Tholuck, August - Missions-Predigt über Röm. 10, 17-21 gehalten am Missionsfeste den 19. Okt. 1859 im Dom zu Magdeburg.

Tholuck, August - Missions-Predigt über Röm. 10, 17-21 gehalten am Missionsfeste den 19. Okt. 1859 im Dom zu Magdeburg.

Die Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns Allen. Amen.

In Christo geliebte Gemeinde. Einen Missionsaufruf zu tun in einer Zeit, wo in unserer eigenen Mitte die Klage über Abfall und Verderbnis so laut erschallt, wo so viel Hände nach der innern Mission sich strecken, um den Fluten des Verderbens zu steuern, erscheint bedenklich. Wie aber, wenn sich zeigen lässt, dass der Missionsberuf einer Kirche desto unabweislicher, je gewisser der Abfall in derselben von dem Worte der Wahrheit ein allgemeiner geworden wäre. Und das, in Christo Geliebte, lasst mich euch zeigen nach dem Texte, den wir aufgezeichnet finden Röm. 10,17-21, welchen ihr mit Andacht vernehmen wollt:

Röm. 10,17-21.
So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Gottes, Ich sage aber: haben sie es nicht gehört? Zwar es ist je (vielmehr) in alle Lande ausgegangen ihr Schall, und in alle Welt ihre Worte. Ich aber sage: hat es Israel nicht erkannt? Der erste Moses spricht: ich will euch eifern machen über dem, das nicht mein Volk ist; und über einem unverständigen Volke will ich euch erzürnen. Jesaias aber darf wohl sagen: ich bin gefunden von denen, die mich nicht gesucht haben und bin erschienen denen, die nicht nach mir gefragt haben. Zu Israel aber spricht er: den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt zu dem Volke, das sich nicht sagen lässt und widerspricht.

Wir müssen uns in den Zusammenhang der ganzen Rede des Apostels versetzen, wenn wir ihn hier verstehen wollen. Der Mann, der schon als Jüngling von solchem Eifer um Gott verzehrt worden, dass er in der Erfüllung von Gottes Gesetz von keinem seiner Jugendgenossen übertroffen wurde, der indes sich und seinen Genossen nicht genug getan, der stets aufs neue erfahren musste: „was ich will, das tue ich nicht, und was ich nicht will, gerade das tue ich.“ der um Gottes Gesetz sich ängstigte und zu Tode eiferte und dennoch das Gesetz im Innersten seines Gewissens immerfort mit richterlicher Stimme das Schuldig, Schuldig über sich aussprechen hörte, dieser Saulus war ein Paulus geworden. Nun war die Stille in diesem zehrenden Geiste eingekehrt, wie wir von jenem Besessenen bei St. Markus lesen, der in seiner Wut seinen Leib mit Steinen schlägt und Ketten zerreißt, dass nachdem ihn Jesus geheilt hat, er bekleidet und vernünftig und von Herzen dankbar zu seines Heilands Füßen sich niederließ, so haben auch in eines Paulus Herzen die Stürme ausgetobt, Jesus hat ihn geheilt, der Friede Gottes ist ausgegossen in seinem Herzen und dankbar sitzt er zu den Füßen seines himmlischen Wohltäters. Diese Verwandlung, welche der Herr an einem Menschenherzen hervorbringt, schildert der Apostel im Briefe an die Römer im 7. und 8. Kapitel, und nun richtet er die Augen auf sein Volk, das jetzt noch in derselben Blindheit versunken ist, wie einst er. Er lügt nicht, er sagt die Wahrheit: seines Herzens innerster Wunsch geht dahin, dass auch dies Volk Christum erfahren möge, wie er ihn erfahren hat. Aber, so fährt er fort, Israel will seine eigene Gerechtigkeit aufrichten, Israel will nicht durch Gnade selig werden, sondern aus Verdienst der Werke. An Gott liegt es nicht, der hat alles getan. In die ganze Welt ist der Schall des Evangeliums ausgegangen; ja noch mehr, selbst das hat Gott getan: er hat es ihnen voraus verkündigen lassen, dass - stießen sie es zurück, das Heil, das er mit offenen Händen alle Tage ihnen darböte - es zu andern Völkern übergehen würde, dass er denen erscheinen würde, die nicht nach ihm gefragt haben.

