Luthardt, Christoph Ernst - Das Vater Unser.

Luthardt, Christoph Ernst - Das Vater Unser.

Predigt am Sonntag Rogate über Luk. 11,1-4.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem HErrn Jesu Christo! Amen.

Der heutige Sonntag, in dem HErrn Geliebte, heißt Rogate, d. h. Bittet, betet! Er soll uns eine Erinnerung an das Gebet sein. Unter allen Sitten der Menschen ist keine, die älter wäre als das Gebet. Denn der erste Gedanke des Menschen war der Gedanke an Gott, der Zug seines Herzens war der Zug zu Gott. Sein Leben war Gebet, und dann erst Arbeit. Das soll auch unser Leben sein.

Niemand hat das Gebet erfunden, so wenig Jemand die Arbeit erfunden hat. Wie es dem Menschen natürlich ist zu arbeiten, so ist es ihm natürlich zu beten. Denn zwischen hineingestellt zwischen Gott und die Welt, steht er in Zusammenhang mit Gott, wie er in Zusammenhang mit der Welt steht. Sein Verkehr mit der Welt ist die Arbeit, sein Verkehr mit Gott ist das Gebet.

Es ist dem Menschen natürlich zu beten, wie es ihm natürlich ist zu reden. Der Vorzug des Menschen ist die Sprache, aber die Sprache der Kinder Gottes ist das Gebet. Wir sollen aber Alle Kinder Gottes sein und werden. Es ist dem Menschen natürlich zu beten. Das Kind Gottes lernt es, sobald es sprechen lernt. Es braucht nicht erst einen Unterricht über das Gebet. Es übt diese Sitte von der ersten Gewöhnung an als eine selbstverständliche, und bald wird es uns zum Mahner an diese Sitte. Die ewige Welt Gottes, zu welcher das Gebet aufsteigt, ist ihm wie eine bekannte Heimat, und fast kann man sagen: seine ersten und seine liebsten Worte sind die Gebetsworte. Und wenn der hochbetagte Greis seine Gedanken des Geistes, welche sich auf die Dinge dieser Welt beziehen, kaum mehr zu sammeln vermag und sie ihm sich verwirren oder entschwinden, so bleibt ihm doch das Wort des Gebets im Herzen und tritt ihm auf die Lippen, und wenn er alles Andere vergessen hat - die Gebete seiner Jugend wird er zuletzt vergessen. Es ist dem Menschen natürlich zu beten.

Es gibt keine ältere und es gibt keine allgemeinere Sitte auf Erden als das Gebet. Es hat nie eine Zeit auf Erden gegeben, wo man nicht betete, wie es keine Zeit auf Erden gab wo man nicht Religion hatte. Das Gebet aber ist die Seele der Religion, wie die Religion die Seele des Lebens ist. Nehmt die Religion aus dem Leben weg, so wird es seelenlos, leer und kalt. Nehmt das Gebet aus der Religion weg, so hört sie auf Religion zu sein. Alle Völker, so viele ihrer je auf Erden gewesen sind, so viele ihrer jetzt unter allen Klimaten wohnen, haben das Gebet geübt. Unter allen Himmelsstrichen, zu allen Zeiten, ohne Unterschied der Bildungsstufe, auf welcher die einzelnen Völker standen, hat man seine Hände flehend zu Gott erhoben, hat man die Knie demütig vor ihm gebeugt.

Wir rühmen die Völker der alten Welt wegen der Höhe ihrer geistigen Bildung, die sie noch jetzt zu unseren Lehrmeistern macht. Wir könnten sie ebenso gut wegen des Eifers rühmen, mit welchem sie die Sitte des Gebets übten. Das ganze öffentliche Leben, das ganze Privatleben war in viel höherem Grade als es bei uns der Fall ist vom Gebete umschlossen und getragen. Keine Staatshandlung wurde vorgenommen, keine Arbeit und kein Fest im Haus begonnen, ohne Gebet. Ist ihr Gebet auch nicht immer das richtige gewesen, so sollen wir doch wenigstens die Treue anerkennen, mit welcher sie die Sitte des Gebets übten und ihr ganzes Leben von ihr getragen und beherrscht sein ließen. Wir rühmen die großen Männer des Reiches Gottes, das Feuer ihres Geistes, die Kraft ihres Willens, die Hingebung ihres Lebens für das Eine Ziel der Ehre Gottes und der Förderung seines Reiches. Aber die Quelle ihrer Kraft und ihres brennenden Eifers war das Gebet. Es war nicht bloß die Sitte des Gebets die sie übten, sondern das Leben des Gebets das sie führten. Alle großen Männer des Reiches Gottes waren Männer des Gebets und ihr Leben ein Leben des Gebets.

