Römheld, Carl Julius - Vorrede zur ersten Auflage.

Römheld, Carl Julius - Vorrede zur ersten Auflage.

Diese Predigten wurden sämtlich in der Landgemeinde Bingenheim gehalten. Wenn ein Geistlicher in eine Gemeinde neu eintritt, dann wird in der Regel die Grundlage zu revidieren sein, ehe weiter gebaut wird. Übrigens werden jetzt in den meisten Gemeinden grundlegende Predigten am Platz sein. Denn sie reißen den Grund um. Stände dieser noch oder wieder fest, dann könnte man wegen der Zukunft unsres Volkes beruhigt sein.

Die Beschaffenheit der Gemeinde muss sowohl auf den Inhalt, als auch auf die Form und Fassung der Predigt einen wesentlichen Einfluss üben. (Umgekehrt wird sich in einer Predigtsammlung die Gemeinde bis zu einem gewissen Grade abspiegeln.) Es kann aber in unsrer Zeit nicht schlicht und fasslich genug gepredigt werden, was jedoch den Gebrauch gewisser Fremdwörter nicht ausschließt, sondern eher fordert. Unserm juristisch und journalistisch geschulten Volk sind viele Fremdwörter leider recht geläufig.

Von entscheidendem Einfluss auf die Predigt ist zweitens die Persönlichkeit des Predigers, die Stufe seiner Erfahrung, Erkenntnis und Heiligung, welche bei allen anders sind. Darauf beruht zum großen Teil die Originalität der Predigt. Neues soll nicht gepredigt werden, aber das Alte nach neuer und eigenartiger Erfahrung.

Drittens ist zu beachten, dass der Heiland nicht geboten hat, über das Evangelium zu predigen, sondern: Predigt das Evangelium aller Kreatur. Das ist die Generalregel für Evangelienpredigten. Also wird auch nicht vom „Christentum“ zu predigen sein, welches doch nur ein lebloses Abstraktum ist. Sondern Jesus Christus selbst, oder das Evangelium, das heißt: die Geschichte von Jesu Christo, muss der Inhalt der Predigt sein, wie sich's denn in allem um das Verhältnis von Person (auf Erden) zu Person (im Himmel) handelt. Jesum Christum predigen, und das Christentum predigen, ist mit Nichten das Nämliche. Das Christentum kann uns und unserm Volk nicht helfen, Christus kann und will es. Wo die Beziehung von Person zu Person nicht besteht und zum Ausdruck kommt, da ist das Leben geschwunden, da fehlt die heiligende Wirkung, da ist Rationalismus. Die Orthodoxie ist auch eine Art des Rationalismus, und die Forderung, es sollen keine Dogen oder es solle nicht dogmatisch gepredigt werden, ist keineswegs unberechtigt. Auch von der Kirche wird nur ausnahmsweise zu predigen sein. Diese soll ihr Dasein, ihre Berechtigung und ihre Macht nicht dadurch beweisen, dass sie von sich selbst redet, sondern durch die Tat, nämlich dadurch, dass sie dem Volke den Herrn Jesum Christum bringt, und das Volk bei und an ihm erhält.

Wird nun das Evangelium gepredigt, dann kommt es darauf an, dass die heiligen Geschichten in unsre Sprache und in die jetzigen Verhältnisse übersetzt werden, und dass die Gemeinde in das Evangelium als in eine gegenwärtige und fortlebende Geschichte eingeführt werde, so dass die Begebenheiten vor den Augen der Gemeinde entstehen. Man könnte diese Predigtweise die genetische nennen. Unsere jetzigen Zuhörer wollen Handlung sehen. Dann muss und kann es den Begebenheiten selbst und dem Heiligen Geist überlassen werden, auf die Zuhörer zu wirken.

Gott ist von den Menschen, die Menschen sind von Gott geschieden, beide sind einander entfremdet, ja, die Menschen kennen Gott nicht mehr und sind ihm feindlich. Die Sünde ist nicht bloß die Scheidewand zwischen beiden, sondern im tiefsten Grunde die Scheidung selbst von Gott. Nun ist der Sohn Gottes zu den Menschen gekommen und ist in dem Menschen Jesus der Christus geworden. Jesus ist das sichtbare Ebenbild des unsichtbaren Gottes, d. h. Gottes des Vaters. Er ist der geoffenbarte Gott. Aber Jesus hat die Erde wieder verlassen und ist uns seitdem nicht mehr sichtbar. Haben wir vielleicht ein Bild von ihm, von dem, der das sichtbare Ebenbild und das Angesicht des unsichtbaren Vaters, der der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens ist?

Er hätte wohl ein Bild von sich hinterlassen können, das von einem Künstler gefertigt, oder von Gott selbst gegeben wäre, wie das Gesetz von Gott in Steine gebildet war. Aber es war nicht sein Wille. Denn Abgötterei wäre unausbleiblich gewesen, und der Herr hätte ihr dann selbst Vorschub geleistet gehabt. Denn die Menschen würden das Bild statt des Abgebildeten angebetet haben.

Dennoch hat er uns ein Bild von sich hinterlassen, und mehr als das. Denn er hat den Heiligen Geist gesandt, und dieser hat durch die Evangelisten und Apostel, nicht mit Farben, nicht in Erz oder Stein, sondern im Worte, diesem Geistesmittel, dieser Geisteshülle, dieser Geistesverkörperung, uns ein Bild von Jesu gezeichnet, dass es kein Maler oder Bildhauer so hätte zu Wege bringen können.

