Tholuck, August - Predigt gehalten am Palmsonntage 1826,

Tholuck, August - Predigt gehalten am Palmsonntage 1826,

in der Dreifaltigkeits-Kirche zu Berlin

Gebet

Herr Jesu Christe, du oberster Hirte und Bischofs unserer Seelen, erbarme dich unser! Laß Du uns bedenken zu dieser Stunde was zu unserem Frieden dient. Amen.

Predigt

Text: Luc. 19, 41 - 44.
Und als er nahe hinzu kam, sahe er die Stadt an und weinte über sie. Und sprach: O wenn doch du, wenigstens zu dieser Zeit, erkenntest, was zu deinem Frieden dient! Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen.

Lasset zuerst uns erwägen, in welcher Zeit diese Worte unseres Heilandes gesprochen sind. Der Mensch wird allemal von einem ernsten, heiligen Gefühle ergriffen, wenn der Zeitpunkt erscheint, auf den lange Jahre ihn hingewiesen, den lange Jahre vorbereitet haben. Als der Heiland, um sein Leben als Opfer darzugeben für die Welt, nach Jerusalem zum letztenmal hinaufzieht, und, indem er auf die Stadt hinblickt, im Geiste die nächste Woche und ihre großen Begebenheiten überschaut, da erkennt er in ihr, unter tiefer Bewegung des Geistes, die Zeit, auf welche zwei Jahrtausende vorbereitet hatten. Als Jerusalem noch nicht war und kein Volk Israel, kein Tempel und kein Priester, als der Vater der Gläubigen noch auf den Triften Canaans seine Heerden weidete, da ward schon auf jenen Stätten von dem Tage und den Dingen geredet, die nun sich vollenden sollten. „In deinem Namen sollen - lautete das Wort des Herrn an Abraham - alle Geschlechter der Erde gesegnet werden,“ und Abraham sähe den Tag des Herrn und freuete sich. Als das erwählte Volk noch an den Gränzen des Landes steht, wo Jehovah seines Namens Gedächtniß stiften wollte, als der Donner Sinais noch in seinen Ohren schallte und der Herr über die Höhen der Erde vor ihm her fuhr, daß die ewigen Berge erbebten, da stehet Moses den Tag Jesu Christi und spricht: „Gott wird euch einen Propheten wie mich erwecken, den sollt ihr hören.“ Als der Herr dem Volle, das er lieb hatte, Frieden gegeben, und es ruhet von Beute beladen wie die Taube mit silberschimmernden Flügeln, und David die Lade Gottes nicht will unter Teppichen ruhen lassen, sondern im Ledernen Hause, da stehet er den Tag Jesu Christi, der dem Namen Gottes ein Haus baut, und freuet sich im Geiste und spricht: „Wer bin ich, Herr, Herr! und was ist mein Haus, daß du mich bis Hieher gebracht hast; dazu hast du das zu wenig geachtet, sondern hast dem Hause deines Knechtes noch von Fernem und Zukünftigen geredet. Das ist die Weise eines Menschen, der Gott der Herr ist.“ Und als die weissagende Stimme Gottes im Alten Bunde verstummt, und der Geist der Prophezeiung vom Volke hinweggenommen wird, da stehet der letzte der Propheten des Alten Bundes den Tag Jesu Christi und freuet sich und ruft mit fröhlicher Zuversicht aus: „Siehe, ich will meinen Engel senden, der vor mir her den Weg bereiten soll. Und bald wird kommen zu seinem Tempel der Herr, den ihr suchet, und der Engel des Bundes, deß ihr begehret.“ Und siehe, als die Zeit erfüllet ist, erschallt die Stimme eines Predigers in der Wüste, die ruft laut: „Thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ Und in der Stille bereitet sich der Heiland Israels dreißig Jahre lang vor, und geht drei Jahre lang in den Landen umher und heilet die Kranken und ruft die Zöllner und Sünder, und die Zeit kommt heran, wo er das größte Liebeswerk, das je gesehen, vollenden, wo er den Schlußstein legen soll der Offenbarungen aller Zeiten. Er zieht nach Jerusalem hinauf. Er weiß, daß er gekommen ist, ein Feuer anzuzünden auf Erden, aber er weiß auch, daß er sich zuvor mit einer Taufe muß taufen lassen, und es ist ihm bange, bis daß sie vollendet werde. Seinen Augen ist die ferne Zukunft aufgethan, er sieht die Tausende, die durch seine Versöhnung am Kreuz werden selig werden, er sieht aber auch, daß gerade über die Stadt Gottes, über Zion die Rache Gottes kommen werde, daß die Feinde eine Wagenburg um sie schlagen, sie belagern und an allen Orten ängstigen werden. Da stellen sich seinem Geiste die tausend Proben der Geduld und Liebe dar, in denen sich Gott seinem Volke bezeugt und ihm einen Knecht nach dem andern geschickt hat, die sie stäupten und tödteten, bis daß der Erbe erschien; da gingen seinem Geiste die Straf- und die Liebesgerichte vorüber, durch welche Gott von Jahrhundert zu Jahrhundert sein Volk eingeladen hatte; da sieht er im Geiste vorher, wie auch er selbst, der Erbe, gleich den Knechten werde verworfen und getödtet werden, und überwältigt von diesen Gedanken ruft er im Tempel aus: „Jerusalem, Jerusalem, die du tödtest die Propheten und steinigest die zu dir gesandt sind. Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, aber ihr habt nicht gewollt.“ Und eben so ruft er auch hier, noch ehe er in die Stadt hineingetreten ist, und zwar unter Thränen: „Wenn du es wüßtest, so würdest du bedenken, zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient. Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen. Denn es wird die Zeit über dich kommen, daß deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern und an allen Orten ängstigen, und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem andern lassen, darum daß du nicht erkannt hast die Zeit, darin du heimgesucht bist.“

