Spurgeon, Charles Haddon - Hohelied Salomos (Andachten)

Spurgeon, Charles Haddon - Hohelied Salomos (Andachten)

Hohelied 1, 2.

„Deine Liebe ist lieblicher denn Wein.“

Nichts gewährt dem Gläubigen so große Freude, wie die Gemeinschaft mit Christo. Daran hat er seine Wonne und seine Freude, wie Andere an den Dingen dieses Lebens; er kann fröhlich sein beides über Gottes Gaben und über Gottes Werke. Aber in alle dem besonders, und in diesem Allem wieder zusammen, findet er dennoch solche wesentliche Wonne und Freude nimmermehr, wie in dem reinen, unvergleichlichen Wesen seines Herrn Jesu. Er hat einen Wein, wie ihn kein Weinberg der Erde je getragen hat; Er hat ein Brot, wie es alle Korngefilde Ägyptens nie hervorbringen können. Es sind die Freuden der Erde wenig besser als Träber, die die Schweine essen, im Vergleich mit Jesu, dem himmlischen Manna. Wir möchten lieber einen Bissen von der Liebe Christi und einen Trunk von Seiner Gemeinschaft, als eine ganze Welt voll irdischer Genüsse. Was hat die Spreu mit dem Weizen zu schaffen? Wie kann der nachgemachte Edelstein sich mit dem echten Diamant vergleichen? Was ist ein Traum gegen die herrliche Wirklichkeit? Was ist der zeitliche Glanz in seiner höchsten Entfaltung gegen die Herrlichkeit unsers Herrn Jesu in Seiner allertiefsten Erniedrigung? Wenn dir das innere Leben auch nur von ferne bekannt ist, so musst du gestehen, dass unsere höchsten, reinsten und beständigsten Freuden am Baume des Lebens gereift sein müssen, der mitten im Paradiese Gottes steht. Kein Quell gibt so köstliches Wasser, wie das Brünnlein Gottes, das der Hauptmanns Speer gegraben hat. Alle irdische Wonne ist vergänglich, weil sie von der Erde stammt; aber die Seligkeit der Gegenwart Christi ist wie Er selbst, himmlisch, unverwelklich. Wenn wir auf unsere Gemeinschaft mit Christo schauen, so finden wir keine Seufzer der Leere und Oede darin; in Seinem Wein sind keine trüben Hefen, in Seiner Salbe gibts keine toten Fliegen. Die Freude am Herrn ist fest und dauerhaft. Die Eitelkeit hat ihrer nicht geachtet, aber die Weisheit und Wahrheit bezeugen, dass sie die Jahre überdauert, und dass sie in Zeit und Ewigkeit des Namens wert ist: Einzig wahre Wonne.„ An Kraft, Trost, Belebung und Erquickung kommt kein Wein der Liebe Jesu gleich. So wollen wir denn heute Abend den vollen Becher dieser Liebe kosten. (Goldstrahlen, Januar 8)

Hohelied 1, 4.

„Wir freuen uns und sind fröhlich über Dir.“

„Wir freuen uns und sind fröhlich über Dir.“ Nicht für die Trauerklänge der Posaune, nein, sondern für die lieblichen Harfentöne der Freude, für die laut schallenden Cymbeln des Jubels wollen wir die Pforten eines neuen Jahres weit auftun. „Kommet herzu, lasst uns dem Herrn frohlocken und jauchzen dem Hort unsers Heils; lasst uns mit Danken vor Sein Angesicht kommen, und mit Psalmen Ihm jauchzen.“ Wir, die Berufenen und Gläubigen und Auserwählten, wir lassen alle unsere Sorgen hinter uns zurück; und im Namen unseres Gottes werfen wir Panier auf. Andere mögen klagen und jammern ob ihrer Trübsal, wir aber legen den heilkräftigen, versüßenden Baum in die bitteren Wasser des Marasumpfes und loben den Herrn mit Freuden. Ewiger, Heiliger Geist, wahrhaftiger Tröster, der Du in uns als in Deinen Tempeln wohnest, nie wollen wir aufhören, den Namen Jesu zu loben und zu preisen. Wir wollen, das ist unser fester Entschluss, dass Jesus die Krone unserer Herzenswonne empfange; wir wollen unsern Bräutigam nicht verunehren mit Trauern vor Seinem Angesicht. Wir sind berufen zu himmlischen Sängern, so wollen wir denn die himmlischen Dankchöre fleißig einüben, ehe wir sie in den Hallen des Neuen Jerusalems erschallen lassen. Wir freuen uns und sind fröhlich: zwei Wörter von gleichem Inhalt, doppelte Freude, Wonne über Wonne. Was hinderte, dass wir nicht jetzt schon uns im Herrn freuen allewege? Ist nicht der Herr Seinen Begnadigten Narden mit Safran, Calmus und Cynamen schon hienieden; und welch bessere Würze böte ihnen der Himmel selbst? Wir freuen uns und sind fröhlich über Dir. Dies letzte Wort ist das Gericht auf der Schüssel, der Kern in der Schale, der Geist in der Schrift. Welche Himmelsgüter sind in Jesu vereinigt! Welche Ströme unendlichen Segens haben ihre Quelle in Ihm und empfangen jeden Tropfen ihrer Fülle aus Ihm! Weil denn Du, süßer Herr Jesu, Deines Volkes Teil bist, so erquicke uns in diesem Jahre mit einem solchen Gefühl Deiner Gnadenfülle, dass wir vom ersten bis zum letzten Tage uns freuen und fröhlich seien über Dir! Der erste Monat eröffne den Jahresreigen mit Freude in Herrn, der letzte schließe mit Wonne in Jesu! (Goldstrahlen, Januar 1)

Hohelied 1, 4.

„Wir gedenken an Deine Liebe mehr, denn an den Wein.“

Jesus will den Seinen Seine Liebe nicht in Vergessenheit geraten lassen. Wenn all' die Liebe, die sie genossen haben, vergessen sein sollte, dann will er sie mit neuer Liebe heimsuchen. „Vergissest du Mein Kreuz?“ spricht Er. Ich will dir die Erinnerung daran erneuern; denn an Meinem Tische will Ich Mich dir aufs Neue bezeugen. Fast du vergessen, was ich für dich getan habe im ewigen Rat der Gerechtigkeit? Ich will dich daran erinnern, denn du brauchst einen Fürsprecher, und ich werde bei dir stehen, wenn du Meiner bedarfst.“ Mütter sorgen, dass ihre Kinder sie nicht vergessen. Wenn der Sohn nach Australien gegangen ist, und nicht heimschreibt, dann schreibt die Mutter ihm: „Hast du, mein Sohn, deine Mutter vergessen?“ Dann erfolgt ein liebevoller Brief, zum Beweis, dass die zärtliche Erinnerung nicht umsonst war. So verhält sichs mit dem Herrn Jesu; Er spricht zu uns: Gedenke Mein,„ und unsere Antwort lautet: „Wir gedenken an Deine Liebe.“ denken an Deine Liebe und ihre unvergleichliche Geschichte. Sie ist so alt als die Herrlichkeit, die Du hattest bei dem Vater, ehe denn die Welt war. Wir gedenken, o Herr Jesu, an Deine ewige Liebe, da Du der Bürge für uns wurdest, und uns Dir vertrauet hast als Deine Braut. Wir gedenken an die Liebe, die Dich zum Opfer für uns dahingab, an die Liebe, welche bis zur Erfüllung der Zeit über dies Opfer nachdachte und sich nach der Stunde sehnte, von welcher im Buch von Dir geschrieben stehet: „Sieh, Ich komme.“ Wir gedenken an Deine Liebe, o Jesu! wie sie sich uns offenbart hat in Deinem heiligen Leben, von der Krippe zu Bethlehem an bis zum Garten Gethsemane. Wir begleiten Dich von der Krippe bis zum Grabe, denn jedes Deiner Worte und jede Deiner Taten war Liebe, und wir freuen uns in Deiner Liebe, die der Tod nicht auslöscht; Deiner Liebe, die so herrlich strahlt in Deiner Auferstehung. Wir gedenken an jenes brennende Feuer der Liebe, das Dir weder Rast noch Ruhe lässt, bis dass alle Deine Auserwählten selig daheim sind bei Dir, bis Zion verherrlichet ist, und Jerusalem gegründet auf ihren ewigen Gründen voll Licht und Liebe, im Himmel. (Goldstrahlen, Januar 23)

Hohelied 1, 4.

„Die Frommen lieben Dich.“

Gläubige Seelen lieben den Herrn Jesum mit innigerer Zuneigung, als sie irgendeinem anderen Wesen angedeihen lassen. Lieber möchten sie Vater und Mutter verlieren, als Christum verlassen. Alle vergänglichen Freuden und allen irdischen Besitz halten sie nur locker in der Hand; Ihn aber tragen sie fest verwahrt in ihrem Busen. Gern verleugnen sie sich selbst um seinetwillen, aber nichts kann sie dazu bringen, Ihn zu verleugnen. Das ist eine schwache Liebe, die vom Feuer der Verfolgung kann verzehrt werden; des wahrhaft Gläubigen Liebe ist ein viel zu tiefer Strom, als dass die Hitze der Trübsal ihn könnte austrocknen. Die Welt hat versucht, die Treuen im Lande von ihrem Herrn und Meister abzuziehen, aber ihre Anstrengungen sind zu allen Zeiten fruchtlos geblieben. Weder Ehrenkronen noch Zornesblicke haben je diesen festgeknüpften Knoten zu lösen vermocht. Das ist keine Alltagsneigung, denn sonst wäre sie schon längst unter dem stürmischen Andrang des Weltgetümmels zusammengebrochen. Weder Mensch noch Teufel haben einen Schlüssel gefunden, der dies Schloss öffnet. Noch nie ist Satans List ärger zuschanden geworden, als wenn er versucht hat, diese Vereinigung zweier göttlich verschmolzenen Herzen aufzulösen. Es steht fest: „Die Frommen lieben Dich.“ Die Innigkeit der Liebe der Frommen darf jedoch nicht sowohl danach beurteilt werden, wie sie erscheint, sondern danach, was sie nach dem Verlangen der Frommen sein sollte. Täglich seufzen wir darüber, dass wir nicht stärker lieben können. Ach, dass doch unsre Herzen imstande wären, mehr Liebe in sich zu fassen, und weiter zu werden. Mit einem teuren Gottesmann seufzen wir und rufen wir aus: „O, dass ich doch Liebe hätte, die um die ganze Erde reichte, und alle Himmel umspannte, ja, aller Himmel Himmel und zehntausend Welten, und dass ich sie dann ganz ausgießen könnte auf den lieben, lieben, einzig lieben Jesus.“ Ach! unser weitestes Umfangen ist nur eine Spanne Liebe, und unsre innigste Anhänglichkeit ist nur ein Tropfen im Eimer im Vergleich mit seinem Wert. Wenn unser Wunsch das Maß unserer Liebe wäre, o, dann wäre sie schon groß; und gewiss, wir dürfen‘s hoffen, Gott sieht‘s so an. Ach, dass wir doch alle Liebe aller Herzen in ein einziges großes Maß zusammenfassen könnten, um diese Summe aller Liebesempfindung Ihm darzubringen, der so ganz lieblich ist, ja, ganz lieblich!

Hohelied 1, 7.