Aber der Beter aller Beter und das höchste Vorbild alles Gebetslebens ist der HErr. Durch die ganze reiche Arbeit seines Lebens sehen wir überall hindurch auf den verborgenen Hintergrund seiner Seele, der dieses Arbeitsleben trug und erfüllte und das war sein Gebet. Hier in dieser geheimen Welt seiner Seele, in diesem verborgenen Verkehr seines Herzens mit dem Vater, in diesem steten Zwiegespräch seines Geistes mit Gott im Himmel hier war das Geheimnis seiner Kraft, welche jedes seiner Worte, jede seiner Handlungen erfüllte. Sind es auch nur einzelne Worte des Gebets, welche in sein Arbeitsleben mitten hineintreten, so eröffnen sie uns doch den Blick in die Tiefe seiner Seele und wir sehen deutlich: während die Kräfte seines Geistes in seinem Tagewerk zum Dienst der Menschen unermüdlich tätig waren, steht seine Seele allezeit betend vor seinem himmlischen Vater. Je und je aber zog er sich aus der Arbeit des Tages zurück in die verborgene Tiefe des Gebets zu Gott: in der Stille der Nächte, in der Öde der Wüste, auf den Höhen der Berge, in dem Schweigen der Einsamkeit. So war er für seine Jünger das lebendige Vorbild des Gebets.

Aber ein Vorbild nicht bloß, sondern auch ein Lehrer desselben. Er lehrte sie beten. Und das Gebet aller Gebete, das er sie lehrte, er der Beter über allen Betern, ist jenes hochheilige und unerschöpfliche, das wir das Vater Unser nennen. Davon handelt unser heutiger Text.

Luk. 11,1-4.
Und es begab sich, dass er war an einem Ort und betete. Und da er aufgehört hatte, sprach seiner Jünger einer zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht: Unser Vater im Himmel, dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel. Gib uns unser täglich Brot immerdar. Und vergib uns unsere Sünden, denn auch wir vergeben allen, die uns schuldig sind. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel.

Unser Text legt uns das Vater Unser zur Betrachtung vor.

Ein Gebet des HErrn war für die Jünger Anlass zur Bitte geworden, er möge sie beten lehren, wie auch Johannes der Täufer seine Jünger lehrte. Was und wie sie beten sollen, möge er sie lehren in einem Gebet, das ihnen Vorbild und Vorschrift eines rechten Gebets nach Form und Inhalt sein könnte. Und da lehrt sie der HErr das Vater Unser beten.

Es gibt kein Gebet, das man so viel gepriesen und so viel gebetet hat wie dieses. Und es gibt auch keines, das sich ihm vergleichen ließe. Es ist das Muster eines rechten Gebets. Kurz von Worten und doch so reich an Inhalt, umfasst es alles Wesentliche, was ein Christ zu beten hat. Himmel und Erde, die Höhe und die Tiefe, die Herrlichkeit Gottes und die Not des Menschen - das umschließt es Alles. Mit wenigen Schritten durchmisst es die ganze Welt der Anliegen und Bitten der Kinder Gottes. Was ein Jeder noch besonderes auf dem Herzen hat, das schließt sich leicht den Bitten dieses Gebets an. Für alle Lagen des Lebens ist es das rechte, das beste Gebet. Und für Alle gleicherweise ist es geeignet. Das Kind betet es und versteht es in seiner Weise; und so alt wir werden, haben wir doch noch daran zu lernen es recht zu beten. Wir lernen es nicht aus und können es nicht genugsam beten. Zwar, es ist wahr, was Luther sagt: es gibt keinen größeren Märtyrer auf Erden als das Vater Unser. Denn die Gedankenlosigkeit und das äußere Lippenwerk haben es viel misshandelt. Aber um so mehr sollen wir es üben, um durch Übung zu lernen, mit rechter Sammlung des Geistes dies hochheilige Gebet zu beten, welches unser Meister und HErr selbst uns gelehrt hat. Betrachten wir denn die einzelnen Worte dieses Gebets. Und der Geist des Gebets, der unsere Herzen entzünden muss, wenn wir recht beten sollen, erleuchte nun auch unsre Gedanken, indem wir es betrachten!

