es vor allen Andern wissen, dass ihr Bruder krank liege, seines Beistandes und seiner Hilfe müssen sie vor allem Andern gewiss sein. Mache es auch also, lieber Leidender! Gewiss, du gehst alsdann den sichersten Weg. Lass es dir in gesunden Tagen recht angelegen sein, der Freundschaft Jesu gewiss zu werden, damit du auch in kranken deine Zuflucht zu seiner allmächtigen Liebe nehmen könnest, und deine teilnehmenden Freunde Ihm betend sagen mögen: „HErr, siehe den Du lieb hast, der liegt krank!“
6.
Der Eilbote kommt mit der Trauerbotschaft zu Jesu. Und gleich, als ob Jesus die Krankheit seines Freundes nicht für gefährlich hielte, lässt Er den trauernden Schwestern zu ihrem Troste zurücksagen: „Die Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch geehrt werde.“ Jesus überlässt es ihrem Glauben, wie viel oder wie wenig sie in diesen Worten sehen werden. In jedem Fall sagten sie Vieles zu, und hatten eine klare lichtvolle Seite, an die sich der Glaube des Bruders und der Schwestern Festhalten konnte. Der nächste Sinn dieser Worte war ihnen der liebste; weiter dachten sie nicht darüber nach, suchten den tiefen Sinn derselben nicht auf, der in ihnen verborgen lag. Nur um das Leben des gefährlich - kranken Bruders war es ihnen zu tun; und dieses sagt ihnen Jesus zu; wodurch ihr Herz vollkommen beruhigt war. Er selbst, dachten sie, werde nun bald dem Eilboten nachkommen, und durch ein Machtwort die Krankheit entfernen. Es kam ihnen nicht zu Sinn, dass die Antwort Jesu selbst alsdann noch eine volle Wahrheit in sich enthalte, wenn der Bruder stirbt, weil Jesus Christus der HErr des Todes ist, und Macht genug hat, selbst aus der finstern Gruft und aus den Armen der Verwesung seine Freunde zum Leben hervorzurufen.
Unbekanntschaft mit dem allumfassenden tiefliegenden Sinn der Worte Jesu und mit seinen verborgenen Wegen setzt uns oft in Gefahr, an uns selbst und an Aussprüchen des Wortes Gottes irre zu werden. Unser kurzsichtiger Blick und unser beengtes Herz, unser Kleinglaube und Schwachglaube trägt so gerne seine kleinen beengenden Einschränkungen in die Worte Jesu über, und beredet sich, Er habe nicht mehr gesagt, als unser spannenlanger Menschensinn den unergründlichen Gottessinn sagen lässt. Geschieht nun nicht sogleich und auf eben die Weise, was wir nach gewissen Zusagen Gottes hoffen zu dürfen glaubten, so sehen wir die Schuld durch Misstrauen in die Verheißungen des HErrn, und nicht in unsere Unbekanntschaft mit dem tiefliegenden, allumfassenden, ganz unbeschränkten Sinn seiner Worte. Wir erwarten immer zu wenig von den Verheißungen des HErrn, und nach manchen Läuterungsstunden lernen wir erst einsehen, dass nicht bloß das, was wir vorher sahen und hofften, sondern noch unendlich Mehreres in den Worten Gottes enthalten liege. Zu diesem tieferen Verständnis sind die Leiden der beste Schlüssel.
7.
Was die zunehmende Krankheit an den Worten Jesu dunkel machte, das hellte der Ausgang der Geschichte um so schöner auf. Gott und Jesus Christus sollte das durch geehrt werden, und Er ward es auch wirklich mehr, als Martha und Maria anfangs glauben konnten. Was Gott ehrt, das dient zugleich zur Verherrlichung Jesu Christi; und was den Namen des Sohnes verherrlicht, ist Verherrlichung des Vaters. Die Menschen sollen den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren; wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt auch den Vater nicht, welcher Ihn gesandt hat. Dies ist das große Ziel, die herrliche Berufung, dem der Christ in gesunden und kranken Tagen nachjagt. Nur das hat einen Wert für ihn, ist seiner Liebe und seines Strebens würdig, was Gott ehrt, und Jesum Christum verherrlicht.
Möchtest du doch diesen großen Endzweck deiner Widerwärtigkeiten recht scharf ins Auge fassen, leidender Schüler Jesu! Auf dies und sonst auf nichts anders hast du unter deiner Trübsal zu sehen. Ehrest du Gott und Christum durch dein Leiden, so hast du eine größere Tugend geübt, als wenn du im Wunderglauben Berge versetzt hättest. Lass dich die Dunkelheit deines Kreuzes nicht schrecken; siehe, die Verherrlichung Gottes und Jesu Christi liegt hinter dem düstern Schleier, der dir jetzt den erfreulichen Ausgang deines Ungemachs verbirgt. Durch steigendes Leiden wird steigende Verherrlichung zu Stande gebracht. Behalte diesen heitern Lichtstrahl stets im Auge, wenn dich die Finsternis umgibt, und die Wellen der Trübsal über deinem Haupte zusammenschlagen. Gott und Jesus Christus sollen jetzt durch dein Leiden verherrlicht werden. Wie? Hast du denn so wenig gewonnen, wenn du Gott durch beharrliche Geduld und kindlich-stillen Glauben geehrt hast? Ist denn dieser Beruf so gering? so unbedeutend? des Menschen, des Christen so unwürdig? - Das denkst du wohl nicht, das kannst du nicht denken, wenn du wirklich ein Christ bist. An Gottes und Christi Ehre ist dir zu viel gelegen, als dass du um dieses hohen Zieles willen nicht auch eine kleine, leicht vorübergehende Last tragen, einen Tropfen aus dem bitteren Leidens-Kelch trinken wolltest, den Er mit so viel Süßigkeit vermischt. Mit lautem Jubel sieht der Seraph vor dem Throne auf das Krankenlager des Christen herab, der in der heißen Prüfung der Leiden durch zutrauensvolles Harren und demütige Ergebung seinen HErrn ehrt. Dieses Ziel lasse dir durch Nichts verrücken. Überlasse ruhig die Art und Weise, wie Gott und Jesus Christus durch den Ausgang deiner Leiden verherrlicht werden soll, Dem, Der kein Wort umsonst, und keines zu viel sprach, und Dessen Macht und Liebe unergründlich ist.