Warum ich über den Text zu euch spreche? Weil es unter denen, die draußen stehn, eine der landläufigsten Reden ist, wenn sie von Mission und Missionsfesten hören in unserer Zeit: „Nun ja, da sieht man's ja, wie es mit diesem Christentum zu Ende geht. Mit uns Christen geht's nicht, nun wollen sie es mit den Heiden versuchen!“ Ja dies Wort nehme ich auf: da es mit euch nicht geht, ihr, die ihr draußen steht, wollen wir's mit den Heiden versuchen. Und diese eure eigene Rede soll zur Ermunterung für uns dienen, die wir innerhalb der Kirche das Missionswerk treiben. Ich zeige, dass das, was ihr zum Hohne redet, als Gesetz in der göttlichen Weltordnung gegründet ist, dass Gott selbst so spricht, wie ihr's eben ans unserem Texte hört: „Habe ich den ganzen Tag meine Hände ausgestreckt zu dem Volke, das sich nicht sagen lässt, so will ich mich nun finden lassen von denen, die mich nicht gesucht haben.“

Es ist das Gesetz der göttlichen Weltordnung, dass von Völkern und Einzelnen, die sich nicht wollen sagen lassen, das Heil hinweggenommen und auf die übertragen wird, die der Predigt Frucht bringen.

Das lasst mich euch an den Völkern zeigen, das lasst mich euch an den Einzelnen zeigen, und dann, wenn ich euch das gezeigt haben werde, den Schluss ziehen, der da lautet: Je mehr es sich behaupten ließe, dass unsere ganze Nation am Abfall von Christo darnieder liegt, nur desto unabweislicher wäre es jetzt und gerade jetzt Pflicht, denen Christum zu bringen, die ihn nicht gesucht haben, und denen Christum zu predigen, die nicht von ihm gehört haben.

Ich zeige euch Gottes ernstes Gesetz über die Völker, die sich nicht sagen lassen, aus der Schrift, ich zeige es euch aus der Geschichte. - Ich zeige es euch aus der Schrift. Wir schlagen den Propheten auf, der also schreibt - es ist der Prophet Jesaia (Jesaia 5,1-5.): „Mein Lieber hatte einen Weinberg an einem fetten Ort. Und er hatte ihn verzäunt, und mit Steinhaufen verwahrt, und edle Reben darein gesenkt. Er baute auch einen Turm drinnen, und grub eine Kelter drein, und wartete, dass er Trauben brächte; aber er brachte Herlinge. Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem, und ihr Männer Juda, zwischen mir und meinem Weinberge. Was sollte man doch mehr tun an meinem Weinberge, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn Herlinge gebracht, da ich wartete, dass er Trauben brächte? Wohlan, ich will euch zeigen, was ich meinem Weinberge tun will. Seine Wand soll weggenommen werden, dass er verwüstet werde, und sein Zaun soll zerrissen werden, dass er zertreten werde.“ Der Weinberg ist Israels Gottesstaat, der Liebe, der ihn gepflanzt hat, ist Gott der Herr, der Zaun, das ist das Gesetz, die edle Rebe die in den Boden gesenkt, ist Gottes Wort, der Turm, das ist die Warte der Propheten, die Kelter, das sind die schönen gottesdienstlichen Ordnungen. Das alles hat Gott der Herr für seinen alttestamentlichen Weinberg getan und für alles das zum Lohne bringt er Herlinge statt Trauben! So soll aber auch seine Wand weggenommen und sein Zaun zerrissen und sein Boden zertreten werden. So lautet 800 Jahre vorher, ehe denn es geschehen ist, das Wort der Weissagung, und dies Prophetenwort nimmt Christus wieder auf, wie wir Matth. 21,33-43 lesen. „Hört ein ander Gleichnis: Es war ein Hausvater, der pflanzte einen Weinberg, und führte einen Zaun darum, und grub eine Kelter darinnen, und baute einen Turm, und tat ihn den Weingärtnern aus, und zog über Land. Da nun herbei kam die Zeit der Früchte, sandte er seine Knechte zu den Weingärtnern, dass sie seine Früchte empfingen. Da nahmen die Weingärtner seine Knechte, einen stäupten sie, den andern töteten sie, den dritten steinigten sie. Abermal sandte er andere Knechte, mehr denn der ersten waren, und sie taten ihnen gleich also. Darnach sandte er seinen Sohn zu ihnen, und sprach: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. Da aber die Weingärtner den Sohn sahen, sprachen sie unter einander: Das ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, und sein Erbgut an uns bringen. Und sie nahmen ihn, und stießen ihn zum Weinberge hinaus, und töteten ihn. Wenn nun der Herr des Weinbergs kommen wird, was wird er diesen Weingärtnern tun? Sie sprachen zu ihm: Er wird die Bösewichte übel umbringen, und seinen Weinberg andern Weingärtnern austun, die ihm die Früchte zu rechter Zeit geben. Jesus sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen in der Schrift, der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein worden. Von dem Herrn ist das geschehen, und es ist wunderbar vor unsern Augen? Darum sage ich euch: Das Reich Gottes wird von euch genommen und den Heiden gegeben werden, die seine Früchte bringen.“ Auch das war noch Weissagung, denn als der Herr das sprach, da hatten sie den Erben noch nicht aus dem Weinberge gestoßen und hatten ihn noch nicht getötet. Nur in unserm Texte, wo Paulus spricht, da ist es geschehen, da ist auch schon die Weissagung in ihrer vollen Verwirklichung, der Schall des Evangelii ist schon ausgegangen in alle Lande, Christus erscheint bereits denen, die ihn nicht gesucht haben, in Antiochien und Galatien, auf den Marktplätzen von Athen und von Rom ist er ihnen erschienen und schon haben Tausende von bekehrten Heiden gezeigt, dass sie die Früchte des Reiches Gottes bringen. Hätte er irgend eines Volkes verschont, o gewiss des Volkes am ehesten, dessen Abfall ihm so zu Herzen geht, dass er jammernd Himmel und Erde zu Zeugen seines Schmerzes anruft: „Höre, o Himmel, und Erde nimm zu Ohren: Kinder habe ich gezeugt und auferzogen und - sie sind von mir abgefallen!“ Aber - es ist das Gesetz göttlicher Weltordnung, dass von Völkern, die sich nicht wollen sagen lassen, das Heil hinweggenommen und denen gegeben wird, die des Heils Früchte bringen.