In zwei Hälften zerfällt es. Die ersten Worte richten unsere Gedanken in die Höhe, zu Gott. Gott soll unser erster Gedanke sein, dann erst wir. Denn wie der rechte Anfang aller Gedanken und Werke Gott ist, dass er den Eingang alles Werkes segne, so gebührt der Anfang des Gebetes selbst auch Gott. Seine Sache, seine Ehre und sein Reich ist das Oberste und soll auch das vorderste Anliegen unserer Seele sein. Von ihm aus erst führt der Weg zu uns auf Erden. Das ist der rechte Sinn der Christen. Darum erheben wir unsere Augen, Herzen und Hände zu ihm empor und beten und sprechen: Unser Vater, der du bist im Himmel.

Schöner und lieblicher könnte das Gebet nicht beginnen als mit diesem Wort und dieser Anrede an Gott: Vater! Es ist der schönste Name, den die Menschen Gott geben können, es ist der rechte Name, mit dem die Kinder Gottes ihren himmlischen Vater nennen, der Name der Kindeseinfalt wie der Name der höchsten Erkenntnis des göttlichen Wesens. Denn das heißt Gott recht erkennen, ihn als unseren Vater zu erkennen. Das ist die Erkenntnis, die wir Christo verdanken: mein Vater, euer Vater. Denn nicht bloß wie Gott aller Menschen Vater ist, weil er aller Menschen Schöpfer und Erhalter ist, nennen wir ihn so, sondern wie er in Christo unser Vater geworden ist, weil wir in Christo seine Kinder geworden sind. Wenn die Welt vor Christo es wagte, mit ihren Gedanken über die Vielheit der Götter sich aufzuschwingen zu dem Einen göttlichen Wesen, das über allen Himmeln thront, so ist es der unendliche Geist etwa den sie denkt, oder die allmächtige Gewalt die sie scheuvoll verehrt. Aber, dass hoch über dem Sternenzelt nicht bloß die Macht throne, sondern die ewige Liebe walte, die auf das Geringe und Einzelne sieht, wie sie das Ganze regiert und ein jedes ihrer Menschenkinder auf liebendem Herzen trägt und sein ewiges Heil will - das wissen erst wir, die wir in Jesu Christo das ewige Erbarmen schauen und finden gelernt haben, das alle Menschen zu seligen Gotteskindern machen will. Und in fröhlichem Glauben an diese ewige Vatertreue nahen wir ihm und seinem Thron, und schließen uns mit dem ganzen Volke Gottes und allen seinen Kindern und Erlösten im Himmel und auf Erden zusammen in Eins und sprechen im Einklang der Herzen und Gedanken: Unser Vater!

Unser Vater der du bist im Himmel. Denn wo Er ist, da ist der Himmel, d. h. das göttliche Heiligtum, wo die Anbetung herrscht und die heilige Stille der Verehrung, und von wo die Gedanken der Liebe ausgehen in die Welt, um auf den Flügeln der Allmacht die Welt zu durchziehen und ihr Werk zu vollbringen auf Erden. Und ihr Werk das sie tun, ist Hilfe und Heil. Zu diesem Werke dient seine Allmacht der Liebe. Denn der auf dem Thron des Himmels sitzt ist die ewige Liebe, aber in den Händen hält die Liebe die Macht. Dass er der Vater ist, macht uns gewiss, dass er helfen will; dass er im Himmel wohnt, macht uns gewiss, dass er helfen kann. So erheben wir denn Herzen und Hände zu ihm empor, der mit seiner Hilfe uns allezeit nahe ist, beten und sprechen: Unser Vater der du bist im Himmel.