„Sage mir an, Du, den meine Seele liebt, wo Du weidest, wo Du ruhest im Mittage.“

Diese Worte drücken das Verlangen der Gläubigen nach Christo aus und seine Sehnsucht nach dem Umgang mit Ihm. „Wo weidest Du Deine Herde?“ In Deinem Hause? Dann will ich gehen und sehen, ob ich Dich daselbst finde. Im Gebetskämmerlein? Dann will ich beten ohne Aufhören. Oder im Wort? Dann will ichs fleißig lesen. In Deinen Geboten? Dann will ich darin wandeln von ganzem Herzen. Sage mir an, wo Du weidest; denn wo Du stehest als der Hirte, will ich mich niederlegen als Dein Lamm; kein Anderer als Du kann mein Verlangen stillen. Ich kann mich nicht zufrieden geben, wenn ich nicht in Deiner Nähe bin. Meine Seele hungert und dürstet nach der Erquickung von Deinem Angesicht. „Wo ruhest Du am Mittage?“ Denn es sei Tag oder Nacht, Morgen oder Abend: meine einzige Ruhe finde ich nur, wo Du bist mit Deiner geliebten Herde. Die Ruhe meiner Seele muss ein Gnadengeschenk sein, und kann nur in Dir gefunden werden. Wo ist der Schatten dieses Felsens? Warum sollte ich nicht daselbst ruhen? Warum sollte ich sein wie Einer, der „hin- und hergehen müsse bei den Herden Deiner Gesellen“? Der Satan spricht zu mir, ich sei Deiner unwürdig; aber ich war ja immer unwürdig, und doch hast Du mich von Alters her geliebt, und darum kann meine Unwürdigkeit keine Schranke sein, die mich ausschlösse von der Gemeinschaft mit Dir. Wohl ist mein Glaube schwach und droht zu sinken; aber gerade meine Schwachheit ist ja ein Grund mehr, warum ich allezeit um Dich sein sollte, an dem Ort, da Du Deine Herde weidest, damit ich gekräftigt werde und wohl behütet an den frischen Wassern. Oder sollte ich mich von Dir abwenden? Ich wüsste dafür keinen Grund; aber es sind tausend Gründe da, dass ich bleibe, denn Jesus lotzt mich zu sich. Wenn Er Sich mir eine kleine Weile verbarg, so will er mir damit nur die Köstlichkeit Seiner Gegenwart umso fühlbarer werden lassen. Und obgleich ich jetzt traurig und betrübt bin, dass ich Seine Nähe nicht fühlen kann, so weiß ich doch, dass Er mich wieder zur bergenden Hürde führt, wo die Lämmer Seiner Herde vor den brennenden Sonnenstrahlen geschützt sind. (Goldstrahlen Februar 3)

Hohelied 1, 7.

„Du, den meine Seele liebt.“

Köstlich ist es, wenn wir imstande sind, ohne alle „Wenn“ oder „Aber“ zum Herrn Jesus zu sagen: „Du, den meine Seele liebt.“ Manche können von Jesu nur so viel sagen: sie hoffen, sie lieben Ihn, sie glauben, sie lieben Ihn; aber nur armselige und oberflächliche Erfahrung kann sich hiermit begnügen. Keiner sollte seinem Geist die geringste Ruhe gönnen, bis dass er sich in einer so wichtigen, tief ins innerste Leben eingreifenden Sache völlige Gewissheit verschafft hat. Wir sollten uns nicht mit einer oberflächlichen Hoffnung, dass Jesus uns liebe, nicht mit einem haltlosen Vertrauen, dass wir Ihn lieben, zufrieden geben. Die Heiligen der Vorzeit sprachen nicht so unbestimmt mit „Aber“ und „Wenn,“ mit „Hoffen“ und „Vertrauen,“ sondern sie redeten aufrichtig und offen. „Ich weiß, an welchen ich glaube,“ spricht der Apostel Paulus. „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt,“ spricht Hiob. Gewinne eine sichere Erkenntnis von deiner Liebe zu Jesu, und begnüge dich nicht mit weniger, als dass du mit völliger Gewissheit bezeugen kannst, du habest teil an Ihm; und das wird dir zur Gewissheit, wenn du empfangen hast das Zeugnis des Heiligen Geistes, und sein Siegel auf deine Seele durch den Glauben. Wahre Liebe zu Christo ist in allen Fällen das Werk des Heiligen Geistes und wird von Ihm im Herzen gewirkt. Er ist die wirksame Ursache dieser Liebe; aber der innere Grund, warum wir Jesum lieben, liegt im Heiland selbst. Warum lieben wir Jesum? „Weil Er uns zuerst geliebt hat.“ Warum lieben wir Jesum? Weil Er „sich selbst für uns dargegeben hat.“ Wir haben das Leben empfangen durch seinen Tod; wir haben Frieden erlangt durch sein Blut. Ob Er gleich reich war, ist Er doch arm geworden um unsertwillen. Warum lieben wir Jesum? Um der Vortrefflichkeit seiner Person willen. Wir sind erfüllt von der Bewunderung seiner Schönheit! von dem Entzücken über seine Liebenswürdigkeit! von der Erkenntnis seiner unendlichen Vollkommenheit! Seine Größe, seine Güte, sein liebliches Wesen verschmelzen sich in einen glänzenden Strahl, der die Seele entzückt, und sie in ein solches Meer der Wonne eintaucht, dass sie ausrufen muss: „Ja, Er ist ganz lieblich, ganz lieblich ist Er!“ O, selige Liebe - eine Liebe, die das Herz mit Seilen bindet, die sanfter sind denn Seide, mit Fesseln, die fester sind denn Diamant.

Hohelied 1, 13.

„Mein Freund ist mir ein Büschel Myrrhen.“

Myrrhen können als ein gar schönes Vorbild auf Jesum gelten, wegen ihrer Kostbarkeit, ihres Wohlgeruchs, ihrer Lieblichkeit, ihrer Heilkraft, ihrer reinigenden und erhaltenden Wirkung und ihrer Verwendung beim Opferdienst. Aber warum wird Er mit einem „Büschel Myrrhen“ verglichen? Erstens, um damit eine Fülle anzudeuten. Er ist nicht nur ein bisschen, Er ist ein ganzes Kästchen voll. Er ist nicht ein einzelnes Blatt oder Blümchen, sondern ein ganzes Büschel. In Christo ist volle Genüge für alle meine Bedürfnisse; drum will ich nicht verziehen, sondern von Ihm nehmen, was ich brauche. Unser Freund wird einem „Büschel“ verglichen, um der Mannigfaltigkeit willen; denn in Christo ist nicht nur das eine Notwendige, sondern in Ihm „wohnt die Fülle der Gottheit leibhaftig;“ was wir nur wünschen können, ist in Ihm vorhanden. Nimm den Herrn Jesum nach seinen verschiedenen Eigenschaften, so eröffnet sich dir ein wunderbarer Reichtum seines Wesens: Prophet, Priester, König, Bräutigam, Freund, Hirte. Betrachte Ihn in seinem Leben, seinem Tod, seiner Auferstehung, Himmelfahrt, zweiten Zukunft; schaue Ihn an in seiner Tugend, Sanftmut, Selbstverleugnung, Standhaftigkeit, Liebe, Treue, Wahrheit, Gerechtigkeit; immer und überall ist Er ein Bündel von Schätzen. Er ist ein „Bündel Myrrhen,“ des Aufbewahrens wert; hier sind nicht einzelne auf dem Boden zerstreute Blätter, die man zertritt, sondern zusammengebundene Myrrhen, die man in einem Kästchen verwahrt. Wir müssen Ihn für unsern höchsten Reichtum achten; wir müssen seine Worte und seinen Willen teuer schätzen; wir müssen unsere Gedanken an Ihn und unser Wissen von Ihm gleichsam unter Schloss und Riegel halten, damit nicht der Teufel komme und uns beraube. Dann ist der Herr Jesus „ein Büschel Myrrhen“ um seiner seltenen Vorzüglichkeit willen. Das Gleichnis schließt die Vorstellung von einer besonderen, auserwählenden Gnade in sich. Vor Grundlegung der Welt wurde Er für die Seinen ausgesondert; und Er gewährt seinen Wohlgeruch nur denen, die des vertrautesten Umganges mit Ihm fähig sind. O seliges Volk, das der Herr eingeweiht hat in seine Gnadengeheimnisse, und welchem Er sich vor allem erschließt und widmet. O, überglücklich und selig, wer sagen kann: „Mein Freund ist mir ein Büschel Myrrhen.“

Hohelied 1, 16.

„Sieh, mein Freund, Du bist schön und lieblich.“

In jeder Hinsicht ist unser teurer Freund sehr schön. Unsere mannigfaltigen inneren Erfahrungen sollen nach der Absicht unsers himmlischen Vaters uns auf eben so viele neue Standpunkte stellen, von wo aus wir die Lieblichkeit unsers Herrn Jesu betrachten können. Wir haben Ihn erblickt „von der Höhe Amana, von der Höhe Senir und Hermon“, und Er hat Seine Strahlen über uns ausgegossen, wie die Sonne in ihrer Kraft; aber wir haben Ihn auch gesehen „von den Wohnungen der Löwen, von den Bergen der Leoparden“, und Er hat nichts verloren von Seiner Lieblichkeit. Von dem Schmachten auf dem Krankenbett, von dem Rande des Grabes her haben wir unsere Augen hingewendet zum Bräutigam unserer Seele, und nie ist Er uns anders erschienen als „ganz lieblich“. Viele Seiner Heiligen haben auf Ihn geschaut aus dem Dunkel ihres Kerkers und aus den feurigen Flammen des Scheiterhaufens; dennoch haben sie nie mit einem Wort gegen Ihn gezeugt, sondern vielmehr in der Todesstunde Seine unaussprechliche Liebe gepriesen. O welch ein edles und angenehmes Geschäft, allezeit unsern süßen Herrn Jesum vor Augen haben und Ihn betrachten zu dürfen! Ist es nicht etwas unnennbar Seliges, den Heiland in allem Seinem Amt zu schauen und Ihn unvergleichlich zu erfinden überall; Seine Eigenschaften gleichsam in immer neuer Mischung zu bewundern und jederzeit wieder andere Bilder Seiner unvergleichlichen Schönheitsfülle zu erblicken. In der Krippe und in der ewigen Herrlichkeit, am Kreuz und auf dem Throne, im Garten Gethsemane und in Seinem Reich der Gnade, unter den Schächern und mitten unter Seraphim und Cherubim, überall ist Er „ganz lieblich“. Prüft jede kleinste Tat Seines Lebens und jeden Zug Seines Charakters mit Sorgfalt, so ist Er lieblich im Kleinen, wie im Erhabenen. Beurteilt Ihn, wie ihr wollt, ihr findet nichts an Ihm zu tadeln; wägt Ihn, so erfindet ihr Ihn nie zu leicht. Die Ewigkeit wird auch nicht den Schatten eines Fleckens an unserm Freund entdecken; vielmehr strahlen Seine verborgenen Herrlichkeiten, wenn die Äonen vorüberziehen, mit immer herrlicherem Glanze hervor, und Seine unaussprechliche Lieblichkeit entzückt uns je länger je mehr. (Goldstrahlen Mai 22)

Hohelied 2, 1.

„Ich bin eine Blume zu Saron, und eine Rose im Tal.“

Welche Schönheiten auch die irdische Welt in sich vereinigen mag, so besitzt doch unser Herr Jesus Christus dies Alles in der himmlischen Welt in unvergleichlich höherem Grade. Unter den Blumen gilt die Rose für die lieblichste, aber der Herr Jesus ist unendlich herrlicher und schöner im Garten der Seele, als es die Rose im irdischen Garten sein kann. Er ist der Allerschönste und Außerkorne unter vielen Tausenden. Er ist die Sonne und alle Andern die Sterne; die Himmel und der Tag sind dunkel gegen Ihn, denn der König in Seiner Schöne überstrahlt sie alle. „Ich bin eine Blume zu Saron.“ Das war die Beste und seltenste unter allen Rosen. Der Herr Jesus ist nicht bloß „eine Rose“, sondern Er ist die „Rose zu Saron“, gerade wie Er Seine Gerechtigkeit „Gold“ nennt und dann beifügt: „Gold aus Ophir“, das Beste von allem Besten. Er ist ganz lieblich; und nicht nur das: Er ist der Allerliebenswürdigste. Es ist eine große Mannigfaltigkeit in Seinen herrlichen Eigenschaften. Die Rose ist lieblich fürs Auge, und sie riecht außerordentlich angenehm und erfrischend; so findet ein jeglicher Sinn unserer Seele, sei es das Gefühl des Gemüts, das Gehör, das Gesicht, oder der geistliche Geruch, eine unnennbare Befriedigung in Jesu. Wie lieblich ist nicht das Andenken Seiner Liebe. Nimm die Rose von Saron, und nimm ein Blatt um das andere davon, und lege es ein zwischen die Blätter deines Gedächtnisses, so wirst du erfahren, dass es noch lange Zeit hernach seinen köstlichen Duft von sich gibt und das ganze Haus mit Wohlgeruch erfüllt. Christus befriedigt den edelsten Geschmack des feingebildeten Herzens und Geistes aufs Völligste. Der wählerischste Liebhaber von Wohlgerüchen ist durchaus befriedigt mit dem Duft der Rose; und wenn die Seele die höchste Stufe des wahren Geschmacks erreicht hat, so wird sie dennoch immer wieder aufs Neue von Christo angezogen, ja, sie schätzt Ihn nur umso höher. Der Himmel selber besitzt nichts, was diese Rose zu Saron überträfe. Die höchsten Schönheiten der Welt zusammen können Seine überschwängliche Köstlichkeit nur mit schwachen Farben zeichnen. O köstliche Rose, blühe immer in meinem Herzen! (Goldstrahlen Mai 1)

Hohelied 2, 3.