Oder wird er etwa mit solchen, die schon Christen sind, oder gewesen sind, anders verfahren? Aber wenn er für die Größe seines Schmerzes über Israels Abfall Himmel und Erde zum Zeugen anrufen kann, und - wenn nun Christen abfallen können: wie höre ich über ihnen den jammernden Ausruf: „Höre o Himmel, und Erde nimm es zu Ohren, Kinder habe ich gezeugt, indem ich mein eigenes, liebstes Kind für sie dahingegeben, Kinder habe ich mir erzogen, die ich an meinem Gnadentisch mit dem süßesten Manna gespeist, mit meinem lautersten Lebenswasser erquickt, über die ich meinen Frieden ausgegossen habe wie einen Strom und mein Heil wie viel große Wasser, und - selbst diese Kinder sind von mir abgefallen.“ Es ist dasselbe Gesetz, nur in noch verstärktem Maße, nach dem er die richtet, die abfallen, nachdem sie in Christo seine Kinder geworden sind. Was dräut er der lau gewordenen Gemeinde zu Ephesus: „Tue Buße und tue die ersten Werke: wo aber nicht, werde ich kommen bald und deinen Leuchter wegstoßen von seiner Stätte.“ Jetzt findet der Reisende in der Gegend, wo einst die Kirchtürme des blühenden und reichen Ephesus zum Himmel ragten, ein elendes, türkisches Dorf, und statt des Kreuzes erhebt sich der Halbmond. Also auch Christenkirchen gilt das Gesetz: wo sie sich nicht sagen lassen und der Predigt Frucht bringen, so kommt er und stößt den Leuchter von seiner Stätte.