Dein Name werde geheiligt. Das ist das erste Wort der Bitte das wir an ihn richten. Nicht für uns bitten wir zunächst, sondern für ihn selbst und für seine Ehre: dass ihm die Ehre auch werde die ihm gebührt.

Wenn die seligen Geister sich vor ihm beugen und ihn preisen, so sprechen sie: heilig, heilig, heilig ist der HErr Gott Zebaoth - das ist der Ruf der himmlischen Heerscharen, die um den Thron des Heiligen stehen. Und alle Kreaturen geben Ehre dem der sie geschaffen hat und regiert. Und wenn wir Menschen betend seinem Throne nahen, so beugen wir unser Antlitz vor ihm und alle unsere Gedanken neigen sich vor ihm und sprechen: heilig! Das ist das erste Wort des Gebets, das wir zu dem empor senden, der in der Höhe thront: heilig. Dem Alles Ehre gibt im Himmel und auf Erden, dem soll auch unsere Seele Ehre geben und unser Leben. Denn ein Gebet nicht bloß unserer Gedanken soll es sein, sondern unseres Lebens, unseres ganzen Lebens. Was hier auf Erden die Gestalt der Werke hat und der mannigfaltigen Arbeit, das soll in seinem Heiligtum zum Worte werden das ihn verherrlicht, und dieses Wort heißt: heilig! Das ist die Ehre die er sucht, von seinen Menschenkindern auf Erden sucht, dass wir ihm Ehre geben der da heilig ist: geheiligt werde dein Name!

Welches ist dieser Name Gottes? Viele Namen hat Gott. Wer will ihn würdig benennen? Sein ewiges Wesen und seine ewige Majestät - wer kennt sie und wer will sie mit Worten der Menschen aussprechen? Aber in seiner Offenbarung ist er uns kund geworden. Hier fassen und erkennen und nennen wir ihn. Wie werden wir ihn richtig nennen? Wenn Israel ihn nennen wollte, so sprach es: HErr ist sein Name. Jesus hat uns gelehrt ihn Vater zu nennen. Denn das ist die Offenbarung über alle Offenbarung. Das ist die Offenbarung seines Herzens. Wenn der Apostel Johannes die ganze Offenbarung zusammenfassen will in Ein Wort, so spricht er: Gott ist die Liebe, das heißt: er ist unser Vater geworden in Jesu Christo und hat uns in ihm zu seinen Kindern gemacht. Dies ist der Name, den wir heiligen sollen.

Wie heiligen wir ihn? Wenn wir ihm die Vaterehre geben, die ihm gebührt, von uns, seinen Kindern, gebührt. Es ist die Kindesliebe, die wir ihm schulden, im Dank unseres Herzens, im Lob des Mundes, im heiligen Gehorsam des Wandels. Lasst uns ihn lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Das ist die schönste Weise seinen Namen zu heiligen.

Und das ist der Weg wie sein Reich sich gründet auf Erden. Darum fahren wir fort im Gebete zu sprechen: Zu uns komme dein Reich!

Gottes Reich ist seine Herrschaft, worin er als König regiert. Wo ist dieses Reich?