„Seine Frucht ist meiner Kehle süße.“

Der Glaube wird in der Heiligen Schrift unter dem Sinnbild aller fünf Sinne aufgeführt. Der Glaube ist ein Sehen: „Schauet den Fels an, davon ihr gehauen seid.“ Er ist ein Hören: „Hört, so wird eure Seele leben.“ Der Glaube ist ein Riechen: „Deine Kleider sind eitel Myrrhen, Aloe und Kezia.“ „Dass man Deine gute Salbe rieche; Dein Name ist eine ausgeschüttete Salbe.“ Der Glaube ist ein geistliches Anrühren. Durch diesen Glauben kam das Weib durchs Gedränge und rührete den Saum des Kleides Christi an, und durch diesen Glauben ergreifen wir die unsichtbaren Güter des Worts vom Leben. Und so ist der Glaube für den Geist auch ein Schmecken. „Dein Wort ist meinem Munde süßer, denn Honig.“ „Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschen-Sohnes, und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch,“ spricht Christus. Dies „Schmecken“ ist Glaube in einer seiner erhabensten Wirkungen. Eine der ersten Früchte des Glaubens ist das Hören. Wir hören die Stimme Gottes, nicht mit dem äußern Ohr allein, sondern mit dem inwendigen Ohr des geistlichen Menschen; wir hören diese Stimme aus Gottes Wort, und wir glauben auch, dass es sich so verhält; das ist das „Gehör“ des Glaubens. Danach schaut das Gemüt auf die Wahrheit, wie sie uns dargeboten wird, d. h. wir begreifen sie, wir verstehen ihren Sinn; das ist des Glaubens „Gesicht.“ Dann entdecken wir, wie köstlich das Wort ist, wir fangen an, es zu bewundern, und finden, es sei voll köstlichen Dufts; das ist des Glaubens „Geruch.“ Dann empfinden wir den Wert der Gnade, die uns in Christo Jesu geschenket und zubereitet ist; das ist der Glaube in seinem „Gefühl.“ Eine jede dieser Wirkungen des Glaubens wirkt Seligkeit: Hören wir die Stimme Christi als die wahrhaftige Stimme Gottes in der Seele, so macht uns dies selig; was uns aber wahre Freude verleiht, das ist die Betrachtung des Glaubens, in welchem, durch ein heiliges Schmecken, Christus in uns aufgenommen, und durch inwendige und geistliche Aneignung seiner Lieblichkeit und Köstlichkeit zur Nahrung unserer Seelen wird. Alsdann sitzen wir „unter dem Schatten, des wir begehren, und seine Frucht ist unserer Kehle süße. Er erquicket uns mit Blumen und labet uns mit Äpfeln.“

Hohelied 2, 10.

„Stehe auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her.“

Sieh, ich höre die Stimme meines Freundes! Er spricht mit mir! Ein heiterer Himmel lächelt hernieder auf das Antlitz der Erde, und Er will mich nicht im geistlichen Schlummer liegen lassen, wenn die ganze Natur rings um mich her aufwacht aus ihrem Winterschlaf. Er ruft mir: „Stehe auf,“ und Er hat Recht, denn ich habe nun lange genug bei den Fleischtöpfen der Weltlust geruht. Er ist auferstanden, ich bin auferstanden in Ihm, warum denn sollte ich noch am Staube kleben? Aus irdischer Liebe, Sehnsucht, Erwartung, Hoffnung möchte ich mich empor schwingen zu Ihm. Er nennt mich mit dem lieblichen Namen „Meine Freundin“ und hält mich für schön; das ist ein mächtiger Grund, mich zu erheben. Wenn Er mich so gelobt hat und mich für freundlich hält, wie kann ich noch verziehen in den Hütten Kedars und verwandte Freunde suchen unter den Menschenkindern? Er ruft mir: „Komm her.“ Von jeder selbstsüchtigen, niedrigen, weltlichen, sündlichen Begierde ruft Er mich mehr und mehr hinweg; ja, von der äußerlichen Weltfrömmigkeit, die Ihn nicht kennt und keine Gemeinschaft mit dem Geheimnis des höheren Lebens hat, zieht Er mich ab. Das „Komm her“ hat keinen harten Klang für mein Ohr, denn was fesselt mich noch an diese Wüste der Eitelkeit und Sünde? O, mein Herr, ich wollte, ich könnte wegkommen, aber ich bin umstrickt von den Dornen und kann mich nicht davon los machen, wie ich gern möchte. Wenn‘s möglich wäre, so möchte ich weder Augen, noch Ohren, noch ein Herz für die Sünde haben. Du rufst mich zu Dir und sprichst: „Komm her,“ und das ist wahrlich ein köstlicher Ruf. Zu Dir kommen, heißt heimkommen aus der Verbannung, den Hafen erreichen aus dem tobenden Sturm, zur Ruhe kommen nach schwerer Arbeit, das Ziel meiner Sehnsucht und den Gipfel aller meiner Wünsche erlangen. Aber Herr, wie kann sich ein Stein erheben, wie kann ein Erdenkloß herauskommen aus der schrecklichen Grube? O, ziehe mich empor und erhebe mich. Deine Gnade ist es imstande. Sende Deinen Heiligen Geist, dass Er heilige Liebesflammen anzünde in meinem Herzen, so will ich mich fort und fort erheben, bis ich Leben und Zeitlichkeit hinter mir zurücklasse, und zu Dir herkomme.

„Liebe, Dir ergeb‘ ich mich,
Dein zu bleiben ewiglich.“

Hohelied 2, 12.

„Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unsern Lande.“

Lieblich ist die Frühlingszeit; der lange und harte Winter lässt uns ihre lebenerweckende Wärme umso höher schätzen, und die Verheißung des Sommers, die sie uns bringt, erhöht die Freuden, die sie uns gewährt. Nach Zeiten geistlicher Niedergeschlagenheit ists köstlich, wenn wir wieder das Licht der Sonne der Gerechtigkeit erblicken; dann erwachen unsere schlummernden Gnadengaben neu aus ihrer Erstarrung, wie Safran und Narzissen aus ihrem Beet von Erde; dann wird unser Herz fröhlich und singt liebliche Lieder des Danks, die schöner klingen als der schönste Gesang der Nachtigallen, und die trostreiche Versicherung des Friedens wiederhalt unendlich lieblicher als das sanfte Girren der Turteltaube, in meiner Seele. Jetzt ist für meine Seele der Lenz gekommen, wo sie die Nähe ihre Freundes sucht; nun muss sie sich aufraffen aus ihrer angeborenen Trägheit und ihren alten Umgang meiden. Hissen wir das Segel nicht auf, wenn der Wind günstig ist, so sind wir töricht, und ernstlich zu tadeln: wir sollten die Seiten der Erquickung nicht unbenutzt vorübergehen lassen. Wenn der Herr Jesus selbst uns mit Seiner Liebe heimsucht und uns auffordert, uns zu erheben, wie können wir so böse sein und Sein Verlangen abweisen? Er ist auferstanden, auf dass Er uns nach sich ziehe; Er hat uns nun durch Seinen Heiligen Geist erquickt, damit wir in Erneuerung unseres Lebens uns in die himmlischen Wohnungen begeben und uns Seines Umgangs erfreuen. Unser Winter mit seiner Kälte und Gleichgültigkeit mag nun aufhören; wenn der Herr einen Frühling in uns schafft, so lasst den Saft mit eurer Kraft aufsteigen und unsern Zweig Knospen treiben mit heiligem Ernst. O Herr, wenn in meinem erstarrten Herzen noch kein Frühling ist, o so bitte ich Dich, erwecke ihn, denn ich bin herzlich müde, Dich zu missen. Ach! wann willst Du den langen harten Winter auftauen? Komm, Heiliger Geist, und erneuere meine Seele! Belebe mich, erquicke mich und sei mir gnädig! In dieser Abendstunde will ich den Herrn ernstlich bitten, Mitleid zu haben mit Seinem Knecht, und mir eine selige Erneuerung geistlichen Lebens zu gewähren. (Goldstrahlen April 24)

Hohelied 2, 15.

„Fanget uns die Füchse, die kleinen Füchse, die die Weinberge verderben.“

Ein kleiner Dorn kann viel Schmerz verursachen. Eine kleine Wolke kann die Sonne verhüllen. Kleine Füchse verderben die Weinberge; und kleine Sünden bringen der zartfühlenden Seele Herzeleid. Diese kleinen Sünden wühlen in der Seele, und verunreinigen sie ganz und gar mit allem, was Christo verhasst ist, so dass Er keinen erquickenden Umgang und keine liebliche Gemeinschaft mehr mit uns haben kann. Eine große Sünde kann einen Christen nicht zu Grunde richten, aber eine kleine Sünde kann ihn elend machen. Jesus mag nicht mit seinem Volk wandeln, es sei denn, dass sie jede erkannte Sünde austreiben. Er spricht: „So ihr meine Gebote haltet, so bleibet ihr in meiner Liebe, gleichwie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe.“ Manche Christen erfreuen sich gar selten der Nähe ihres Heilandes. Woher kommt das? Es muss doch gewiss für ein zartfühlendes Kind eine wehmütige Empfindung sein, wenn es wahrnimmt, dass es von seinem Vater getrennt ist. Bist du ein Kind Gottes, und kannst dennoch ruhig dahin wandeln, ohne deines Vaters Angesicht je zu sehen? Wie! Du wärest Christi Braut, und fühltest dich auch ferne von Ihm dennoch wohl! Wahrlich, es muss weit mit dir gekommen sein; denn die Schwester-Braut Christi trauert sehnsüchtig wie eine Taube um ihre Gespielin, wenn Er sie verlassen hat. Darum lege dir die Frage vor: was hat Christum von dir getrieben? Er verbirgt sein Angesicht hinter der Mauer deiner Sünden. Diese Mauer ist vielleicht aus kleinen Kieseln zusammengefügt, aber das macht keinen Unterschied. Das Meer besteht auch aus Tropfen; und die Felsen sind aus Körnern zusammengesetzt; das Meer, das dich von Christo scheidet, ist vielleicht mit den Tröpflein deiner kleinen Sünden angefüllt; und der Fels, an dem deine Barke beinahe strandete, ist vielleicht aus der tagtäglichen Arbeit der winzigen Korallentierchen deiner kleinen Sünden entstanden. Willst du mit Christo leben, mit Christo wandeln, Christum schauen, mit Christo Umgang haben, so hüte dich vor „den kleinen Füchsen, die die Weinberge verderben, denn unsre Weinberge haben Augen gewonnen.“ Jesus ladet dich ein, mit Ihm zu gehen, und sie zu fangen. Er ergreift die Füchse gewiss auf einmal und leicht, wie Simson. Gehe mit Ihm auf die Jagd.

Hohelied 2, 16.