Was der Herr von Jerusalem sagt, kann in gewissem Sinne von jeder Stadt und von jedem einzelnen Menschen gelten. Jede Stadt hat eine Zeit der Heimsuchung, jeder einzelne Mensch hat eine Zeit der Heimsuchung in seinem Leben. Lasset uns daher zuerst betrachten die Natur der Gnadenheimsuchungen über einzelne Länder, sodann die Beschaffenheit der Gnadenheimsuchungen, die in den Leben jedes einzelnen Menschen eintreten.

Die Verkündigung des Evangelii, sagt Luther, ist wie ein Strichregen, jetzt trifft er die eine Gegend, jetzt die andere. Gott geht durch ganze Geschlechter der Menschen gleichsam hin, wie ein mildthätiger König; jetzt spendet er den vorderen Reihen, jetzt den mittleren, jetzt den Hinteren. Es giebt Zeiten in der Christenheit wie die des Eli, wo wenig Weissagung ist und das Wort Gottes theuer ist im Lande. Es giebt aber auch Zeiten der Erquickung, wie die des Pfingstfestes, wo die Thüren der Herzen aufgethan und durch Eine Predigt an 3000 Seelen bekehrt werden. Es giebt Zeiten, wo die Priester des Landes Hophni und Pinehas das Gerücht ihres bösen Wirkens im ganzen Volke erschallen lassen, und die Sache Gottes zum Spott machen unter ihren Verächtern. Es giebt aber auch Zeiten, wo Priester aufstehen wie Samuel, die ganz Israel, von Dan an bis Bersaba, für getreue Propheten des Herrn erkennt. Solche Zeiten nun nennt die Schrift Gnadenheimsuchungen des Herrn, und der Herr Christus weint, wenn er sieht, daß ein Land solche Gnadenzeiten kann ungenützt vorüber gehn lassen. Meine Brüder und Schwestern im Herrn! Auch ihr in dieser Zeit und dieser Stadt seid in der Zeit einer solchen Gnadenheimsuchung. Es hat eine Zeit gegeben, und sie liegt noch nicht weit hinter uns, Viele von euch haben selbst noch dann gestanden, wo die Lehrer statt der ewigen Gedanken unseres Gottes die eigenen Gedanken ihres trügerischen Herzens verkündigten, wo sie Böses gut und Gutes böse nannten, Friede, Friede sagten, da kein Friede war, und die Wunde des Volks heilten, daß sie eiterte; wo das Volk auch selbst nach Lehren haschte, die ihnen die Ohren juckten, und zu den Lehrern sprach: „Weissaget uns - in den Kelter und auf die Tenne!“ O eine Zeit, in der ein Jeremia abermal hätte klagen müssen: „Mein Herz will mir in meinem Leibe brechen und alle meine Gebeine zittern, daß das Land so jämmerlich stehet, daß es so verflucht ist, und die Auen verdorren, denn ich höre es wohl, daß die Propheten predigen und falsch weissagen in meinem Namen und sprechen: „Mir hat geträumt, mir hat geträumt!“ und wollen, daß mein Volk meines Namens vergesse über ihren Träumen. Ein Prophet, der Träume hat, predige Träume, wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Waitzen zusammen? spricht der Herr.“ Es ist diese Zeit noch nicht völlig vorüber, aber in vielen Gegenden ist das Volk ekel geworden vor der losen Speise, es will nicht mehr Menschengedanken vernehmen, es will in das geöffnete Herz Gottes schauen und erfahren, welche Friedensgedanken da aufbewahrt sind für bußfertige Sünder. Denn das einzige Thema, das für christliche Kanzeln gehört, ist ja dies, wie Sünder selig werden können. Aber auch so mancher unter den Hirten und Lehrern ist erschrocken vor dem Tage, von dem es heißt: „Wer wird den Tag seiner Zukunft erleiden mögen, und wer wird bestehen, wenn Er wird erscheinen, denn er ist wie das Feuer des Goldschmidts und wie die Seife des Wäschers,“ vor dem Tage, da sie die Rechenschaft werden in die Hand des Oberhirten ablegen müssen, wie sie die Heerde geweidet haben. So mancher hat den Taumelkelch, der ihn lange berauscht hatte, von sich geworfen, er hat begonnen um Christi willen zum Thoren zu werden, und das Geheimniß der Gottseligkeit zu verkündigen, das von der Welt Anfang an verborgen war, er scheut sich nicht mit Freimüthigkeit zu bekennen, daß Gott war in Christo und versöhnete die Welt mit sich selber, und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. - Eine solche Gnadenheimsuchung nun ist insbesondere auch euch, Bewohnern dieser Stadt, zu Theil geworden, und o daß ihr in dieser eurer Zeit erkennen möchtet, was zu euerm Frieden dient, damit Christus nicht auch an euch vorübergehe und Thränen weine. Daß ihr eure Zeit wahrnehmen möchtet, denn hat der Herr sein lebendiges Wort euch geschenkt in seiner Gnade, so kann er es euch auch entreißen in seinem Zorn. Wo ganze Völker sich unwerth achten der ihnen sich darbietenden Gnade, da verbirgt Er sein Antlitz vor ihnen und geht vorüber und läßt sie sterben in ihren Sünden. Sehet hin auf das, was der Heiland zu der Gemeinde zu Ephesus spricht: „Gedenke, wovon du gefallen bist, und thue Buße, und thue die ersten Werke. Wo aber nicht, so werde ich kommen bald und deinen Leuchter wegstoßen von seiner Stätte, wo du nicht Buße thust.“ Und der Leuchter ist hinweggestoßen von jenen Stätten, und der Halbmond ist dort aufgepflanzt statt des heiligen Kreuzeszeichen. O Bewohner dieser Stadt! Wer Ohren hat zu hören, der höre. Viele Evangelisten laden mit lauter Stimme zu der Mahlzeit des Lammes ein, verhärtet euer Herz nicht, damit nicht dermaleins auch von eurer Stätte der Leuchter des Evangelii gestoßen werde.