Wohl, er herrscht über Himmel und Erde, und alle Räume und Zeiten umschließt seine Macht. Aber höher als dies Reich der Macht steht ihm das Reich der Gnade, in welchem seine Liebe regiert und sein ewiger Rat der Erlösung und Beseligung der Menschen sich vollzieht. Dieses Reich ist Gottes ewiger und erster Gedanke, denn dieses Reich ist das Ziel aller seiner Wege. Denn er hat die Welt nur gewollt und geschaffen, weil er dies Reich der Seligkeit wollte. Und die ganze Geschichte seiner Offenbarung ist die fortschreitende Verwirklichung dieses Reiches. In Jesu Christo aber ist es auf die Erde gekommen, und durch das Wort des Evangeliums breitet es sich aus. Nicht von der Erde stammt es, und nicht mit irdischen Mitteln ist es gegründet. Seine Gründe liegen im Herzen der ewigen Gnade, und seine Macht ist der Heilige Geist und sein Wort. Die Reiche der äußeren Gewalt zwar scheinen ihm keinen Raum übrig zu lassen auf Erden, denn sie haben sich in die ganze Erde geteilt, und wer ein Auge hat nur für das, was die Sinne wahrnehmen und schauen, sieht nichts von ihm; denn es ist ein Reich des Geistes. Aber hoch über allen irdischen Reichen schwebt dieses Reich, und tiefer als bei allen anderen sind seine Gründe eingesenkt. Dahin wohin keine irdische Gewalt reicht, erstreckt sich seine Macht, nämlich in die Herzen der Menschen, und wenn die Zeit der Reiche der Welt zu Ende geht, wird die Zeit des Reiches Gottes erst recht kommen. Denn ihm gehört die Zukunft der Welt, wie ihm die Herzen der Menschen gehören. Auch unsere Herzen. Und wenn wir beten: dein Reich komme, so bitten wir, dass es auch zu uns komme in unsere Herzen, dass hier Gott seine Herrschaft übe und König sei. „Mein Herz sei dir ein Königreich.“ Geliebte, ist es das? Ist Gott der, welcher allein regiert in unseren Herzen? Muss er dieses Reich unserer Seele nicht allzusehr teilen mit der Welt und ihrer Sünde und mit uns selbst? Und wünschen wir es wirklich, dass es nicht so sein möge, sondern, dass Gott allein in uns regiere? Wohl, in unseren besseren Stunden, da wünschen und verlangen wir es ernstlich. Wenn es unsere Seele mit Schmerz und mit Sehnsucht ergreift, da zieht es uns hin zu Ihm: „Dich alleine ich nur meine, dein erkaufter Erb ich bin“. Aber wie oft haben wir solche Stunden? Das ist unsere Klage, dass wir das nicht wahrhaft und nicht immer wollen, was wir doch im Grunde der Seele wollen. Wann kommt die Zeit, dass wir ganz seinem Dienst allein uns weihen? Deshalb lasst uns beten: Zu uns komme dein Reich! Denn ihm gehören unsere Herzen.

Und ihm gehört die Zukunft. Jetzt herrscht die Sünde auf Erden, auch in der Christenheit, und die Finsternis unter den Völkern der Heidenwelt. Und doch soll Gott allein König sein auf Erden. So lasst uns helfen, dass sein Reich zu Allen komme, auch zu denen die noch ferne sind vom Reich Gottes, wie zu denen die vor seiner Pforte stehen, damit der seligen Zukunft die Wege gebahnt werden, wo seine Gnade triumphieren und die ganze Erde zum Reich Gottes wandeln wird, in welcher nicht mehr der gottesfeindliche Wille, sondern allein der Wille seiner Heiligkeit herrschen und wo sich erfüllen wird was wir weiter beten:

Dein Wille geschehe wie im Himmel, also auch auf Erden. Denn droben zwar im Himmel, da dienen ihm seine himmlischen Heerscharen und vollziehen die dienstbaren Geister seinen Willen mit fröhlichem Gehorsam. Aber auf Erden hat Gott ein widerstrebendes und ungehorsames Volk. Seit jenem ersten Ungehorsam des Ersten unseres Geschlechts ist Widerstreben und Ungehorsam gegen Gott uns Allen zur anderen Natur geworden. So sehr ist es uns in Fleisch und Blut übergegangen. Und sind wir nicht ebenso ihm im willigen Gehorsam zu dienen berufen wie die hohen Geister seines himmlischen Dienstes? Und hat uns unser Ungehorsam nicht ins Elend gebracht? Wir dachten die Freiheit zu erwählen auf dem Wege des Ungehorsams und haben die Knechtschaft gefunden. Ist das nicht die Geschichte die sich stets wiederholt?