„Mein Freund.“

Ein herrlicher Name tönt uns hier entgegen, mit dem die Gemeinde Gottes vor alters in den Augenblicken ihres höchsten Entzückens den Gesalbten des Herrn zu nennen pflegte. Als der Lenz herbeigekommen war, und die Turteltaube sich hören ließ in unserem Lande, da war ihr Liebeslied lieblicher denn je, und sie sang: „Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Rosen weidet.“ In ihrem Hohenlied nennt sie Ihn immer mit dem wonnevollen Namen: „Mein Freund!“ Sogar in dem langen Winter, wo Abgötterei den Garten des Herrn zur Öde und Wüste gemacht hatte, fanden die Propheten der Gottesgeliebten Muße, die Last des Herrn für etliche Zeit beiseite zu legen und mit Jesaias zu sagen: „Wohlan, ich will meinem Lieben ein Lied seines Freundes singen von seinem Weinberge.“ Obgleich die Heiligen sein Antlitz noch nicht gesehen hatten, und Er noch nicht ins Fleisch gekommen war, noch unter uns gewohnt hatte, und ob der Mensch gleich seine Herrlichkeit nicht gesehen hatte, so war Er dennoch Israels Trost, die Hoffnung und Freude aller Auserwählten, der „Freund“ aller derer, die aufrichtig wandelten vor dem Höchsten. Auch wir reden in den Sommertagen unserer Gemeinschaft mit Gott gern von Christo, dem Freund unserer Seele, und fühlen, dass Er uns teuer und köstlich ist, „auserkoren unter vielen Tausenden und ganz lieblich.“ So wahrhaftig steht‘s fest, dass die Brautgemeinde ihren Jesum liebt und Ihn als ihren Freund betrachtet, dass der Apostel die ganze Welt herausfordern darf, sie zu scheiden von der Liebe Christi, und dass er bezeugt, wie weder Trübsal, noch Angst, noch Verfolgung, noch Hunger, noch Blöße, noch Fährlichkeit, noch Schwert solches zu tun vermögen; ja, freudig rühmt er: „In dem allen überwinden wir weit, um deswillen, der uns geliebt hat.“ Ach, dass wir Dich doch noch besser erkennten, Du, Einziger, ewig geliebter Freund!

„O Jesu süß, wer Dein gedenkt,
Des Herz in Freude wird versenkt;
Und süßer über alles ist,
Wo du, o Jesu, selber bist!
Jesu, Du Herzensfreud‘ und Wonn‘,
Du Lebensbrunn‘, Du wahre Sonn‘!
Dir gleichet nichts auf dieser Erd‘,
Bei Dir ist, was man je begehrt.“

Hohelied 2,16.17.

„Mein Freund ist mein, und ich bin Sein, der unter den Rosen weidet. Bis der Tag kühl werde, und der Schatten weiche. Kehre um, werde wie ein Reh, mein Freund, oder wie ein junger Hirsch auf den Scheidebergen.“

Wahrlich, wenn irgend ein köstlicher Spruch in der Heiligen Schrift steht, so ist es der: „Mein Freund ist mein und ich bin Sein.“ So erfüllt von tiefem Frieden, von sanfter Innigkeit, von freudiger Gewissheit, so überströmend von Wonne und Seligkeit ist dieser Spruch, dass er gar wohl aus derselben Feder könnte geflossen sein, die auch den dreiundzwanzigsten Psalm verfasst hat. Die Stelle zeigt uns Den, der eine Stunde vor Seinem Hingang nach Gethsemane sprach: „Den Frieden lasse Ich euch, Meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich Ich euch, wie die Welt gibt. In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost: Ich habe die Welt überwunden.“ Lassen wir das silberne Glöcklein noch einmal erschallen, denn seine Töne klingen überaus lieblich: „Mein Freund ist mein, und ich bin Sein, der unter den Rosen weidet.“ Und doch ist ein Schatten dabei. Obgleich die Aussicht unvergleichlich schön und lieblich ist die Erde besitzt nichts Schöneres und Herrlicheres so ist doch die Gegend nicht überall vom Sonnenschein umflutet. Es steht eine Wolke am Himmel, welche einen Schatten über das Gemälde wirft; zwar wird es nicht dadurch verdüstert, denn alles ist noch hell und klar und stellt sich scharf und glänzend dar: „Mein Freund ist mein und ich bin Sein;“ aber trotz dieser vollkommenen Klarheit herrscht nicht vollkommener Sonnenschein; denn höre: „Bis der Tag kühl werde und der Schatten weiche.“

Es steht auch ein Wörtlein da von den „Scheidebergen,“ und für unsere Liebe ist alles, was Scheiden heißt, schwer und tut ihr weh. Ich sehe hier ein Passah-Lamm, aber ich sehe „bittere Salsen“ dabei; ich sehe die Rosen, aber ich bemerke Dornen daran. Lieber Freund, das kann uns den gegenwärtigen Zustand unseres Gemüts vorhalten. Du zweifelst nicht an deiner Erlösung; du weißt, dass Er dein ist, aber du bist noch nicht bei Ihm, um das Abendmahl mit Ihm zu halten. Du erkennst, dass du Teil hast an Seiner Lebensgemeinschaft, so dass dich auch nicht der Schatten eines Zweifels beunruhigt ob du ihm angehörst und Er dir; aber noch liegt Seine Linke nicht unter deinem Haupt und Seine Rechte herzet dich noch nicht.

Ein Schatten von Krankheit liegt über deinem Herzen; vielleicht bist du krank vor Liebe, jedenfalls mangelt dir im Augenblick die selige Nähe deines Herrn und Bräutigams. So rufst du denn wohl aus: „Ich bin Sein“; aber doch kannst du nicht anders; du musst dich auf deine Knie niederwerfen und flehen: „Bis der Tag kühl werde und der Schatten weiche, kehre um, mein Freund!“ „Aber wo ist Er?“ frägt die Seele. Und die Antwort kommt zurück: „Er weidet unter den Rosen.“ Der weltlich gesinnte Mensch kümmert sich nicht darum, wo Christus ist; aber dies ist des Christen einziges Denken und Sehnen. Der Herr Jesus ist unter die schneeweißen Lilien gegangen, die auf den himmlischen Fluren blühen, und zu den goldenen Rosen, welche rings um den Thron stehen. Ach, wann werden wir bei Ihm sein und Teil haben an Seiner Herrlichkeit? Unser ungeduldiger Geist verlangt dringend nach der Stunde, wo die Hochzeit soll vollzogen und unsere Wonne vollkommen werden. Er weidet hienieden unter den Rosen, unter jenen lieblichen Seelen,

„Die, wohin das Lamm sie führt,
Nie von Seinen Pfaden weichen.“

Wollen wir Christum finden, so müssen wir in die Gemeinschaft Seines Volkes einverleibt werden, und mit den Heiligen zu Seinen Heilsgütern kommen. Obgleich Er uns nicht mit Rosen ernährt, so weidet Er uns doch unter den Rosen, und da begegnen wir Ihm vielleicht. Ach, dass wir Ihn doch diesen Abend noch erblickten! Ach, dass wir heute das Abendmahl mit Ihm genießen dürften! Mein Herr und mein Gott: Bei Deiner Liebe zu mir beschwöre ich Dich, lass Dirs gefallen, mich jetzt mit Deiner Güte heimzusuchen, und schenke meiner Seele Deinen himmlischen Frieden. Wie bald kann Er zu mir kommen! Die Füße des Rehes sind nicht so schnell. In einem Augenblick kann Er mich mit Seiner wonnevollen Gegenwart erquicken. Komm, Herr Jesu, und bleibe bei mir für und für.

„Du, mein Erlöser, bists allein,
Der mich zur Lieb' beweget,
Du bists, der diese süße Pein
In meinem Herz erreget.“

(Goldstrahlen Juni 30)

Hohelied 3, 1.

„Ich suchte, aber ich fand Ihn nicht.“

Sage mir, wo du die Gemeinschaft Christi verloren hast, so will ich dir sagen, wo du sie am leichtesten wieder findest. Hast du deinen Heiland im Kämmerlein verloren, als du im Gebet lässiger wurdest? Dann musst du Ihn dort auch wieder suchen und finden. Verlorst du den Herrn durch die Sünde, dann findest du Ihn nicht anders wieder, als wenn du die Sünde aufgibst und durch den Heiligen Geist das Glied, in welchem die Sündenlust wohnt, zu ertöten suchst. Hast du Christum verloren durch Gleichgültigkeit gegen sein heiliges Wort? Dann suche Christum in der Schrift. Es ist ein wahres Sprichwort: „Suche deine Sachen, wo du sie verloren hast.“ So suche deinen Freund, wo du Ihn verloren hast, denn Er ist nicht weggegangen. Aber es ist ein hartes Stück Arbeit, umkehren, um Christum zu suchen. Bunyan erzählt uns, der Pilger habe seinen Weg so beschwerlich und traurig gefunden, wie den zurück zur Laube der Erholung am Hügel Beschwerde, wo er seinen Brief verloren hatte. Fünf Stunden steigen, ist leichter, als eine Viertelstunde zurückgehen, um den verlornen Pfad wieder zu suchen. Darum, wenn du deinen Herrn gefunden hast, so bleibe bei Ihm. Aber wie kommt‘s, dass du Ihn verloren hast? Man sollte denken, du hättest einen so unvergleichlichen Freund nie verlassen sollen, dessen Nähe so selig, dessen Rede so tröstlich, und dessen Umgang so erquickend ist! Warum hast du denn nicht jeden Augenblick auf Ihn geachtet, damit du Ihn nicht aus den Augen verlörest? Und doch ist es jetzt, da du Ihn verloren hast, eine große Gnade, dass du Ihn suchst, trotz deines bangen Seufzens: „Ach, dass ich wüsste, wo ich Ihn finden soll!“ Geh‘ und suche, denn es ist gefährlich, wenn du ohne deinen Herrn bist. Ohne Christum bist du wie ein Schaf ohne Hirt; wie ein Baum ohne tränkendes Wasser; wie ein welkes Blatt im Sturm, abgelöst vom Baum des Lebens. Suche Ihn von ganzem Herzen, so lässt Er sich von dir finden; nur biete alles auf, Ihn zu suchen, und du wirst Ihn wieder finden, zu deiner Freude und Wonne!

„Jesu, meine Freude,
Meines Herzens Weide,
Jesu, meine Zier!
Ach, wie lange, lange,
Ist dem Herzen bange,
Und verlangt nach Dir!“

Hohelied 3, 4.

„Ich fand, den meine Seele liebt. Ich halte Ihn und will Ihn nicht lassen.“

Nimmt uns Christus an, wenn wir zu Ihm kommen, trotz aller hinter uns sich auftürmenden Sündhaftigkeit? Züchtigt Er uns nie dafür, dass wir zuvor unsre Zuflucht zu allem andern genommen haben? Und ist auf Erden Ihm keiner gleich? Ist Er der Beste von allen Guten, der Herrlichste von allen Schönen? O, dann wollen wir Ihn preisen! Ihr Töchter von Jerusalem, erhebt Ihn mit Zimbeln und Harfen! Werft eure Götzen hin, und erhöht den Herrn Jesum! Werft das Panier der Pracht und des Gepränges unter die Füße und zertretet es, und hebt das Kreuz Jesu empor, das von der Welt verspottet und verhöhnt wird. Ach, dass wir einen elfenbeinernen Thron hätten für unsern König Salomo! Lasset Ihn ewiglich sitzen auf erhabenem Stuhl, so will ich mich niederwerfen vor seinem Fußschemel und seine Füße küssen und sie waschen mit meinen Tränen. O, wie teuer ist doch Christus! Wie ist es nur möglich, dass ich je so gering von Ihm denken konnte? Wie kommt es, dass ich sonst überall Freude und Trost suchen mag, nur bei Ihm nicht, der doch so voll, so reich, so allgenugsam ist? Gläubiger Mitbruder, mache einen Bund mit deinem Herzen, dass du nie wieder von Ihm lassen willst, und bitte deinen Herrn, dass Er den Bund bestätige. Sage Ihm, dass Er dich als einen Siegelring an seinen Finger stecke und als eine Spange um seinen Arm lege. Bitte Ihn, Er wolle dich zum Schmuck nehmen, wie eine Braut sich mit Geschmeide bedeckt und ein Bräutigam sich mit Juwelen ziert. Ich möchte im Herzen Christi leben; in den Klüften dieses Felsens möchte meine Seele ewiglich wohnen. Der Vogel hat ein Haus gefunden, und die Schwalbe ihr Nest, da sie Junge hecken, nämlich deine Altäre, Herr Zebaoth, mein König und mein Gott; und so möchte auch ich mein Herz finden, meine Heimat, in Dir, und nie wieder soll die Seele Deiner Turteltaube sich von Dir entfernen, sondern ich begehre mich innig an Dich anzuschmiegen, o Jesu, meine wahre und einzige Ruhe.