Aber nicht nur, daß die Gnadenhand Gottes von euch weicht, euer Gericht ist auch schrecklicher, denn das eurer unwissenden Brüder. Denn so ist es überall im Reiche Gottes. Je mehr angenommene Gnade, desto mehr dazu gegebene Gnade. Wer da hat, dem wird gegeben werden. Je mehr zurückgestoßene Gnade, desto mehr entzogene Gnade und dazu gegebenes Gericht. Die Propheten und Könige der alten Zeit hatten verlangt zu sehen was die Bürger von Chorazin und Bethsaida sahen, und hatten es nicht gesehen. Darum ist aber auch Bethsaidas und Chorazins Gericht am Tage des Gerichts schrecklicher, als das Gericht Sodoms und Gomorrhas, nach des Herrn Ausspruch: „Es wird der Sodomer Lande am jüngsten Tage erträglicher gehn, denn euch.“ Ihr Bürger dieser Stadt! Viele Heilige der vorigen Zeit haben sich gesehnet mit ihren Augen zu sehen und mit ihren Ohren zu hören, was ihr sehet und höret, und haben es nicht gesehen und gehöret, o hüthet euch, daß nicht auch von euch des Heilands Worte gelten mögen: „Die Leute von Ninive werden auftreten am jüngsten Tage gegen dieses Geschlecht, und werden es verdammen.“ An euch alle aber, die ihr die Zeichen dieser Gnadenzeit sehet, und derer keines merket und zu Herzen nehmet, ergeht der Ausruf des Herrn: „Des Abends sprecht ihr: „Es wird ein schöner Tag werden, denn der Himmel ist roth,“ und des Morgens sprecht ihr: „Es wird heut Ungewitter seyn, denn der Himmel ist trübe.“ Ihr Heuchler, des Himmels Gestalt könnt ihr beurtheilen, könnt ihr denn nicht die Zeichen dieser Zeit beurtheilen?“