Wie die Schrift uns dies bezeugt, so bestätigt es uns die Geschichte. Gott lässt sich nicht spotten, seht in die Geschichte, wie er denen, die der Predigt Frucht nicht brachten, den Leuchter von der Stätte gestoßen, das Heil von ihnen genommen und dann auf die übertragen hat, die der Predigt Frucht bringen. Wie Christus es zu einer Zeit, wo noch kein einziger Heide bekehrt war, vorhersagt: „Darum sage ich euch: das Reich Gottes wird von euch genommen und den Heiden gegeben werden, die seine Früchte bringen“ - ist's nicht gerade so geschehen? Die Fülle der Heiden, Griechen und Römer, Perser und Inder sind ins Reich Gottes eingegangen, während das Volk des Eigentums in seiner Mehrzahl draußen geblieben ist. „Ich bin erfunden von denen, die mich nicht gesucht haben, und bin erschienen denen, die nicht nach mir gefragt haben.“ Und das dünkelvolle Griechenland und das stolze Rom beugt sich vor dem galiläischen Rabbi, auf den Weisheitsschulen Athens und auf den Kaiserpalästen Roms erhebt sich - das unglaublichste aller Facta, ehe es geschehen war - das Kreuz! Und Griechenland und Rom bringt eine Zeit lang die Früchte, welche des Reiches Gottes wert sind. Es bringt Heilsboten, die das Evangelium pflanzen, Kirchenväter, die es verteidigen, Märtyrer, die dafür ihr Blut lassen. Dann wird auch hier das Christentum faul in dem faul werdenden Volke. Gerade um die Zeit, wo das Evangelium seinen stolzesten Triumph feiert, als der Kaiser der römischen Welt das Kreuz auf sein Diadem pflanzt, da hebt der Engel, welcher das ewige Evangelium trägt, seine Flügel, um von dannen zu ziehen. Abermals erfüllt es sich: „Ich bin erfunden von denen, die mich nicht gesucht haben und bin erschienen denen, die nicht nach mir gefragt haben.“ Ja durch ein ganz unverständiges Volk, wie dort der alte Moses spricht, werden diese verständigen, gebildeten Völker der alten Welt zum Wetteifer gereizt. Während Griechenland und das ganze christliche Asien und Afrika mehr und mehr in einen geistlichen Schlaf verfallen, aus dem sie bis jetzt noch nicht wieder aufgewacht sind, erscheint der Herr Franken und Sueven, Goten und Vandalen, die nicht nach ihm gefragt haben. „Sie sind zerbrochen um ihres Unglaubens willen, sei du nicht stolz, sondern fürchte dich!“ So ruft Paulus den Römern zu seiner Zeit zu, so rufe ich auch uns zu. Fürchte dich, Christenseele, denn es gibt ein Gottesgericht über alle einzelnen Menschenseelen, die sich nicht sagen lassen. Und von diesen Gottesgerichten über die einzelnen Seelen muss ich auch sprechen, denn so lange man nicht aufmerksam geworden ist auf die geheimeren Gerichte Gottes über die Sünden, die sich durch sein eigenes Leben hinziehen, bekommt man auch kein Auge für die Gerichte Gottes über die Welt und in der Welt. Das Maß, mit dem der Herr die Völker misst, ist auch das, mit dem er die Einzelnen misst. Verschmähte Gnaden ziehen fort, verkannte Engel wandern aus, verstoßene Liebe wird zum Grimm. Ob dies nicht die Erfahrung ist, welche schon so manchen von euch seine Untreuen haben machen lassen? Es ist das Gesetz der göttlichen Weltordnung, dass auch von Einzelnen die sich nicht sagen lassen, das Heil hinweggenommen und auf die übertragen wird, die der Predigt Frucht bringen. Denket der Drohung des Herrn über Jerusalem, weil es den Tag seiner Heimsuchung verkannt hatte! Es gibt Zeiten der Heimsuchung für jeden Menschen. Zeiten der Heimsuchung aber, das sind - wie das bedeutungsvolle Wort es andeutet - Zeiten, wo einem der Herr so recht nahe kommt, gleichsam einen in seinem eigenen Haus, in seiner Heimat aussucht, um vertraulich mit ihm zu reden. Ich wende mich an diejenigen unter euch, die jetzt dem Evangelium, ja vielleicht der Religion, am fernsten stehen, und frage: solltest du gar nicht Zeiten in deinem Leben gehabt haben, wo Christus an dir vorüberging, wo du vom Hauche seines Mundes, vom Wallen des Saumes seines Kleid des etwas verspürt hast? Der Herr nennt dies die Züge vom Vater zum Sohne. Was das damals war, was du erfuhrst, das weißt du freilich selbst nicht recht. Die Züge der vorlaufenden Gnade versteht der Mensch erst, nachdem die bekehrende Gnade hinterhergekommen und sie gedeutet hat.