Man übertritt das Gebot, weil es eine Schranke der Freiheit scheint, und macht es sich dadurch erst recht zur Schranke. Denn vom Gesetze werden wir doch nicht frei. Ob wir es erfüllen oder nicht erfüllen es bleibt doch stets der Wille Gottes über uns. Wenn wir ihm widerstreben, machen wir uns nur zu Knechten des Gesetzes die unter ihm stehen. Frei werden wir nur, wenn wir es aufnehmen in unseren Willen und unseren Willen mit ihm zur Einheit zusammenschließen, so, dass es unser Wille selbst und das innere Gesetz unseres eigenen Wesens wird, so, dass unser Denken und Wollen und unser ganzes Wesen sich in ihm bewegt als in seiner eigenen Heimat. Gehorsam ist Freiheit, und Ungehorsam Knechtschaft. Sind wir nicht Alle Knechte der Sünde geworden durch den Ungehorsam der Sünde? Denn mit stärkeren Banden als unser Wille ist, hält uns die Sünde in der sündigen Neigung unseres Herzens gebunden. Und so stark auch die Kraft unseres Willens sein mag, und so groß der Zwang, den wir uns selbst antun - die Macht der sündigen Neigung selbst überwinden wir doch nicht mit allem unseren Willen. Tief im Herzen zwar sitzt uns die Erinnerung an den heiligen Willen Gottes, aber der Wille, der uns regiert, ist nicht eins mit dem Willen Gottes, und aus diesem Zwiespalt der Seele wird die Klage geboren und der Ruf nach der Befreiung. Dann werden wir frei, wenn der Geist des Gehorsams unsere Herzen erneuert, der von Christo ausgeht. Denn Einer nur war in der Welt der Sünder, welcher dem Ungehorsam unseres Geschlechts den unverbrüchlichen Gehorsam seines heiligen Willens entgegensetzte, Jesus Christus. Mit ihm hat eine Geschichte des Gehorsams begonnen und ein Reich des Gehorsams, in welchem der heilige Wille Gottes in freier Liebe geschieht - geschieht von Allen die seines Geistes Kinder sind. So helfe uns denn Gott durch seinen Geist, dass auch bei uns zur Wahrheit werde, was wir beten: Dein Wille geschehe wie im Himmel, also auch auf Erden, auch von uns.

Wie im Himmel, also auch auf Erden. Damit steigen unsere Gedanken unwillkürlich hernieder zu uns und versenken sich in die Betrachtung der irdischen Not. Zuerst verweilen sie in der Betrachtung der seligen Zukunft, wo Gottes Ehre herrscht und sein Reich triumphiert und sein Wille fröhlichen Gehorsam findet. Aber wie viel fehlt an diesem seligen Stande der Dinge auf Erden! Wo wir hinblicken - Not ringsum und Bedürftigkeit. Und so schön sich die Erde auch schmücken mag im Frühling oder im Sommer - aller dieser Schmuck der Erde vermag die Not nicht zu bedecken und das mannigfaltige Leid. Und so weit die Menschheit fortschreiten mag - kein Fortschritt wird die Klage verstummen und der Not auf Erden ein Ende machen. So weit die Erinnerung unseres Geschlechtes zurückreicht bis in die älteste Zeit, so weit ist es eine Erinnerung an Leid und ein Gedächtnis der mannigfaltigen Not, von welcher, so lange Menschen auf Erden leben, die Klage ohne Ende von der Erde zum Himmel aufstieg.

Das Nächste aber was unserem Blick sich darbietet, wenn wir ihn rings umhergehen lassen, ist das leibliche Bedürfnis: unser täglich Brot gib uns heute; gib uns unser täglich Brot immerdar. Denn wie die Schöpfung der Boden ist für die Erlösung, so ist das leibliche Leben die Grundlage des geistlichen, und wer in Hunger und Kummer leiblich verkommt, dem wird auch das Herz leicht unempfänglich für die geistliche Speise der Seele; hinwiederum wer im Überfluss schwelgt oder wessen Gedanken sich völlig an Geld und Gut verlieren, dessen Seele hat bald keinen Raum mehr für das Wort der Gnade. Darum ists genug, aber auch das Nötige, dass wir unser täglich Brot haben, Tag für Tag, so lange Gott uns und den Unsern zu leben bestimmt hat.