„Wenn ich Ihn nur habe,
Wenn Er mein nur ist;
Wenn mein Herz bis hin zum Grabe
Seine Treue nie vergisst;
Weiß ich nichts vom Leide\\, Fühl‘ ich nichts,
als Andacht, Lieb‘ und Freude!“

Hohelied 4, 7.

„Du bist allerdings schön, meine Freundin.“

Es ist zum Staunen, wie der Herr seine Braut-Gemeinde bewundert; seine Schilderung ihrer Schönheit ist warm und glühend. Sie ist nicht nur schön, sondern allerdings schön. Er schaut sie in Ihm selber, denn Er hat sie abgewaschen in seinem sündenversöhnenden Blut und sie gekleidet in das Verdienst seiner Gerechtigkeit, und Er schauet sie an, und rühmt sie, wie sie voller Anmut und Lieblichkeit sei. Kein Wunder, dass dies also geschieht, weil Er ja in ihr nur seine eigene Vortrefflichkeit bewundert; denn die Heiligkeit, Herrlichkeit und Vollkommenheit seiner Gemeinde sind nichts anders als seine eigenen herrlichen Kleider, womit Er seine innig geliebte Braut schmückt. Sie ist nicht nur rein und wohlgestaltet; sie ist wahrhaft lieblich und schön! Sie hat wirkliche Vorzüge! Ihre Sündenmängel sind völlig geheilt und spurlos verschwunden; aber noch mehr, sie hat durch den Herrn eine Gerechtigkeit voller Tugend empfangen, durch welche ihr eine wirkliche Schönheit zu eigen geworden ist. Gläubige Seelen haben eine tatsächliche Gerechtigkeit, die ihnen geschenkt wird, wenn sie „angenehm gemacht sind in dem Geliebten.“ Auch ist die Braut-Gemeinde nicht allein lieblich, sondern sie ist über alles liebenswürdig. Ihr Herr nennt sie: „Du Schönste unter den Weibern.“ Sie besitzt eine wahrhaftige Würde und Herrlichkeit, die von keinem Adel und keinem königlichen Ansehen der Welt erreicht wird. Wenn der Herr Jesus seine Braut gegen alle Königinnen und Kaiserinnen der Erde vertauschen könnte, ja, selbst gegen alle heiligen Engel im Himmel, Er würde es nicht tun, denn sie zuerst und vor allem nennt Er die „Schönste unter den Weibern.“ Sie ist der Mond, der alle Sterne überstrahlt. Auch ist es nicht eine Ansicht, der Er sich schämt, denn Er ruft alle Welt auf, dass sie es vernehmen solle. Er setzt ein „Sieh“ davor, einen besonderen Ausruf der Bewunderung, der die Aufmerksamkeit erregen und fesseln soll: „Sieh, meine Freundin, du bist schön, siehe, schön bist du.“ Er bezeugt und verkündigt schon jetzt seine Meinung, und einst wird Er vom Throne seiner Herrlichkeit, herab es vor der ganzen versammelten Welt bekräftigen. „Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters,“ wird seine feierliche Bestätigung der Schönheit und Lieblichkeit seiner Auserwählten alsdann lauten, „ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt.“

Hohelied 4, 7.

„Und ist kein Flecken an dir.“

Nachdem der Herr seine Brautgemeinde gepriesen und ihre Schönheit bezeugt hat, bestätigt Er sein Lob noch durch eine köstliche Bewahrung gegen jeden Tadel: „Und ist kein Flecken an dir.“ Gleichsam als ob dem Freunde der Gedanke durch den Sinn gegangen wäre, die argwöhnische Welt könnte vermuten, Er hätte nur ihre Reize beschrieben, aber alles mit Stillschweigen übergangen, was etwa Fehlerhaftes oder Tadelnswertes an ihr zu finden wäre. Darum fasst Er alles in das Lob ihrer unübertrefflichen, tadellosen Schönheit und in die Abwehr auch des allerleisesten Tadels zusammen. Ein Flecken kann leicht beseitigt werden, und stört am allerwenigsten von allen Mängeln den vollen Genuss der Schönheit, aber auch von diesem leisen Tadel ist der Gläubige in den Augen seines Herrn frei. Wenn Er gesagt hätte, es ist keine hässliche Runzel, keine entstellende Missgestalt, keine tödliche Eiterbeule an ihrem ganzen Wesen, so wäre das schon genug gewesen, um unsre ganze Bewunderung zu reizen; wenn Er aber bezeugt, dass sie auch vom allergeringsten Flecken frei ist, so sind alle jene gröbern Ursachen des Tadels zum voraus ausgeschlossen, und die Größe der Bewunderung wird noch erhöht. Wenn Er verheißen hätte, Er wolle nach und nach alle Flecken beseitigen, so hätten wir in alle Ewigkeit Ursache zur Freude gehabt; wenn Er aber davon spricht als von etwas schon Geschehenem, wer könnte da noch den lebhaftesten Empfindungen der Wonne und höchsten Befriedigung widerstehen? O, meine Seele, hier ist Mark und Fett für dich; iss dich satt, und erlabe dich an königlichen Leckerbissen.

Jesus Christus hat keinen Streit mit seiner Brautgemeinde. Sie irrt oft von Ihm ab und betrübt seinen Heiligen Geist, aber Er lässt nicht zu, dass ihre Fehler seine Liebe beeinträchtigen. Er straft zuweilen, aber stets nur in der liebevollsten Weise, in der gütigsten Absicht; sie heißt auch dann noch stets: „Meine Freundin.“ Er gedenkt unserer Torheiten nie, Er hegt keine argen Gedanken von uns, sondern Er vergibt und liebt nach der Beleidigung ebenso herzlich, wie vorher. Wie gut ist es doch für uns, dass es so ist, denn wenn der Herr Jesus so hartnäckig an jede Beleidigung gedächte, wie wir, wie könnte Er uns noch lieb haben? Manchmal übernimmt den Gläubigen ob seiner schweren Lebensführung der Unmut, aber unser lieber Herr kennt unser albernes Herz zu gut, als dass Er sich durch unsre Unarten erzürnen ließe.

Hohelied 4, 12.

„Meine Schwester, liebe Braut!“

Achte auf die lieblichen Namen, mit welchen der himmlische Salomo in inniger Liebe seine Braut, die Gemeine, anredet. „Meine Schwester“, mit Mir verbunden durch Bande der Natur, teilhaftig gleicher Empfindungen und Gefühle. „Liebe Braut,“ Meine Liebste und Theuerste, mit Mir vereinigt durch die zartesten Bande der Liebe; Meine liebliche Genossin, Teil Meines eigenen Ich. „Meine Schwester“ durch Meine Menschwerdung, dadurch Ich Bein von deinem Bein und Fleisch von deinem Fleisch geworden bin; „liebe Braut,“ durch ewige Erwählung. „Meine Braut“, die ich Mir vertrauet habe in Gerechtigkeit. „Meine Schwester,“ die Ich je und je gekannt, und über die ich gemacht habe von ihrer ersten Jugend an; „liebe Braut,“ auserwählt aus den Töchtern, umschlungen mit Armen der Liebe, und Mir vertrauet ewiglich. Sieh, wie wahr es ist, dass unser königlicher Verwandter sich unser nicht schämt, denn Er verweilt mit sichtbarer Wonne bei dieser doppelten Verwandtschaft mit uns. Mit doppeltem Ausdruck nennt er uns Sein eigen in den Wörtlein „mein“ und „lieb;“ wie wenn Christus mit besonderem Entzücken an dem Besitz Seiner Brautgemeine hinge. „Seine Lust ist bei den Menschenkindern,“ weil diese Menschenkinder Seine Auserwählten sind. Er ist gekommen, „zu suchen und selig zu machen, was verloren ist,“ weil das, was verloren ist, Sein Eigentum war, lange bevor es sich und Ihm war verloren gegangen. Die Brautgemeine ist das ausschließliche Eigentum ihres Herrn; Niemand sonst darf Anspruch auf sie erheben oder sich rühmen, ihre Liebe zu besitzen. O Jesu, es ist die Wonne Deiner Braut, dass es also ist! Jede dürstende Seele erquickte sich mit dem Trost, der aus diesem Brunnen reichlich quillt. Seele! Christus ist dir nahe durch Bande der Verwandtschaft; Christus ist dir teuer durch die Liebe der zärtlichsten Gemeinschaft, und du bist Ihm teuer; siehe, Er fasst dich bei beiden Händen mit Seiner Rechten und Linken und spricht: „Meine Schwester, liebe Braut.“ Achte auf die beiden heiligen Bande, durch welche dein Herr dich doppelt an sich fesselt, auf dass Er dir bezeuge, wie Er dich ewiglich nicht wieder lassen könne noch wolle. O mein Lieber, verziehe nicht, solche Heilige Flammen Seiner Liebe zu erwidern. (Goldstrahlen, Januar 7)

Hohelied 4, 12.

„Eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born.“

In diesem Gleichnis tritt uns offenbar der Begriff der Heimlichkeit entgegen. Es ist eine verschlossene Quelle: so gab‘s im Morgenlande Brunnen, über welche ein Haus gebaut war, so dass niemand zur Quelle gelangen konnte, außer dem, der den verborgenen Eingang kannte; solchem verschlossenen Brunnen gleicht das Herz des Gläubigen, wenn es durch die Gnade erneuert wird: es ist ein geheimnisvolles Leben im Innern, das keine menschliche Kunst und Geschicklichkeit erschließt. Es ist ein Geheimnis, das kein andrer Mensch erkennt; ja, welches auch derselbe Mensch, der in seinem Besitz ist, seinem Nächsten nicht offenbaren kann. Unser Bild erweckt nicht nur die Vorstellung der Heimlichkeit, sondern auch die der Absonderung. Es ist keine öffentliche Quelle, aus welcher jeder Vorübergehende trinken darf, es ist eine Quelle, die vor allen Fremden und Unberechtigten verwahrt ist; es ist ein Born, der sein besonderes Zeichen trägt: eines Königs Reichs- Siegel, so dass jedermann erkennen kann, dass es kein öffentlicher Brunnen ist, sondern ein Brunnen, der einem Eigentümer zugehört und allein um seinetwillen vorhanden ist. So verhält sich‘s auch mit dem geistlichen Leben. Die Auserwählten Gottes wurden im ewigen Ratschluss ausgesondert; sie wurden von Gott am Tage der Erlösung ausgeschieden; sie sind abgetrennt von den Übrigen durch den Besitz eines Lebens, das diesen fehlt; und sie können sich unmöglich heimisch fühlen bei den Kindern dieser Welt, oder sich erquicken an den Freuden dieser Erde. Auch die Vorstellung der Heiligkeit bietet sich uns bei der Betrachtung dieses Bildes dar. Die verschlossene Quelle wird für den Gebrauch einer bestimmten Person bewahrt; und so auch des Christen Herz. Dieses ist eine Quelle, die für Jesum bewahrt wird. Jeder Christ sollte fühlen, dass er versiegelt ist mit dem Siegel Gottes, und er sollte mit dem Apostel Paulus sagen können: „Hinfort mache mir niemand weiter Mühe; denn ich trage die Malzeichen des Herrn Jesu an meinem Leibe.“ Noch eine andre Vorstellung drängt sich auf, die der Sicherheit. O, wie sicher und geborgen ist doch das innere Leben des Gläubigen! Wenn alle irdischen und himmlischen Mächte sich dagegen aufmachten, so müsste dennoch diese unsterbliche Kraft Bestand behalten, denn der dies Leben gegeben hat, hat sein eigenes Leben dargegeben zu seiner Bewahrung.