Was dir Gottes Stimme schon damals zugerufen hat, war dies: „dies ist mein lieber Sohn, den sollst du hören!“ Das nun zwar hörtest du nicht heraus, doch ging es dir, wie wir dort beim Johannes lesen: „Etliche sprachen: es hat ein Engel mit ihm geredet.“ So wenigstens war dir zu Mute. Du spürtest: ich werde zu dem gerufen, was meine ewige Bestimmung ist. Liegt nicht aber in jedem solchen Rufe, der den Menschen an seine ewige Bestimmung mahnt, mittelbar ein Ruf zu dem, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, zu Christo? O, um Gotteswillen, verachte die Stimme nicht, die in solchen Augenblicken zu dir spricht; wenn du dem Evangelium noch nicht glaubst, glaub dem Dichter: „Es gibt im Menschenleben Augenblicke, wo man dem Weltgeist näher ist als sonst.“ Lass dir sagen, lass dir sagen, denn - was für Völker gilt, das gilt auch für den Einzelnen: verschmähte Gnaden ziehen fort, verkannte Engel wandern aus, verstoßene Liebe wird zum Zorne. Verstoßene Liebe wird zum Zorne. Der heilige Geist, der in solchen Stunden in dir sprach, lässt sich nicht ungestraft verschmähen. Wollt ihr dem Evangelium nicht glauben, hört den heidnischen Weltweisen, den Heiden Seneca, wenn er spricht: „Es wohnt ein heiliger Geist in uns, der, wie er von jedem behandelt wird, so ihn wieder behandelt.“ Mit jedem neuen Verschmähen der Stimme der dich suchenden göttlichen Liebe wird dein inneres Ohr härter, und immer unvernehmbarer und unverständlicher wird die Stimme, die dich sucht, darum wieder und wieder jener warnende Zuruf im Evangelium: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ So verhängnisvoll ist schon der Anfang des Verschmähens von Gottes Heil. Je mehr einer davon empfangen, immer ernster werden die Gerichte, denn hat einmal Christus den bösen Geist aus einem Menschen ausgetrieben, und ist das Haus gekehrt und gereinigt, und findet er dann doch wieder Eingang, dann wisst ihr, wie laut dem Evangelium sieben böse Geister hinterherfolgen und dass „das Letzte eines solchen Menschen ärger wird, als das Erste,“ wie auch Petrus spricht: „die entflohen sind dem Unflat der Welt durch die Erkenntnis Christi und sich wiederum in denselben verflechten lassen, mit denen wird das Letzte ärger, denn das Erste.“ Vielleicht ist euch noch niemals im Leben die Erfahrung eines solchen Menschen geworden, der zu Christi Füßen gelegen mit einem: „Mein Herr und mein Gott,“ der in diesem Glauben die Kräfte der zukünftigen Welt erfahren - der beseligenden nicht bloß, sondern vorzüglich auch der reinigenden Kräfte, und - der dann Christo wieder den Rücken kehrte! Auch mir ist unter den Vielen, deren innere Geschichte ich kennen gelernt, nur Einer entgegen getreten, von dem ich, soweit menschliches Urteil reicht, sagen kann, dass er die reinigende und beseligende Kraft des Glaubens in großer Stärke erfahren, und - der dann dem Heilande, zu dessen Füßen er gelegen, wieder den Abschiedsbrief gegeben, und ein Lästerer Christi wurde: aber, o dass ihr auch in den Abgrund, der sich nun in dieser Seele auftat, einen Blick hättet tun können und - nicht die sieben, sondern die tausend bösen Geister sehen, die nun mit dieser Seele ihr Spiel zu treiben ansingen, auch ihr hättet ausgerufen: ja da sieht man's, was geschrieben steht: „Irrt euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten;“ es gibt ein Gericht Gottes über die, welche, nachdem ihnen der Herr erschienen, ihn von ihren Türen weisen. Ihr begreift, dass es zu einem solchen Abfall nicht auf einmal, nicht an Einem Tage kommen kann: der Weg bergauf hat viel Zeit gekostet, bergunter geht's freilich immer schneller, aber doch auf einmal nicht. In jedem Augenblick, wo er sich vom Geiste nicht mehr sagen lässt, stürzt der Unglückliche um eine Klafter tiefer in den Abgrund. O, wer Ohren hat zu hören, der höre! Bei Völkern wie bei Einzelnen ist es das Gesetz der göttlichen Weltordnung, dass von denen, die sich nicht sagen lassen, das Heil hinweggenommen und denen gegeben werde, welche der Predigt Frucht bringen.