Es ist eine Freundlichkeit unseres HErrn, dass er auch diese Bitte mit aufgenommen hat in das Vater Unser. Es wäre eine falsche Geistlichkeit, wenn wir dieses leiblichen Bedürfnisses uns vor Gott schämen und denken und tun wollten, als ob wir kein Bedürfnis dieses leiblichen Lebens hätten. So lange wir auf Erden leben, im Leibe leben, so lange fühlen wir auch die leibliche Not dieses Lebens, und sollen unser Herz von seinen Sorgen dadurch befreien, dass wir alle Sorgen dem übergeben der für uns sorgt. Und wer keine Sorgen der Nahrung für sich selber kennt, der hat doch Mitgenossen des irdischen Lebens genug, welche in solchen Sorgen einhergehen. Darum beten wir auch nicht: mein, sondern unser täglich Brot gib uns heute und immerdar. Und ganz ohne Not ist keiner. Denn kein Leben ist ohne Leid, und kein Leben ist ohne Bedürftigkeit. Wir leben nicht bloß vom Brot, auch irdisch und leiblich nicht bloß von Brot, sondern von alle dem was zum Leben auf Erden gehört, zu einem stillen und friedlichen Leben in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit: vom Frieden der Völker an bis zum guten Wetter herab, und von Fürst und Obrigkeit bis zu getreuen Freunden und Nachbarn. Es soll keiner denken, dass er des Alles nicht bedürfe und, dass er der Hilfe und Teilnahme der Menschen entbehren könne. Dies ganze weite Gebiet irdischer Bedürftigkeit überschaut unsere Bitte, wenn wir wider alle Not der Erde beten und sprechen: gib uns unser täglich Brot immerdar.

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. So fahren wir fort. Was wir brauchen möge Gott uns geben, die Schuld, die wir haben vergeben. Eine Bitte gilt dem leiblichen Leben, die übrigen alle dem geistlichen Leben. Denn höher als das leibliche Bedürfnis steht das geistliche Bedürfnis der Seele. Von Allem aber was unsere Seele bedarf, ist die Vergebung das nötigste. Denn von Allem was unsere Seele drückt, ist unsere Schuld das Schwerste. Und ehe wir das Werk der Besserung beginnen, und ehe wir Werke der Liebe tun können, müssen wir zuerst ein freies und fröhliches Gewissen haben und der Vergebung unseres Gottes gewiss sein. Wir brauchen Alle diese Vergebung. Einer allein unter allen Menschen hatte nicht nötig dieses Gebet zu beten Er, der Versöhner für unsere Sünden, Er allein - wir anderen Alle brauchen Vergebung, Vergebung von Gott. Denn alle unsere Sünden, wie mannigfaltig sie seien und gegen wen sie auch gehen mögen, sind alle doch im letzten Grund Sünden gegen Gott. „An dir allein habe ich gesündigt.“ Nur Er kann uns vergeben. Auch die verborgenen Fehler, auch die von denen wir nichts wissen. Denn viel weiter als unser Wissen reicht unsere Sünde, bis in den tiefsten Grund unseres Wesens. Wider alle diese Sünde gibt es für uns Alle nur Einen Weg der Rettung, das ist der Weg der Vergebung und der demütigen Bitte: Vater, verzeih! Viel mehr als jener falsche Stolz, der seine Sünden zu bekennen sich scheut, ehrt und ziemt uns der aufrichtige Sinn, der vor Gott unserem Vater sich demütig beugt. Das war der Weg der Rettung für den verlorenen Sohn: Vater, vergib! Und das ist der Weg der Rettung auch für uns. Denn uns Alle meint der HErr in seinem Gleichnis vom verlorenen Sohn. Dieser Sohn des Elends - das sind wir. So seien wir auch Kinder der Buße und der Errettung! Und wie bei jenem, so hat auch bei uns die Vergebung keine Bedingung, keine Bedingung guter Werke, sondern nur den demütigen Sinn, dessen Probe die eigene Versöhnlichkeit ist. Freilich wem diese fehlt, dem fehlt dann gewiss auch die Demut die sich wahrhaft vor Gott dem Heiligen beugt. In diesem Sinne fügen wir diese Bedingung ausdrücklich hinzu zu unserer Bitte, als den Ausdruck unseres aufrichtig demütigen Sinns.