Hohelied 4, 16.

„Stehe auf, Nordwind, und komm, Südwind; und wehe durch meinen Garten, dass seine Würze triefen.“

Alles andre ist besser, als die tote Ruhe der Gleichgültigkeit. Unsere Seelen tun wohl und weise, dass sie sich sehnen nach dem Nordwind der Trübsal, wenn das allein dazu mag geheiligt werden, den angenehmen Duft unserer Gnadentugenden hervorzulocken. So lange nicht muss gesagt werden: „Der Herr war nicht im Winde,“ dürfen wir nicht zusammenschrecken vor dem winterlichsten Frostauch, der je über die Gewächse der Gnade hinfuhr. Hat sich die Braut in diesem Verse nicht demütig dem Tadel ihres Freundes unterworfen? Sie bittet Ihn einzig um seine Gnade. Ist sie nicht gleich uns über ihre unheilige Ruhe und tödliche Erstarrung so ganz und gar bestürzt, dass sie sich nach einer Heimsuchung innig sehnt, und danach seufzt, damit sie möge zur kräftigen Tat erweckt werden? Und doch verlangt sie auch nach dem erwärmenden Südwind des Trostes, nach dem lieblichen Lächeln der göttlichen Liebe, nach der Freude in der Gegenwart des Heilandes; denn dadurch werden wir oft mächtig aus dem Schlummerleben aufgerüttelt. Sie sehnt sich nach dem einen oder dem andern, oder nach beiden; nur dass sie möchte imstande sein, ihren Freund zu erfreuen mit der Würze ihres Gartens. Sie kann es nicht ertragen, dass sie soll müßig und untätig sein; auch wir können‘s nicht. Wie lieblich ist doch der Gedanke, dass der Herr Jesus ob unsern armseligen Gnadenblüten Wohlgefallen empfinden kann? Ist das möglich? O, es ist fast zu schön, um wahr zu sein. Ja, wir dürfen uns wohl nach Prüfungen der Trübsal, nach dem Tode selber sehnen, wenn uns das dazu helfen kann, unsers Immanuels Herz zu erheitern. Ach, dass unser Herz doch zu Staub zermalmt würde, wenn durch dies Zerschlagen unser geliebter Herr Jesus mag verherrlicht werden. Gnadengeschenke, die nicht verwendet werden, sind wie der liebliche Duft, der im Kelch der Blumen schlummert. Die Weisheit des großen Herrn und Meisters überwacht und leitet die verschiedensten, entgegengesetztesten Kräfte, damit sie zusammenwirken in dem einen erwünschten Ziel; Er lockt durch Trübsal und Trost die lieblichen Wohlgerüche des Glaubens, der Liebe, der Hoffnung, der Geduld, der Ergebung, der Freude und der andern herrlichen Blumen des Gartens hervor. Möchten wir aus eigener innerer Erfahrung wissen, was das bedeutet!

Hohelied 5, 1.

„Ich komme, meine Schwester, liebe Braut, in meinen Garten.“

Des Gläubigen Herz ist der Garten Christi. Er hat diesen Garten erkauft mit Seinem teuren Blut und Er zieht darin ein und spricht ihn an als Sein Eigentum. Ein Garten ist ein verschlossener Raum. Er ist kein offenes, freies Land; auch ist er keine Wüste;, er ist mit einer Mauer umgeben oder durch Hecken ringsum geschützt. Wie gerne sähen wir doch die schützende Trennungsmauer zwischen der Gemeine der Heiligen und der Welt erhöht. In einem Herzen, das noch fragen kann, wie weit es sich dieser Welt gleichstellen dürfe, ist der mächtige Strom der Gnade schon zu einem spärlichen Bächlein zusammengeschrumpft. Ein Garten ist eine Stätte und Heimat der Schönheit; das unbebaute, raue Land steht weit hinter ihm zurück. Der wahre Christ muss danach trachten, in seinem Wandel den rechtschaffendsten Tugendmenschen zu übertreffen, weil der Garten Christi die herrlichsten Blumen in der Welt hervorbringen sollte. Und selbst das Herrlichste ist da noch immer armselig im Vergleich mit dem, was Christus verdient. So wollen wir Ihm denn keine Schande machen mit verwelkenden und serbelnden Pflanzen. Die seltensten, reichsten, köstlichsten Lilien und Rosen sollten an dem Ort blühen, den der Herr Jesus Sein eigen nennt.

Der Garten ist eine Stätte fruchtbaren Wachstums. Die Heiligen sollen nicht unentwickelte Pflänzlinge bleiben; sie sollen Blätter und Blüthen und Knospen treiben. Wir müssen wachsen in der Gnade und in der Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi. Wo Jesus der Gärtner und der Heilige Geist der Tau von oben ist, da sollte ein schnelles Wachstum stattfinden.

Ein Garten ist auch eine Stätte lieblicher Einsamkeit. So begehrt der Herr Jesus, dass wir unsere Seelen bewahren als einen Ort, an dem Er sich offenbaren kann, wie Er sich der Welt nicht offenbart. Ach, dass doch die Christen mehr in der Stille lebten, und ihre Herzen besser bewahrten für ihren Herrn und Heiland! Wir schaffen uns oft viele Sorge und Mühe, dem Herrn zu dienen, wie Martha, so dass wir nicht mehr Raum haben für Seine Nähe, und nicht zu Seinen Füßen sitzen, wie wir sollten. Der Herr gieße über uns aus den lieblichen Regen Seiner Gnade, um unsern Garten diesen Abend zu bewässern! (Goldstrahlen Juni 18)

Hohelied 5, 2.

„Ich schlafe, aber mein Herz wacht.“

Scheinbare Widersprüche sind in der Christenerfahrung sehr zahlreich, und hier ist ein solcher: die Braut schlief, und doch war sie wach. Nur der kann dies Rätsel des Glaubens treffen, der mit dem Kalbe der Erfahrung pflügt. Die beiden Hauptpunkte in unserer heutigen Schriftstelle sind: eine traurige Schläfrigkeit und eine hoffnungsvolle Wachsamkeit. Ich schlafe. Durch die Sünde, die in uns wohnt, können wir in Erfüllung unserer heiligen Pflichten lässig gemacht werden, träge zu geistlichen Übungen, unempfänglich für himmlische Freuden, und ganz und gar sorglos und gleichgültig. Das ist ein schmählicher Zustand für jemand, in dem der lebendigmachende Geist wohnt, und er ist gefährlich im höchsten Grade. Selbst die klugen Jungfrauen schlafen zeitweise, aber es ist hohe Zeit für alle, die Bande der Trägheit abzustreifen. Es steht zu fürchten, dass viele Gläubige ihre Kraft verlieren, wie Simson seine Locken verlor, während sie auf dem Schoß der fleischlichen Sicherheit schlafen. Schlafen, während die uns umgebende Welt ins Verderben stürzt, ist entsetzlich; es ist Wahnsinn, wo die Ewigkeit so nahe ist. Dennoch ist keiner unter uns so wachsam, als er sollte; ein paar Donnerschläge würden uns treffliche Dienste leisten, und wenn wir uns nicht bald aufraffen, werden wir sie vielleicht bald zu hören bekommen unter der Gestalt des Krieges, der Pestilenz oder persönlicher Verluste und Heimsuchungen. Ach, dass wir uns doch für immer vom Lager weichlicher Behaglichkeit erhöben und auszögen mit brennenden Fackeln dem kommenden Bräutigam entgegen! Mein Herz wacht. Das ist ein seliges Zeichen. Das Leben ist nicht erloschen, obgleich tief herabgestimmt. Wenn unser erneuertes Herz wider unsre natürliche Trägheit ankämpft, so sollten wir der unumschränkten Gnade dankbar sein, dass sie in dem Leibe dieses Todes etwas Leben wach erhalten hat. Jesus will auf unsre Herzen hören, will unsren Herzen helfen, will unsre Herzen besuchen; denn die Stimme des wachsamen Herzens ist wahrlich die Stimme unsers Freundes, der da spricht: „Tue mir auf!“ Heilige Sehnsucht hilft mir gewiss die Riegel von der Tür zurückschieben.

„Schaff‘ in mir, Herr, den neuen Geist,
Der Dir mit Lust Gehorsam leist‘.“

Hohelied 5, 4.

„Mein Freund steckte seine Hand durchs Fenster, und mein Innerstes erzitterte davor.“

Das Anklopfen genügte noch nicht, denn meine Augen waren zu voll Schlafs; zu kalt und zu undankbar war ich, um aufzustehen und die Tür aufzutun, aber die Berührung seiner wirksamen Gnade hat meine Seele munter gemacht. Ach, wie langmütig ist doch mein Freund, dass Er noch bleibt, wenn Er sich ausgeschlossen findet und mich schlafend trifft auf dem Bett der Trägheit! O, wie groß ist doch seine Geduld, dass Er immer und immer wieder anklopft, und dass Er mit seinem Anklopfen zugleich noch seine Stimme erhebt und mich bittet, Ihm aufzutun! Wie ist es nur möglich, dass ich Ihn abweisen konnte! Niederträchtiges Herz, schäme dich und vergehe! Aber welch eine alles übertreffende Güte ist doch das, dass Er selbst zum Pförtner wird und die Tür öffnet! Dreifach gesegnet ist die Hand, die sich herablässt, die Klinke zu drücken und den Schlüssel aufzudrehen! Nun begreife ich, dass nichts als die selbsteigne Macht meines Herrn imstande ist, solch einen elenden, erbarmungswürdigen Wurm, wie ich bin, zu erretten; alle Heilsmittel bleiben wirkungslos, selbst das Evangelium vermag nichts über mich, bis dass Er seine Hand ausstreckt. Nun begreife ich auch, dass seine Hand heilsam ist, wo alles andre wirkungslos bleibt; Er kann öffnen, wenn nichts sonst wirkt. Gelobt sei sein Name, dass ich auch in diesem Augenblick seine Gnadengegenwart spüre. Wohl mag mein Innerstes davor zittern, wenn ich daran denke, was Er alles für mich erduldet hat, und wie ich mich so treulos wieder von Ihm abwandte. Ich habe andre Götter neben Ihm gehabt. Ich habe Ihn betrübt. O Du lieblichster und teuerster aller Freunde, ich bin mit Dir umgegangen, wie ein treuloses Weib mit ihrem Mann. Ach, meine schrecklichen Sünden, meine entsetzliche Selbstsucht! Was soll ich Tun? Tränen sind zu armselig, um meine Reue zu bezeugen, mein ganzes Herz wallt von Unwillen über mich selbst. Ich Elender, dass ich meinen Herrn, mein Ein und Alles, meine unaussprechlich große Freude so behandeln konnte, wie wenn ich Ihn nicht kennte. Herr Jesu, Du vergibst gern; aber das ist noch nicht genug, bewahr‘ mich in Zukunft vor aller Treulosigkeit. Küsse diese Tränen hinweg, und dann halte mein Herz fest, dass es Dich nie wieder verliere.

Hohelied 5, 6.