Aber es giebt nicht nur Gnadenheimsuchungen über ganze Zeiten und Länder, jeder einzelne Christ erfährt solche Gnadenheimsuchungen. Der Mensch, meine andächtigen Zuhörer, ist für das Leben in Christo geschaffen und kann nur Ruhe finden in ihm. Das ganze Leben, von unserer Geburt an, ist eine Erziehung unsres himmlischen Vaters, durch die er uns zu diesem letzten Ziel und Endzweck unseres ganzen Daseyns hinführen will. Wir leben alle von Tag zu Tag, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr, ohne die Fügungen unseres Lebens, ohne unsere Bestimmung zu verstehen. Endlich, nachdem schon oftmals einzelne Strahlen vorübergehend die Nacht unseres Innern erhellt haben, kommt die Stunde, wo der Morgenstern im Herzen aufgeht, und unser ganzes, vorhergegangenes Leben erleuchtet, wo wir im Lichte erkennen unsere Bestimmung und den Endzweck unseres Daseyns. Dies ist die Zeit der Gnadenheimsuchung, die jeder Christ erfährt, welcher nicht der erziehenden Hand seines Gottes widerstrebt hat, und welcher, wenn jene große Stunde anbricht, seine Zeit erkennt. Verschieden sind aber die Vorbereitungen, durch welche der Mensch für jenen wichtigsten Zeitpunkt seines Lebens erzogen wird. - Der Eine ist von Jugend auf von frommen Eltern geleitet und unterwiesen worden, welche ihm unter Gebet und Seufzen die selig machenden Wahrheiten des Evangelii vorgehalten haben. Er hat von Kindheit an Vorbilder eines gottseligen Wandels vor Augen gehabt. Er hat dann und wann einen Eindruck davon bekommen, daß der Mensch in der Wahrheit allem ruhen könne, daß der christliche Glaube allein das Räthsel des ganzen Lebens auflöst, daß ihm selbst nur geholfen werden kann, wenn er dieser Predigt gehorsam wird. Aber er ist ein Gebundener, der dies alles wohl erkennt, aber die Füße nicht regen kann, um die Bahn des Friedens zu laufen, und die Hände nicht bewegen, um den Heiland, der vor ihm steht, zu ergreifen und an sein Herz zu ziehen. Er tritt ins bürgerliche Leben ein. Die Leerheit alles Treibens ekelt ihm an. Der Druck desselben fallt schwer auf ihn, Leiden ziehen sich über ihm zusammen, es trifft ihn Verläumdung und Verfolgung. Es entsteht eine Angst in seinem Innern, die innere Angst giebt ihm Kräfte. Er kennt den Weg, den er wandern soll, er kennt den Erlöser, den er ergreifen soll. Er sprengt die Banden, die ihn fesseln, er streckt die Hände aus nach seinem Erlöser, er läuft mit den Füßen die Bahn des Friedens. - Ein Anderer ist erzogen in der Finsterniß des Lebens ohne Gott. Die erziehende Hand seines himmlischen Vaters läßt ihn in der ganzen Zeit seiner Jugend auch nicht einmal auf die Zeugnisse der Wahrheit stoßen. Gott weiß, daß, wenn er nicht aller menschlichen Wege Eitelkeit erkennen lernte, er in der Gnade nicht gewurzelt würde. Dann aber, während er mitten in der Blindheit und Finsterniß ist, umscheint ihn plötzlich ein großes Licht. Es bricht eine Gnadenheimsuchung über ihn herein, die, wie bei dem Apostel der Heiden, in einem Augenblicke aus einem Saulus einen Paulus schafft. - Der Eine hat von Jugend auf den Zug vom Vater zum Sohn verspürt. Er hat sich nicht wohl befunden an der Brust der ganzen sichtbaren Natur. Er hat stets gefühlt, es muß etwas über dieses Leben