Aber nicht bloß Vergebung der vorhandenen Schuld haben wir nötig, sondern auch Bewahrung vor neuer Schuld: führe uns nicht in Versuchung.

Denn wenn auch die Schuld der Sünde vergeben ist, so ist doch die Sünde selbst noch da und eine Macht in uns, und macht Fleisch und Welt uns versuchungsvoll, und gibt dem Versucher Anlass uns zu versuchen.

Zwar die Prüfungen können uns nicht erspart werden, und die Bewährung des Glaubens in den mannigfaltigen Proben, auf welche Leid und Freud des Lebens uns stellt, kann Gott nicht ablassen zu fordern, und aus der Welt können wir nicht hinausgehen und sollen es nicht. Aber das bitten wir und dürfen wir bitten, im Gefühl der Schwachheit unseres Fleisches, dass es Gott gnädig machen möge und leicht und uns nicht verlassen möge, dass unsere Seele nicht in Anfechtung gerate und in Gefahr und wir zu Fall kommen, nachdem wir angefangen haben unsere Seele zu erretten. Denn trauriger ist nichts als das, wenn ein Christ, der den Geist der Gnade empfangen und an welchem Gott das gute Werk des Heils begonnen, nachlässt in der Wachsamkeit und in der Treue des Kampfs und der Arbeit und schwach wird und weichlich gegen sich selbst und sich verstricken lässt in die Netze, welche die sündigen Gedanken unseres Herzens und die mannigfaltigen Bilder unseres Geistes und die allezeit regen Gelüste unseres Fleisches um uns spinnen und schlingen - und fällt. Wenn es heißt, dass Freude sei im Himmel über einen Sünder der Buße tut, sollte nicht auch Klage sein im Himmel über einen Erlösten der verloren geht? Und wer will sagen, dass er sicher sei? Wohl, der Gnade Gottes dürfen wir sicher sein, aber unserer selbst sollen wir stets unsicher sein, und sollen nicht ablassen mit heiligem Ernst stets zu arbeiten an uns selbst und unserer Heiligung, ohne welche Niemand den HErrn sehen wird (Hebr. 12,14).

Darum lasst uns stets anhalten am Wort und am Gebet und nicht aufhören zu bitten und zu beten wider die Versuchung, so lange wir auf Erden und im Fleische leben - bis wir erlöst werden von aller Not und Gefahr dieses Lebens.

Und dies ist der letzte Ruf, mit dem wir schließen: Erlöse uns von allem Übel, von Sünde und Tod und von der Gewalt des Teufels.

Um Erlösung hat der HErr gebetet - wie sollten wir nicht darum beten? Das ist das stete Gebet der Kirche Jesu Christi auf Erden, das Gebet um Erlösung, bis er einst selbst kommen wird ihr Erlöser: komm, HErr Jesu! Das ist auch unser Gebet, so lange wir leben: „Mach End', o HErr, mach Ende mit aller unserer Not!“ Er wird ein Ende machen. „Und ob es währt bis in die Nacht Und wieder an den Morgen, Doch soll mein Herz an Gottes Macht Verzweifeln nicht noch sorgen“. Einst wird er ja kommen der Tag der endlichen Erlösung, und das Wort der Verheißung sich erfüllen: Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerzen wird mehr sein. Denn das Erste ist vergangen. Siehe, er macht Alles neu! (Offb. Joh. 21, 4. 5). Amen.

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