„Ich rief, aber Er antwortete mir nicht.“

Zuweilen muss das Gebet auf Erhörung warten, wie ein Bittsteller vor dem Tore, bis dass der König herausgeht und seinen Schoß füllt mit den Segensschätzen, um die es gefleht hat. Der Herr hat oft die, denen Er großen Glauben geschenkt hat, harren lassen, um ihren Glauben durch diese Prüfung zu läutern. Er hats geschehen lassen, dass die Stimme Seiner Knechte in ihre Ohren zurückhallte, wie wenn der Himmel ehern wäre. Sie haben angeklopft an der goldenen Pforte, aber diese hat sich nicht bewegt, als ob sie in ihren Angeln eingerostet wäre. Wie Jeremia haben sie ausgerufen: „Du hast dich mit einer Wolke verdeckt, dass kein Gebet hindurch konnte.“ So haben viele wahrhaft Heilige lange in Geduld geharrt, und haben gewartet ohne Gewährung, nicht weil ihr Gebet nicht brünstig gewesen wäre, noch weil sie nicht wären angenehm gewesen, sondern weil es Dem also gefiel, der da unumschränkt ist in Seinem Willen und gewährt nach Seinem Wohlgefallen. Wenn es ihm gefällt, unsere Geduld aufs Warten anzuweisen, soll Er nicht tun dürfen mit dem Seinen nach Seinem Gutfinden? Bettler dürfen nicht wählerisch sein mit Zeit, Ort oder Gabe. Wir aber müssen uns sorgfältig hüten, dass wir nicht eine Verzögerung für eine Verweigerung ansehen. Gottes langsichtige Wechsel werden pünktlich eingelöst; wir dürfen vom Satan unser Vertrauen in den Gott der Wahrheit nicht dadurch erschüttern lassen, dass er uns auf unsere noch nicht erhörten Gebete hinweist. Bitten, die noch keine Erhörung gefunden haben, bleiben deshalb nicht unerfüllt. Gott hat alle unsere Gebete genau verzeichnet, sie werden von keinem Wind verweht, sie werden aufbewahrt in des Königs Reichsarchiv. Es ist am himmlischen Hofe eine Registratur, wo jedes Gebet eingetragen wird. Schwergeprüfte Seele, dein Herr fasset deine Tränen in einen Sack (Ps. 56,9.), in welchem die kostbarsten Tropfen heiligen Kummers aufgehoben werden; Er zählt deine Seufzer und schreibt sie in Sein Buch zum Gedächtnis. Nach und nach kommen alle deine Anliegen an die Reihe. Bist du nicht zufrieden, dass du ein klein wenig warten musst? Wird nicht deines Herrn Zeit besser sein als deine eigene Endlich erscheint Er dir zum Troste, und heißt dich den Sack ablegen und anziehen Scharlach und feines Leinen, (Goldstrahlen März 29)

Hohelied 5, 8.

„Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, findet ihr meinen Freund, so sagt Ihm, dass ich vor Liebe krank liege.“

Hier hören wir die Sprache des Gläubigen, der sich nach der Gnadengegenwart und Gemeinschaft Jesu sehnt; er ist krank vor Liebe zu seinem Herrn. Begnadigte Seelen fühlen sich nie vollkommen wohl, wenn sie sich nicht in einem Zustand inniger Vereinigung mit Christo befinden; denn wenn sie ferne von Ihm sind, so haben sie keinen Frieden. Je näher bei Ihm, desto näher bei der Vollkommenheit der himmlischen Ruhe; je näher bei Ihm, desto voller das Herz; nicht nur erfüllt mit Frieden, sondern erfüllt mit Leben, mit Kraft, mit Freude; denn das alles hängt von dem beständigen Verkehr mit Jesu ab. Was die Sonne für den Tag, was der Mond für die Nacht, was der Tau für die Blumen: das ist unser Herr Jesus Christus für uns. Was das Brot ist für den Hungrigen, die Kleidung für den Nackten, der Schatten eines großen Felsens dem Wanderer im dürren Lande: das ist der Herr Jesus für uns; und wenn wir darum uns nicht eins mit Ihm wissen und fühlen, so darf‘s uns nicht wundern, wenn unser Geist in die Worte des Hohenliedes ausbricht: „Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, findet ihr meinen Freund, so sagt Ihm, dass ich vor Liebe krank liege.“ Diese tiefe Sehnsucht, dies ernstliche Verlangen nach Jesu ist mit einem großen Segen verknüpft: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit;“ und darum unaussprechlich selig, die da dürstet nach dem Gerechten. Selig ist solch Hungern, denn es kommt von Gott: kann mir nicht der volle Segen zuteil werden, dass ich satt werde, so will ich diesen Segen zu empfangen suchen, in der süßen Sehnsucht schmachtenden Dürstens und verlangenden Hungerns, bis dass ich an Christo erquickt und gesättigt werde. Kann ich Christum nicht genießen, so ist es für mich die nächste Pforte zur himmlischen Seligkeit, wenn ich nach Ihm hungere und dürste. Es ist eine solche Weihe um diesen Hunger, weil er unter den Seligkeiten strahlt, die unser Herr preist. Aber die Seligpreisung schließt auch eine Verheißung in sich. Solche hungernden Seelen „sollen satt werden“ mit dem, wonach sie verlangt. Wenn der Herr Jesus unsre Sehnsucht nach Ihm erweckt, so will und wird Er diese Sehnsucht auch stillen; und wenn Er zu uns kommt, wie Er es verheißen hat, o, was wird dann das für ein seliges Begegnen sein!

Hohelied 5, 11.

„Sein Haupt ist das feinste Gold; seine Locken sind kraus, schwarz wie ein Rabe.“

Keine Vergleichung reicht aus, uns den Herrn Jesus recht zu vergegenwärtigen; die Braut allein trifft den richtigen Ausdruck, so weit ihr eine Schilderung möglich wird. Unter dem Haupte Jesu können wir seine Gottheit verstehen, „Gott aber ist Christi Haupt,“ ebenso ist ein reiner Guss von feinstem Gold das Beste verständliche Bild, aber immer noch viel zu armselig, um einen so herrlichen, so reinen, so köstlichen, so teuren Freund zu schildern. Der Herr Jesus ist kein Goldkorn, sondern eine große Goldkugel, ein unschätzbarer Schatz, dem an Wert weder im Himmel noch auf Erden etwas gleich kommt. Die Geschöpfe sind nichts als Ton und Eisen, sie müssen alle umkommen, wie Holz, Heu und Stoppeln, aber das ewig lebendige Haupt der Schöpfung Gottes wird strahlen von Ewigkeit zu Ewigkeit. In Ihm ist keinerlei Vermengung, noch die geringste Spur eines entwertenden Zusatzes. Er ist ewiglich der unendlich Heilige und durchaus Göttliche. Die krausen Locken bezeichnen seine männliche Kraft. Es ist nichts Verweichlichtes an unserem Freunde. Er ist der männlichste aller Männer. Mutig wie ein Löwe, unermüdlich wie ein Rind, rasch wie ein Adler. Alle denkbare und undenkbare Schönheit findet sich in Ihm, ob Er gleich einst von den Menschen verhöhnt und verworfen wurde.

„Du bist mein Himmel, den ich meine,
Mein Paradies, darin alleine
Mein Geist den ew‘gen Sabbat hält!“

Die Herrlichkeit seines Hauptes wird Ihm nie geraubt, Ihn krönt ewig unvergleichliche Majestät. Das schwarze Haar zeugt von jugendlicher Frische, denn Jesus geht einher im Tau seiner Jugend. Andre werden matt vor Alter, aber Er ist ein Priester ewiglich nach der Ordnung Melchisedeks; andre kommen und gehen, Er aber bleibet auf seinem Thron in göttlicher Herrlichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit. Wir wollen Ihn heute Abend betrachten und verehren. Engel bewundern Ihn, und seine Erlösten wenden ihre Blicke nicht von Ihm. Wo ist irgendein solcher Freund? Ach, dass ich doch eine einzige Stunde Gemeinschaft mit Ihm haben könnte! Hinweg, ihr verführerischen Sorgen! Jesus zieht mich Ihm nach, lasst mich Ihm folgen.

Hohelied 5, 13.

„Seine Wangen sind wie wachsende Würzgärtlein der Apotheker.“

Sieh, der Wonnemonat ist gekommen! Märzen-Winde und April-Regen haben ihre Arbeit verrichtet, und die ganze Erde ist bedeckt mit Farben- und Blütenpracht. Komm, meine Seele, ziehe dein Feierkleid an und wandre ins Freie, pflücke Sträuße und winde Kränze himmlischer Gedanken. Du weißt wohl, wohin du dich wenden musst, denn die „Würzgärtlein der Apotheker“ sind dir gar wohl bekannt, und du hast schon so oft am lieblichen Duft der „Rosen“ dich gelabt, dass du gleich hineilen möchtest zu deinem Freund, um in Ihm alle Lieblichkeit, alle Wonne und Freude zu genießen. Diese Wange, die einst so erbarmungslos mit der Geißel zerfleischt wurde, die sonst so oft betaut war von Tränen des Mitleids, aber grausam mit Speichel besudelt wurde, - die Wange ist mit ihrem gnadenreichen Liebeslächeln meinem Herzen wie ein belebender Wohlgeruch. Du hast Dein Antlitz nicht verborgen vor Spott und Speichel, o Herr Jesu, und darumsoll‘s meine süßeste Wonne sein, wenn ich Dich preisen darf. Diese Wangen wurden durchfurcht von der Pflugschar des Leidens und gerötet mit rosinfarbenen Blutstreifen von Deinem dornengekrönten Scheitel herab; solche Zeichen unbegrenzter Liebe müssen unfehlbar meine Seele weit mehr entzücken, als „Rosen, die mit fließenden Myrrhen triefen.“ Kann ich nicht sein ganzes Antlitz schauen, so möchte ich doch seine Wangen sehen, denn der flüchtigste Blick auf Ihn ist überschwänglich erquickend für meinen Geist und gewährt meinem Gemüt Wonne die Fülle. In Jesu finde ich nicht nur Wohlgerüche, sondern ein ganzes Gewürzgärtlein; nicht bloß eine einzelne Blume, sondern mannigfaltige Blüten die Menge. Er ist meine Rose und meine Lilie, meines Herzens Lust und meine Traube Copher. Wenn Er bei mir ist, so ist es das ganze Jahr hindurch Maimond, und meine Seele geht hin und wäscht ihr seliges Angesicht in dem Morgentau seiner Gnade, und tröstet sich ob dem Gesang der Himmelsboten seiner Verheißungen. Teurer Herr Jesu, lass mich in Wahrheit die Seligkeit erkennen, die aus einer bleibenden, ununterbrochenen Gemeinschaft mit Dir erblüht. Ich bin ein armer Unwürdiger, dessen Wange Du mit Gnade und Güte geküsst hast! Ach, lass mich Dich wieder küssen mit den Küssen meines Mundes! „Denn Deine Liebe ist lieblicher, denn Wein.“

Hohelied 5, 16.

„Ganz lieblich: ein solcher ist mein Freund.“

Die unaussprechliche Liebenswürdigkeit und Schönheit Jesu ist allüberwindend; sie reizt nicht so sehr zur Bewunderung wie zur Liebe. Er ist mehr als schön und herrlich anzuschauen; Er ist lieblich. O gewiss, das Volk Gottes kann den Gebrauch dieses goldenen Wortes völlig rechtfertigen, denn Er ist der Gegenstand seiner heißesten Liebe, einer Liebe, die auf der tief-innersten Vortrefflichkeit seines Wesens beruht, auf der höchsten Vollkommenheit seiner reizenden Vorzüge. Schau, o Jünger Jesu, auf deines Herrn Lippen und sprich: „Ist nicht sein Mund ganz lieblich?“ Brennt nicht unser Herz in uns, wenn Er mit uns redet auf dem Wege? Die ihr meinen Immanuel anbetet, hebt euren Blick empor zu seinem Haupt, dem Haupt vom feinsten Golde, und sagt mir, ob seine Gedanken euch nicht köstlich sind? Zerschmilzt eure Verehrung nicht in Liebesseligkeit, wenn ihr euch in Demut beugt vor seiner Gestalt, einer Gestalt wie Libanon, auserwählt wie Zedern? Wogt nicht ein Zauber durch jedes Glied seines Leibes, und duftet nicht sein ganzes Wesen vom Wohlgeruch seiner edeln Salben, dass die Jungfrauen Ihn lieben müssen? Ist ein Glied seines herrlichen Leibes ohne reizende Schönheit? Ist ein Teil seiner Person, der nicht ein neuer Magnet für uns wäre? Ist eine Bewegung, deren Anmut nicht aufs neue unser Herz mit festen Seilen bände? Unsre Liebe ist nicht nur wie ein Siegel, auf sein Liebes-Herz gesetzt; es ist auch auf seinem Allmachtsarm befestigt; es ist nichts an Ihm, was uns nicht mit Liebe gegen Ihn erfüllte. Wir salben seine ganze Gestalt mit der lieblichen Narde unserer inbrünstigen Liebe. Wir möchten sein ganzes Leben in uns auswirken; sein ganzes Gemüt möchten wir in unsre Seele abschreiben. In jedem andern Wesen sehen wir irgendeinen Mangel; Er ist ganz Vollkommenheit, alles an Ihm ist Vollendung. Auch der Beste seiner vorzüglichsten Heiligen hat Flecken auf seinem Gewande und Runzeln an seiner Stirn; aber Er ist ganz Lieblichkeit, nur Lieblichkeit! Alle Sonnen der irdischen Schöpfung haben ihre Flecken; die schöne Welt selber hat ihre Wildnisse und Wüsten; wir können das liebenswürdigste Wesen wohl im ganzen lieben, aber Jesus Christus ist durchläutertes Gold, Licht ohne Dunkel, Glanz ohne Schatten, Herrlichkeit ohne Wolken, ja, „ganz lieblich: ein solcher ist mein Freund.“ „O, Du Liebe meiner Liebe!“

Hohelied 7, 11. 12.