hinaus geben, was den Menschen in diesem Leben hält und tröstet, und dies muß etwas Ewiges seyn. Wie der Mann das Kinderspielwerk Stück vor Stück in die Hand nimmt, es besieht und gleichgültig wieder niederlegt, hat er die Ergötzlichkeiten dieser Welt betrachtet, genossen und wieder niedergelegt, denn ein Hunger nach etwas Ewigem quälte sein Herz. Siehe! Plötzlich ruft der Sohn, und er, der vom Vater gezogen ist, versteht die Stimme des Sohnes und folget ihr und hat gefunden, was seine Seele begehrte. - Ein Anderer hat von Kindheit an sich wohl gefühlt in dem Treiben dieser vergänglichen, aber fröhlichen Welt. Von einem Sinnengenuß zum andern geschleudert, hat er sich nicht Zeit genommen zu bedenken, ob es auch noch etwas Anderes und Besseres gebe. Sein Wahlspruch war: Unser Leben fähret dahin als wäre eine Wolke, die da gewesen und zergehet wie ein Nebel, von der Sonnen Glanz zertrieben und von der Hitze verzehrt; unsere Zeit ist wie ein Schatten, der dahinfährt, und wenn wir weg sind ist kein Wiederkehren. Wohlan nun! schnell! lasset uns wohl leben, weil's da ist, und unseres Lebens brauchen, weil's jung ist. Ihm hat der Erlöser nicht bloß den Durst zu stillen, er hat ihn erst zu erwecken. Und bald thut er dieses durch das Locken der Liebe, bald durch den Donner des Gesetzes.- Der eine hat da hingelebt ohne Gott und dabei in stetem Glück und in Freuden, in allem was er unternahm, ließ Gott es ihm gelingen. Und als es immerdar Sonnenschein über ihm war, ward er übermüthig. Da sprach der Herr zu ihm: „Dieses alles thatst du, und ich schwieg, - da meintest du, ich werde seyn gleich wie du, aber ich will dich züchtigen und will dir deine Sünde unter die Augen stellen.“ Der Herr sendet eine Nacht der Trübsale über ihn, über ihm ist Nacht und Nacht um ihn her. In diesem Dunkel schlägt er in sich, er erkennt in seinem Elende die Strafe seiner Verirrung, er nimmt sein Kreuz auf sich und wird ein Jünger des Herrn, von dem das tägliche Leiden immermehr die alten Sünden abschmilzt. - Ein Anderer hat ein langes Leben in Leid und Noth zugebracht, es traf ihn ein Schlag nach dem andern, und er hat sich oft murrend gegen Gott gewendet, aber im Glauben die Hülfe erbitten konnte er nicht. Als die Noth zu lang währt und das stolze Herz endlich gedemüthigt ist, wendet er sich im Glauben zu seinem Herrn und Gotte. Da heißt es denn auch von ihm: Da dieser Elende zu Gott schrie, hörte er ihn. Er rafft sich auf von seinem Thränenlager und steht auf und wandelt und jubelt: Unser Gott ist ein Gott der Gebete erhört, darum komme alles Fleisch zu ihm! Ehe ich gedemüthiget war irrte ich, aber nun halte ich Dein Wort. - Uns ist es zu hoch, meine Geliebten, die Weisheit Gottes in allen diesen Fügungen zu fassen. Nur der Glaube erkennt in ihnen Fügungen Gottes und Vorbereitungen für Sein Reich. Die sich selbst überlassene Vernunft wird stets zweifeln. Der Glaube aber, der mit Staunen sieht, auf wie unendlich vielen verschiedenen Wegen die erbarmende Gnade ihre Kinder dem Himmelreich zuführt, ruft anbetend mit Paulus aus: O welche Tiefe des Reichthums beides der Weisheit und der Erkenntniß. Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und wie unerforschlich seine Wege!