Ob es nun Wahrheit sei, was hie die Feinde Christi frohlocken und dort seine kleinmütigen Freunde klagen, dass der Abfall vom Evangelium in diesen unsern Tagen den höchsten Grad erreicht; ob, wenn zu den Missionsfesten noch solche Scharen zusammenströmen können, wie sie heut die weiten Hallen dieses Gotteshauses füllen, dieses nur Schein und Neugierde sei, oder ein Zeugnis, dass Christus auch noch in dieser Stadt sein großes Volk hat, darüber mögen Andere urteilen. Das aber ist's, was das Wort Gottes uns predigt: je allgemeiner der Abfall von Christo unter uns sein möchte, nur desto unabweislicher wäre es unsere Pflicht, Christum denen zu bringen, die noch nicht von ihm gehört haben. Ein jüdischer Geschichtsschreiber erzählt uns, dass kurz vor der Zerstörung Jerusalems eine Stimme über dem Altar gehört wurde: lasst uns von dannen ziehen! Manchen will es in der Tat bedünken, als ob man auch über den Altären unserer deutschen evangelischen Kirche die Stimme hörte: „Lasst uns von dannen ziehen.“ Will der Engel mit dem ewigen Evangelium, der über Länder und Meere fliegt, von dannen ziehen von dem Geschlecht, das sich nicht mehr sagen lassen will - nun, dann sind wir, die wir die Mission bauen, wir sind's, die ihm eine Stätte suchen. Je entschiedener der Abfall unter uns, desto entschiedener der Wille des Herrn, von denen sich finden zu lassen, welche nicht nach ihm gefragt haben, und denen zu erscheinen, die ihn nicht gesucht haben. In gewissem Sinne ist das von allen Heiden wahr: sie haben ihn nicht mit Namen gekannt, so haben sie ihn auch nicht mit Namen suchen können. Aber ich frage, ob nicht auch manche unter ihnen, die ihn auf namenlose Weise suchen? O gewiss, auch unter den Heiden unserer Tage gibt es noch Cornelii, deren Gebete um Wahrheit, Licht und Gewissensruh ins Gedächtnis Gottes aufsteigen, wie des Cornelius Gebet und Almosen - wie noch vor kurzem ein Sendbote des chinesischen Volkes mir von einem solchen erzählte. Was nun für ein Schauspiel vor Gott und allen heiligen Engeln: dort unter den Hindus, unter den Grönländern, unter Hottentotten, die einzelnen, in ihrer Art frommen Seelen, wie sie vor dem Altar des unbekannten Gottes beten und die Hände ringen, und hier das übersatte Christengeschlecht, das sich von Christo nicht mehr sagen lassen will und - schrecklich zu sagen, keine betenden Hände mehr falten kann! Und damit sollten wir uns begnügen, den ganzen Tag unsere Hände zu dem übersatten Volke auszustrecken, das kein Himmelsbrot verlangt, während dort hungrige Seelen, welche die Hände ausstrecken und bitten: Brot! Seelenbrot! Nein, diese Hungernden dürfen wir nicht ungespeist von dannen gehen lassen. Und wer will sagen, ob nicht die Zeit kommen wird, wo dieselbigen Länder, zu denen wir jetzt unsere Heilsboten schicken, im göttlichen Rate bestimmt sind, einst, wenn bei ihnen der Leuchter des Evangeliums helle brennt, während er bei uns erloschen ist, das Licht des Evangeliums wieder in unsere Länder zu tragen? Ihr zweifelt und spottet; das erste Mal wäre ja solche Umkehr in der Geschichte nicht. Als Asien und Griechenland seine Missionare aussandte bis zum fernsten Indien hin, wer hätte je im kühnsten Fluge der Phantasie sich träumen lassen, dass von den Wäldern dieses barbarischen Deutschlands aus die Heilsboten eben nach Asien und Griechenland das Licht des Evangeliums tragen würden?

O Herr und Haupt deiner Gemeinde! Untergehen kann dein Gedächtnis auf der Erde nicht mehr, nachdem du es unter uns gestiftet. „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.“ Lass unsere Seelen in diesem Troste ausruhen. Aber wir kennen den Ernst deiner Gerichte, dass du dein Wort, wo es beharrlich zurückgestoßen wird, nicht ungestraft verachten lässt. O so kann er ja auch kommen der Tag, wo du bei uns unsern Leuchter gar von der Stelle stoßen musst, denn täglich streckst du jetzt deine Hand nach uns aus und wie groß die Zahl derer, die dir täglich den Rücken kehren und widersprechen! So rüste uns denn aus, Herr, dass wir deinem Evangelium eine Stätte bereiten unter denen, die deinen Namen noch nicht kennen, unter denen aber so mancher, wenn auch namenlos um den Tag deiner Erscheinung bittet. Und sollte er je kommen der Tag, wo du deiner alten Christenheit den Rücken kehren musst, wecke dir durch die Missionspredigt ein neues, junges Volk, das die Früchte deines Reiches bringt! Amen.

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