„Komm, mein Freund, lass uns aufs Feld hinausgehen … dass wir sehen, ob der Weinstock blühe.“

O Die Braut-Gemeine hatte sich ernstliche Arbeit vorgenommen und wünschte sehnlich ihres Herrn Gesellschaft dabei. Sie spricht nicht: „Ich will gehen“, sondern: „Lass uns gehen.“ O selige Arbeit, wenn der Herr Jesus dabei zur Seite steht! Es ist die Aufgabe des Volkes Gottes, den Weinberg Gottes zu reinigen. Wie unsere ersten Eltern sind wir in den Garten des Herrn gestellt, um uns nützlich zu machen; darum lasst uns aufs Feld hinaus gehen. Beachtet wohl, dass die Gemeine Christi in all' ihren vielen Arbeiten den sehnlichen Wunsch hegt, die Gemeinschaft mit Christo zu genießen, wenn ihr Gemüt in der rechten Stimmung ist. Es bilden sich Manche ein, sie könnten Christo nicht in tätiger Weise dienen und doch Seinen Umgang genießen: das ist ein Missverständnis. Es ist freilich sehr leicht, unser inwendiges Leben in äußerlichen Andachtsübungen zu vertändeln, so dass wir zuletzt mit der Braut klagen müssen: „Man hat mich zur Hüterin der Weinberge gesetzt; aber meinen Weinberg, den ich hatte, habe ich nicht behütet;“ es ist kein Grund vorhanden, dass es wirklich so sein muss, es sei denn aus Schuld unserer eigenen Torheit und Nachlässigkeit. Aber gewiss ist, dass ein Bekenner des Evangeliums bei allem untätigen Leben eben so geistlich tot sein kann wie Einer, der sich im selbsterwählten Wirken verliert. Maria ward nicht für ihr Sitzen allein, sondern für ihr Sitzen zu Jesu Füßen gelobt. Und so verdient auch ein Christ kein Lob für die Vernachlässigung seiner Pflichten, wenn er vorwendet, er habe unsichtbare Gemeinschaft mit Jesu: nicht das Sitzen, sondern das Sitzen zu Jesu Füßen ist löblich. Glaubt nicht, dass Tätigkeit an sich etwas Unrechtes sei, sie ist ein großer Segen und ein Mitte zur Förderung in der Gnade. Paulus nannte es eine Gnade, dass er predigen dürfe; und jede christliche Tätigkeit kann für den, der sich ihr widmet, zum besonderen Segen werden. Die mit Christo im innigsten Umgang stehen, sind nicht die Einsiedler und Mönche, die viel Muße haben, sondern die unermüdlichen Arbeiter im Dienste Jesu, welche bei ihrem Tagewerk Ihn zur Seite haben, so dass sie mit Gott zusammen arbeiten. So lasset uns trachten, wie wir Alles, was wir für Jesum tun, in inniger Gemeinschaft mit Ihm vollbringen. (Goldstrahlen Mai 9)

Hohelied 7, 13.

„Allerlei edle Früchte. Mein Freund, ich habe Dir beide, heurige und fernige, behalten.“

Die Braut möchte ihrem Jesus gern alles schenken, was in ihren Kräften steht. Unser Herz trägt „allerlei edle Früchte, beides, heurige und fernige,“ und wir behalten sie auf für unsern Freund. In dieser reichen Jahreszeit der herbstlichen Ernte wollen wir acht haben auf unsre Früchte. Wir haben heurige, neue Früchte. Wir sehnen uns nach einem Gefühl neuen Lebens, neuer Freude, neuer Dankbarkeit; wir tragen Verlangen nach erneuerten Entschlüssen und möchten sie gern mit neuem Eifer und neuer Anstrengung durchführen; unser Herz erblüht in neuen Gebeten und Seufzern, und unsre Seele ermuntert sich zu neuem Wollen und Wirken. Aber auch noch etliche fernige Früchte. Vor allem unsre erste Liebe: eine köstliche, auserwählte Frucht! und unser Herr Jesus freut sich innig darüber. Dann unser erster Glaube: jener Glaube voller Einfalt, durch den wir, da wir nichts unser eigen nannten, dennoch teilhaftig wurden aller Güter. Dazu kommt unsere Freude, die wir empfanden, als sich der Herr uns zuerst offenbarte: lasst sie uns auffrischen. Wir haben unsre alten Erinnerungen an die Verheißungen. Wie treu ist doch Gott an uns gewesen! Wie hat Er uns doch in Krankheit so wohl getan! Wie hat Er uns in tiefen Fluten so gnädig getragen! Wie hat Er uns im feurigen Ofen so unverletzt bewahrt! Fernige Früchte sind‘s in der Tat! Wir haben ihrer viele, denn seiner Gnadenbezeugungen waren mehr als Haare auf unserem Haupte. Wir mussten alte Sünden bereuen, aber Er hat uns eine Reue geschenkt, dadurch wir uns einen Weg zum Kreuz geweint und das Verdienst seines Blutes erkannt haben. Aber die Hauptsache ist die: wir haben alle Früchte unserem Herrn Jesu behalten. Gewiss, das sind Ihm die angenehmsten Huldigungen, wo Jesus das einzige Ziel und Verlangen unserer Seele, und seine Ehre der alleinige lautere Zweck all unsres Strebens ist. Wir wollen unsre mancherlei Früchte zierlich ausbreiten, wenn Er zu uns kommt, und sie vor den staunenden Blicken der Menschen nicht verbergen. Herr Jesu, wir wollen den Schlüssel an der Tür unsres Gartens zudrehen, und niemand einlassen, der Dich auch nur einer einzigen Deiner Früchte berauben könnte, denn Du hast mit Deinem Blut den Boden gefeuchtet, dem sie entsprossten. Unser alles sei Dein, Dein allein, o Jesu, geliebter Freund!

Hohelied 8,6

„Liebe ist stark wie der Tod.“

Wessen Liebe kann das sein, die so stark ist wie der Überwinder aller Könige, wie der Würgengel des menschlichen Geschlechts? Klänge es nicht wie ein Spott, wenn ich den Ausdruck auf meine arme, schwache und kaum lebendige Liebe zu meinem Herrn Jesu beziehen wollte? Ich liebe ihn, und vielleicht vermöchte ich durch seine Gnade auch für ihn zu sterben; aber doch ist meine Liebe an sich selbst so schwach, dass sie kaum einen witzelnden Spott, viel weniger einen grausamen Tod zu ertragen imstande wäre. Gewiss, von meines Freundes Liebe ist hier die Rege, von der Liebe Jesu, des unvergleichlichen Liebhabers der Seelen. Seine Liebe war wahrlich stärker als der furchtbarste Tod, denn sie bestand die Trübsal des Kreuzes siegreich. Es war ein langsam martervoller Tod, aber die Liebe überdauerte die Qual; ein schmachvoller Tod, aber die Liebe überdauerte die Qual; ein schmachvoller Tod, aber die Liebe verachtete die Schande; ein Verbrecher-Tod, aber die Liebe trug die Strafe unserer Missetat; ein einsamer, hilfloser Tod, vor dem auch der himmlische Vater das Angesicht verbarg, aber die Liebe ertrug den Flucht und triumphierte über alles. Es war ein verzweiflungsvoller Kampf, aber die Liebe ertrug die Siegespalme. Wie nun, mein Herz? Regen sich nicht mächtige Gefühle in dir, wenn du solch eine himmlische Liebesmacht betrachtest? Ja, mein Herr, ich sehne mich und seufze danach, Deine Liebesflamme gleich einem Feuer in mir zu empfinden. Komm selber zu mir, und fache die Flamme meines Geistes an.

„Ach, dass ich ganz in Dank zerflösse
Von Deiner Liebe Wundergröße!“

Warum sollte ich an der Macht meines liebenden Heilandes zweifeln, der mich liebt mit seiner Liebe, stark wie der Tod? Warum nicht hoffen, auch ihm mit solcher Liebe entgegenzulodern? Er verdient es, und mich verlangt danach. Die Blutzeugen fühlten solche Liebe, und sie waren doch auch nur Fleisch und Blut wie ich. Sie trauerten über ihre Schwachheit, und mitten in Schwachheit waren sie dennoch stark. Die Gnade verlieh ihnen ihre ganze unerschütterliche Standhaftigkeit; auch mir ist gleiche Gnade zugesichert. Jesus, du Bräutigam meiner Seele, gieße solche Liebe, ja, deine Liebe über mein Herz aus, jetzt und allezeit!

Hohelied 8, 13.

„Die du wohnest in den Gärten, lass mich deine Stimme hören; die Gesellschaften merken darauf.“

Mein teurer Herr Jesus denkt wohl zurück an den Garten Gethsemane, und obgleich Er denselben verlassen hat, so weilt Er dennoch in einem Garten, in dem Garten seiner Brautgemeinde; hier offenbart Er seine ganze Liebesfülle denen, die an seiner seligen Gemeinschaft festhalten. Jene liebevolle Stimme, mit welcher Er seine Freunde anredet, klingt herrlicher als die himmlischen Harfen. Es liegt eine Innigkeit lieblichen Wohllautes in derselben, welche alle irdische Musik weit hinter sich zurücklässt. Tausendmal Tausende auf Erden und zehntausendmal Zehntausende im Himmel werden von ihren seligen Tönen entzückt. Manche, die wir wohl persönlich kennen und die wahrhaft zu beneiden sind, lauschen in diesem Augenblick der geliebten Stimme. Ach, dass doch auch ich teilhätte an dieser Freude! Zwar sind ihrer etliche arm, sehr arm, andre liegen auf dem Krankenbette, und noch andre stehen den Todespforten nahe, aber, o mein Herr, ich möchte gern mit ihnen Mangel leiden, mit ihnen stöhnen und seufzen, oder mit ihnen sterben, wenn ich nur Deine Stimme hören dürfte, mein Heiland! Einst hörte ich sie oft, aber ich habe Deinen Heiligen Geist betrübt. Kehre Dich zu mir in Barmherzigkeit, und sprich wieder zu mir: „Ich bin dein Heil.“ Keine andre Stimme vermag mich zu erquicken; ich kenne Deine Stimme und kann von keiner andern mehr berückt werden; o, lass mich sie hören, ich bitte Dich. Ich weiß nicht, was Du sagen willst, noch stelle ich irgendeine Bedingung, o mein Freund und Bräutigam, lass mich nur Dich sprechen hören, und sei es auch ein Vorwurf, so will ich Dir dafür danken. Vielleicht bedarf es, um mein schwerhöriges Ohr zu heilen, einer sehr schmerzhaften Behandlung, aber koste es auch, was es wolle, so gehe ich nicht von dem einen Verlangen ab, das mich ganz verzehrt: „Mache, dass ich Deine Stimme wieder höre. Baue die Gänge meines Ohres neu, durchbohre sie mit Deinen härtesten Worten, nur gib nicht zu, dass ich fort und fort taub bleibe gegen Deine Ermahnungen und Zurufe. Ach, gewähre doch diesen Abend Deinem unwürdigen Kinde, o Herr, dies Verlangen; denn ich bin Dein und Du hast mich mit Deinem teuren Blut erkauft. Du hast mir das Auge geöffnet, Herr, tue mir nun auch das Ohr auf.

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