Je größer nun diese erbarmende Gnade Gottes erscheint in der Erziehung des Menschen, je erhabener sie sich offenbart in jenen Stunden der Gnadenheimsuchung, in denen der Mensch völlig ihr Eigenthum werden soll, desto erschrecklicher ist der Anblick des Menschen, der die Stunde seiner Heimsuchung wie Jerusalem verkennt, und ungenützt an sich vorübergehen läßt. Was werdet ihr von dem Menschen sagen, der, in den Meeresstrudel geworfen, von einer errettenden Hand bis an den Punkt geführt wird, wo sie ihn den Wellen entreißen will und kann, und der dann die rettende Hand spröde von sich stößt? Ich sage euch, er wird untergehn in den Wogen des Meers und seine Spur wird nicht mehr gefunden werden. Wehe demjenigen, welcher einmal die rettende Hand Gottes von sich gestoßen in dem entscheidenden Momente, wo die Frage war, ob er fortan Christo angehören sollte oder dem Fürsten dieser Welt. Christus steht vor ihm und weint über seinen Untergang. Der Fluch der Sünde wird sich an seine Sohlen heften, er wird ihn umschließen wie ein Kleid, und wird sein Inwendiges verzehren wie Feuer. Verloren ist ein Solcher freilich nicht, auch er kann noch Gnade finden, aber er hat es sich sehr schwer gemacht. Wenn dagegen wieder und wieder die Stunde der Gnadenheimsuchung kommt, und immer aufs Neue verkannt wird und ungenutzt vorübergeht, so bricht am Ende das Gericht der Verstockung über den Menschen herein. „Denn“ - sagt die Schrift - „solches alles thut Gott mit einem Jeglichen zweimal oder dreimal, daß er seine Seele herumhole und erleuchte sie mit dem Lichte der Lebendigen.“

O ihr Bewohner dieser Stadt, denen zu dieser Zeit eine Gnadenheimsuchung ohne Gleichen vom Herrn zu Theil worden ist, die ihr von so vielen heiligen Stätten das Wort von der Versöhnung verkündigen hört, die ihr überall Aufforderung findet zum Glauben und Stärkung darin, erkennt auch ihr diese eure Zeit, in der ihr berufen seid, daß nicht dermaleins auch euer Leuchter von seiner Stätte gestoßen werde? Wer Ohren hat zu hören, der höre was in dieser Zeit von so vielen Orten her der gnadenreiche Herr der Kirche den hülfsbedürftigen Sündern verkündigen läßt. Und ihr Einzelnen, denen gerade in dieser Zeit die Stunde anbricht, in welcher die Offenbarung Christi an euch geschieht, verschließet euer Herz nicht und widerstrebet nicht dem heiligen Geiste. Es ist euch doppelte Gnade widerfahren, die ihr gerade in dieser Zeit der allgemeinen Heimsuchung zum Himmelreich berufen werdet; denn kaum hat eure erwachende Seele sich nach Beistand und Hülfe gesehnt, so eilen Viele herbei, die kranke zu pflegen, die zerschlagene zu verbinden, das zum lichte geborene Kind der Gnade groß zu ziehn und zum Mannesalter Christi zu führen. So seid nun nüchtern und wach, auf die Stimme eures Gottes fleißig zu merken, auf daß ihr die Krone nicht verliert, die euch zugedacht ist auf den Tag der Erscheinung unseres Herrn Christus.

Du aber, unser König und Herr, du mitleidiger Hoherpriester, der du Geduld hast mit unserer Schwachheit, und übest Langmuth gegen uns in unserer Verstockung und Blindheit. Siehe, du regierest, deine Kirche von Ewigkeit zu Ewigkeit, und die Pforten der Hölle können sie nicht überwältigen! Regiere auch mit deinem Geiste die Bewohner dieses Landes, dieser großen Stadt, wo ach! so viele noch im Schatten des Todes sitzen. Sammle der Seelen immer mehr um das Panier deines Kreuzes, öffne die Thore unseres Geistes, zieh ein in unsere Herzen, mache Wohnung unter uns. Amen.

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