Aber auch jetzt wird es keinem Menschen möglich sein, nach diesem Originalbild eine Kopie zu verfertigen, welche den Christus richtig und ähnlich abbildete. Das vermag und tut auch jetzt nur noch der Heilige Geist. Denn wenn jemand das Bild im Worte Gottes, besonders in den Evangelien, mit Liebe und Interesse betrachtet, sich in seine Betrachtung vertieft, dann hat der Schöpfer desselben, der Heilige Geist, daran ein solches Wohlgefallen, dass er kommt und das Bild zuerst vor den Augen des Beschauenden, dann in seinem Herzen lebendig macht, es mit göttlichem Glanze verklärt, und in sein Herz abbildet, dass er aber je länger, je mehr auch den Beschauenden selbst von Innen heraus in dasselbe liebe, heilige Bild verklärt. So ist und wird dieses Bild ein lebendiges und ein lebendig machendes. Das kann von keinem andern Christusbilde, sei es noch so vollendet, gesagt werden. Dies ist das einzige wundertätige Bild. Denn wenn's fertig ist, so ist es Jesus Christus selbst, der durch das Wort [und Sakrament] zu den Seinen kommt und alle Tage, bis an der Welt Ende, bei ihnen ist.

Da nun Gott gewollt und es so eingerichtet hat, dass sich dieses Bild nicht so sehr durchs geschriebene Wort, als gleichfalls von Person zu Person mitteile, so ist es die Aufgabe des Predigers und Lehrers, den Erwachsenen wie den Kindern1) dieses liebe Bild in seinen gottmenschlichen Zügen vor die Augen zu malen, und ihnen so zur anbetenden Betrachtung desselben behilflich zu sein. Je lebensvoller und ähnlicher jemand das Bild des Erlösers in Beweisung des Geistes und der Kraft den Leuten vor die Augen malt, ein desto besserer Prediger und Lehrer ist er. Wenn dabei auch nicht immer eine begriffsmäßige oder dogmatische Kenntnis oder Erkenntnis gewonnen wird, so ist's schon viel wert, wenn die Zuhörer wieder einmal aus der Atmosphäre der Welt in eine andre versetzt, wenn sie in die Nähe des Sohnes Gottes und in Verbindung mit Jesu gebracht werden. Wenn sie da wieder einmal Luft aus einer andern Welt atmen, so kann dies schon ein Anfang und, wenn es wiederholt geschieht, ein Fortschritt zur Genesung werden.

Schon daraus folgt, dass sich die Predigt von heute mancher hergebrachten homiletischen Regel und auch Schranke wird entschlagen und freier einhergehen müssen; sie muss der Zeit gebührende Rechnung tragen. Manche geoffenbarte Wahrheiten und Geheimnisse des Himmelreichs können nicht ohne Weiteres als fertige Resultate dem Glauben der Gemeindeglieder zugemutet werden, man darf jene nicht mit der ganzen Wucht ihres Inhaltes von der Kanzel auf die Gemeinde herabfallen lassen. Sondern man wird sie erst mit der Gemeinde suchen und finden, man wird den Glauben durch eine Schlusskette aufbauen müssen und sich den Beweis des Glaubens nicht ersparen können. Zu diesen Resultaten gehören selbst manche der gewöhnlichsten dogmatischen Begriffe, z. B. Rechtfertigung, Heiligung. Denn sie schließen schon eine ganze Gedankenreihe ein und ab. Vor einer Gemeinde von lauter Erfahrungs-Christen kann man unbedenklich mit solchen prägnanten Worten operieren, nicht aber, wo noch die politische Gemeinde auch die kirchliche ist.

So wenig die Predigt rationalistisch sein darf, so sehr muss die Predigtweise rationell sein. So elementar auch die meisten der vorliegenden Predigten gehalten sind, so sind sie doch durchweg auf denkende Hörer (Leser) berechnet. Denkträge oder einseitig und unfrei Denkende werden sich unbefriedigt von ihnen abwenden.

Auch damit ist jetzt meistens nichts auszurichten, dass Zitate aus der heiligen Schrift als Beweisstellen gehäuft werden. In einer Zeit, wo das Volk bibelkundiger und bibelfester, wo das göttliche Ansehen der Schrift allgemein über jeden Zweifel erhaben war und das gesamte Volksleben auf dem Verhältnisse zu Christo beruhte, wo also das Leben noch einen Anschauungsunterricht für das Verständnis der Heilswahrheiten bot, da hatte dieses nicht bloß Berechtigung, sondern war selbstverständlich. Diese Zeit ist vorüber; darein muss sich die Predigt schicken. Doch ist dabei nicht ein Jota von der Wahrheit preis zu geben, und die Predigt muss durchweg persönliches Zeugnis sein.

So mögen diese Predigten hinausgehen und zeugen von dem Leben, das erschienen ist, ohne welches niemand das wahre Leben hat. Gunst der Welt kann ich ihnen nicht mitgeben, auch nicht die heutzutage unentbehrlich scheinende Unterstützung einer menschlichen Partei. Doch bin ich gewiss, dass der Name über alle Namen, der ihnen in jeder Zeile aufgeprägt ist, seine Kraft auch bei ihrem Gange durch die Welt beweisen wird. Wenn aus ihnen nur ein einziges von seinen erwählten Schafen die Stimme des guten Hirten hört und ihn persönlich kennen lernt, dann will ich einmal rühmen: Der Herr hat Glück dazu gegeben. Wer aus der Wahrheit ist, der hört seine Stimme.

Bingenheim im August 1878.

D. V.

1)
Auch der Schule, namentlich der Sonntagsschule, möchten diese Predigten eine Handreichung tun.
Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/r/roemheld/kirchenjahr/roemheld-kirchenjahr-vorwort.txt · Zuletzt geändert: von aj
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain