Löhe, Wilhelm - Vaterunser - Matth. 6, 9. - Unser Vater, der du bist im Himmel!

Löhe, Wilhelm - Vaterunser - Matth. 6, 9. - Unser Vater, der du bist im Himmel!

Es ist der Wille Gottes, daß wir zu Ihm beten. Das erkennen wir aus so manchem ernstlichen Befehl in Seinem Worte, — wenn Er spricht: „Bittet, so wird euch gegeben!“ „Haltet an am Gebet!“ „Betet ohne Unterlaß!“ Das erkennen wir aber auch insbesondere daran, daß der liebe HErr uns durch Seinen eigenen Sohn beten gelehrt, uns durch Ihn sogar die Worte, welche ER gerne hört, in den Mund gelegt, - uns im Vater-unser ein Gebet geschenkt hat, welches, aus dem Himmel stammend, auch der beste Himmelswagen seyn muß, uns zu Gott hinaufzuführen und die Erhörung unsrer Bitten von Ihm einzuholen. - Es sind nicht viele Worte im Vater-unser: das kürzeste Gedächtniß kann es behalten, auch die jungen Kinder können es lernen und an demselben ihre Stimmen in der Anrufung Gottes üben. Es sind nicht viele Worte: denn der HErr nach Seiner Allwissenheit und Weisheit vermochte es, alle Ihm wohlgefälligen und erhörlichen Wünsche und Bitten der Menschen in wenige Worte zusammenzufassen. Es sind nicht viele Worte: denn der Mensch, vor der höchsten Majestät des himmlischen Vaters stehend, soll nicht viel Worte machen; es gilt, was Pred. 5, 1. geschrieben ist, auch hier: „Gott ist im Himmel, und du bist auf Erden; darum laß deiner Worte wenig seyn!“ Es sind wenig Worte, aber Worte, mit göttlicher Erkenntniß aus der Tiefe geheiligter, betender Seelen hervorgeholt, - und doch nach dem Herzen der Einfältigen; denn Gott ist auch ein Meister, den verborgnen Rath und das geheime Sehnen der Herzen in einfältigen Worten zu offenbaren! Ja, einfältig sind die Worte des Vater-unsers; dennoch aber hat kein Mann in Christo es jemals ausgebetet, kein Prediger es ausgeredet oder nach dem vollen Sinn erklärt. Es ist tiefer, weder kein Meer. Ausschöpfen können wir dieses Meer nicht; aber es ist süßen, lebendigen Wassers voll, - aus seiner Fülle schöpfen und unsre armen Seelen sättigen können, dürfen, sollen wir. Sammelt euch her an's Ufer dieser Gnadenfülle! Ich will hingehen und schöpfen für euch und für mich, damit wir mit einander satt, mit einander erfreut werden über den HErrn, der Lebenswasser über die Durstigen gießt! - Gelobt sey der HErr! zu Seinem Preise schöpfe ich! Ja, gelobt sey der HErr! -

Im ersten Artikel unsers Glaubens bekennen wir: „Ich glaube an Gott Vater“ - Im Glaubensbekenntnisse aber hat der Vatername einen andern Grund, als im Vater-unser. Dort denken wir an die erste Person der heil. Dreieinigkeit, - wir nennen Gott Vater, weil ER einen Sohn hat, welcher mit Ihm Eines Wesens und selber Gott ist, welcher von der heil. Kirche im zweiten Artikel unter Anbetung gleichermaßen, wie der Vater, bekannt wird. Wenn wir anfangen zu bekennen: „Ich glaube an Gott Vater“, setzt unser Herz dazu: „an den Vater unsers Herrn JEsu Christi, welcher ist Gott, hochgelobt in Ewigkeit!“ - Anders hier, im Vater-unser. Hier nennen wir Gott mit dem Vaternamen nicht, weil ER Einen eingeborenen Sohn hat; sondern weil wir selbst uns als Seine Kinder erkennen, - weil wir durch den Einzigen, durch das geliebte, für uns am Kreuze geopferte, für uns auferweckte Kind, durch JEsum Christum, selbst wieder in Seine Kindschaft aufgenommen sind, - weil wir Seines Geschlechtes geworden sind durch Seinen Geist, weil wir Ihn nach Seinem Wort als den Vater unsers neuen Lebens betrachten.

Ist das richtig, so ist die Antwort leicht, wenn gefragt wird: Wer darf beten: Unser Vater!? Werden alle Gott ihren Vater nennen dürfen? wird ER das leiden, der heilige und fromme Gott? Wird der Mensch, welcher sich in Sünden, ja über Sünden freut, welcher keine Reue, keine Sehnsucht nach Vergebung, keine Sehnsucht, kein Gebet um Erlösung von der Gewalt der Sünde im Herzen trägt, - wird der abgefallene, der verlorene Sohn, der Feind Gottes, welcher den ewigen Sohn nicht ehrt und wider das Evangelium eifert, - wird der Flucher, welcher den allerheiligsten Namen unbesonnen oder gar mit Besonnenheit mißbraucht, - wird der Vater, welcher seine Kinder nicht in Zucht und Vermahnung zu dem HErrn aufzieht, sondern gleichsam seine Ehre und seine Freude darein setzt, sie selber von dem Weg des HErrn auf den Weg des Verderbens zu verführen, - wird der Sohn, der seinen Vater verspottet und verachtet, seiner Mutter zu gehorchen: - wird er sich erkühnen, vor den heiligen, um Seine Ehre eifernden Gott hintreten und Ihn anrufen dürfen: „Abba! Vater!“? - Nein! ist die Antwort: nein, er thue es ja nicht, er darf nicht: er würde Gott lästern; denn Gott ist der Sünder Vater nicht, welche in ihren Sünden ohne Reue, frech und lustig beharren! Irret euch nicht! ER läßt sich nicht spotten. ER ruft, daß die Erde und alle Herzen auf Erden beben sollten: „Ich, der HErr, dein Gott, bin ein starker, eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Misse, that an den Kindern, bis in's dritte und vierte Glied, die mich hassen!“ Unser Gott ist ein verzehrend Feuer; Seine Widerwärtigen sollen schweigen von Ihm und vor Ihm! Sie sollen Ihn ja nicht Vater nennen! Die Kinder dieser Welt sind Seine Kinder nicht, wenn sie Ihm gleich frevelnd und übermüthiger Weise die Schande anthun, Ihn also zu nennen. Ein Sohn soll seinen Vater ehren. Ist nun Gott ein Vater der Kinder dieser Welt: wo bleibt denn Seine Ehre? Sie wollen Ihn nicht mehr ehren und gleichwohl zu Ihm rufen: „Lieber Vater, Du Meister meiner Jugend!“ „Ich bin Israel's Vater“ spricht der HErr. Israel des Neuen Bundes aber ist nicht ein Volk, welches sich dieser Welt gleichstellt! Israel hat mit Gott und Menschen gekämpft und ist obgelegen, - Israel's Seele ist genesen von Sünd' und Welt. - Israel hat einen neuen Namen empfangen, einen Namen der Kindschaft: nur Israel darf beten: „Abba“, lieber Vater!„

Wohl möglich, liebe Seelen, daß ihr bisher es nicht für so gefährlich gehalten habt, „Vater unser“ zu beten. Vielleicht zagt nun Einer oder der Andere unter euch, und wagt es nicht, den HErren Vater zu nennen. Aber wohl, wohl dem, welcher noch bei Zeiten in solche Überlegungen, Zweifel und Kämpfe geräth! - wenn er nur den HErrn nicht läßt, bis auch sein Gericht und Kampf zum Siege ausgeschlagen, bis auch er, mit dem Geist der Kindschaft gesegnet, freudenvoll Gottes Vaternamen anrufen darf und anruft! - Und dann, meine Theuern, ist es ja ganz eine andre Frage: wer darf beten „Vater unser!“ und ganz eine andre: wer soll es? wer soll diese Erlaubniß empfangen? Auf die erste Frage muß jene strenge, enge, scharfe Antwort folgen; auf die zweite aber ist sie sanft und weit und lautet: Alle Menschen sollen diese Erlaubniß empfangen, alle dahin kommen, den großen Gott im Himmel als Vater anzurufen! denn alle sollen sie in Christo Jesu Seine Kinder werden, alle den Geist Seines Sohnes empfangen und in demselben schreien: Abba, lieber Vater!

Ist denn der Sohn allein für die heil. Apostel gestorben, daß etwa sie alleine Gottes Kinder werden und Ihn Vater nennen dürften? Ist ER nicht für Alle gestorben nach der Schrift? Sollten also nicht alle Gottes Kinder werden? nicht Alle beten: Vater, lieber Vater!? Ach! ER legt der ganzen Welt den Vaternamen gleichsam auf die Lippen und nennt nach Seinem vollbrachten Leiden Seinen Vater auch ihren Vater. ER möchte alle Menschen, welche in die Welt kommen, locken, daß sie glauben sollten, Gott sey ihr Vater, und zwar ihr rechter Vater, welcher ihnen gerne für Leib und Seele ein ewiges Leben schenken will! ER hätte keine größere Freude, als wenn alle verlorene Kinder, satt der Träberweide dieser Welt, Muth gewännen, getrost, mit aller Zuversicht den Herrn zu bitten, wie die lieben Kinder auf Erden ihre lieben irdischen Väter bitten! Das wäre seines Herzens Wonne, wenn Er, an der Spitze der ganzen Menschheit, für welche Er Sein Leben in den Tod gab, vor den Vater treten und sprechen dürfte: „Hier bringe ich Dir alle Deine Kinder wieder, und ist ihrer keines verloren!“ Wie gerne nähme der himmlische Vater alle auf, wenn sie wiederkehren wollten an Seines Sohnes Hand, nähme sie auf in die Schaar Seiner Kinder, in Seinen Hausfrieden und zu den Tischen Seiner ewigen Freude! Wie gerne spräche Er zu ihren Gebeten Ja und Amen! - Aber ach! die armen Leute wollen nicht! Viel lieber ist den meisten die Finsterniß, als das Licht, - sie mögen ihre Mutter, die Welt, nicht verlassen, auf daß sie den HErrn im Himmel zum Vater gewännen, - nicht die Kinder der Welt, ihre Brüder, auf daß sie durch Gottes einiges Kind, als durch einen treuen Bruder, zum Vater im Himmel kämen; darum kann der Sohn nicht sprechen: „Vater, ich bringe Dir alle Deine Kinder wieder!“ Er kann nur sprechen: „Hie bin ich und die Kinder, die Du mir gegeben hast.“ Er kann sagen: „Ich habe ihrer keines verloren,“ aber Er muß hinzusetzen: „Keines, als das verlorne Kind, - als die verlornen Kinder!“

O meine Lieben, euch mein' ich, die ihr nicht mit Recht euch Gottes Kinder nennen könnet, weil ihr noch Kinder dieser Welt seyd! die ihr aber spüret, daß eure Seelen mitten in der Welt darben und hungern, - die ihr euch leer, ohne Frieden und wahre Freude erkennet! Wollet ihr nicht Gottes Kinder werden, da Gottes Kinder alles Friedens, oft seliger Freude und Gottes voll sind? Giebt es einen Namen, welcher für euch lieblicher, zutrauenerweckender, lockender seyn könnte, als der Vatername, mit welchem sich euch der HErr zu allen Gnaden erbietet? Wenn Er sich euern Richter nennete, möchtet ihr erschrecken, die ihr gleich mir Sünder seyd, dann möchtet ihr vor Ihm fliehen, wie Israel am Sinai! Aber ER nennt sich euern Vater; um sich also nennen zu können, gab ER den einzigen, geliebten Sohn für euch dahin! Seht an's Kreuz, seht Gottes Sohn zum verachteten Wurm geworden, schauet den Preis, um welchen sich euch Gott zu Kindern erkauft hat! Seht, beim Abendmahle, läßt ER Seines Sohnes Leib euch zum Pfande reichen, daß ER euch zu Kindern anzunehmen bereit ist! Und im Kelche ist das Blut, das Blut eures Bruders Abels, das für euch um Gnade und um die Kindschaft Gottes schreit! - O wollet ihr die Kindschaft nicht annehmen, nicht Gott zum Vater? Sinkt doch nieder! Zögert nicht mehr! Weinet lieber, daß ihr so lange ausgeblieben seyd, bis ihr zu Ihm kamet! Hebet eure Augen, eure Herzen gläubig wieder auf zu Gott, der euch so sehr geliebt hat, - öffnet eure Lippen, wagt es, nennt Ihn versöhnt zum ersten Male wieder, getrost, mit Zuversicht: „Unser Vater!“ So freut sich kein Vater auf Erden, wenn ihm sein Sohn zum ersten Male den Vaternamen stammelt, wie sich der Vater im Himmel über Sünder freut, die es in JEsu wagen, Ihn ihren Vater zu nennen. Brüder! O höret mich! Jetzt im Geiste schicket eure Seele einmüthig vor Gottes Thron, - macht Ihm, macht euch die Freude, sprechet ein gläubiges: „Vater Unser!“ Welch' eine Seligkeit wäre das, wenn ihr es gläubig, einmüthig sprechen könntet! Wie würde da die Bruderliebe in euch lodern! wie die Herzen gegen“ einander wallen! Eines Bruders Auge würde da den andern anleuchten- eines zum andern zu sprechen scheinen: „Wir haben unsern Vater funden!“ das wäre eine Freude unter Brüdern! Und der Vater würde väterlich milde vom Himmel schauen! als wollte er voll seligen Wohlgefallens sagen: „Meine Kinder, seyd ihr heimgekehrt?“

Bereits merkt ihr wohl schon, theure Seelen, eine Lieblichkeit davon, daß uns JEsus nicht beten heißt: „Mein Vater!“ sondern: „Unser Vater!“ Lasset mich aber bei diesem Wörtlein unser etwas verweilen! - Wenn ein Mensch in seine Kammer geht und die Thür hinter sich schließt, daß ihn Niemand sehen kann, - wenn er dann im Geiste einen Besuch im Vaterhause dort oben macht, um den Vater im Geiste und in der Wahrheit anzubeten; so kehrt in diesem Kämmerlein allerdings das Auge, welches in's Verborgene sieht, mit tausend Freuden und Blicken des Wohlgefallens ein. Denn Seine stillen Beter liebt der HErr. Aber so gerne ER sie alleine beten hört und sieht, will er doch nicht haben, daß sie, dem Leibe nach alleine in der Kammer, sich auch im Geiste allein und abgeschieden von allen andern Betern dünken. Wer seine Kniee beugt, soll wissen, daß er in Gemeinschaft der ganzen auf der Erde seufzenden und streitenden, und in der Gemeinschaft der im Himmel lobsingenden und triumphierenden Kirche ist. Wenn er niederfällt, soll er also zu sich sprechen: Mit dir beten viele bedrängte Seelen hie und da auf dem Erdboden zerstreut; mit dir seufzen viele um Erlösung; mancher, von der Todesangst gepreßt, löst jetzt seinen letzten Seufzer vom bangen Herzen, mancher seinen ersten Freudenseufzer aus erlöster Seele beim Eintritt in die ewige Seligkeit; - mit dir betet die Gemeinde der vollendeten Gerechten, deine kleine Rauchwolke steigt mit ihren Rauchsäulen zu Gott empor; ja, Seele, wisse, mit dir und für dich betet im ewigen Heiligthume der ewige Fürbitter, der Hohepriester Christus, das Haupt entsündigt durch Sein Gebet die Gebete Seiner Glieder, das Haupt betet mit Seinen Gliedern; - mit dem Engelkönig Christus und mit dir beten die tausend mal tausend Engel, welche mit Dir Eines Geistes theilhaftig und durch den Einen Geist deine Brüder sind! du siehst es nicht, aber wahr ist es: du bist in einer großen Gesellschaft, in einem großen Heere von Betenden! Vergiß es nicht, gedenke deiner Betgenossen, sprich nicht: „Mein Vater:“ sondern: „Unser Vater!“ Freu dich, daß so viele mit dir vor dem Thron des Vaters stehen, - daß deine betenden Hände, wie Mosis Hände von Aaron und Hur, durch so viele betende Hände, dein betender Geist durch so viele betende Geister unterstützt wird! Wie wahr ist der Gesang der heil. Kirche, wenn sie singt:

Kann ein einiges Gebet
Einer gläub'gen Seelen,
Wenn's zum Herzen Gottes geht,
Seines Zwecks nicht fehlen:
Was wird's thun.
Wenn sie nun
Alle vor Ihn treten
Und zusammen beten!
Wenn die Heil'gen dort und hier,
Große mit den Kleinen,
Engel, Menschen mit Begier
Alle sich vereinen,
Und es geht
Ein Gebet
Aus von ihnen allen:
Wie muß das erschallen!

Also, liebste Seelen, weil wir im Gebete nicht allein sind, weil unser viele sind, sollen wir beten: „Unser Vater“ und nicht: „mein Vater!“ das ist ein Grund. Ein zweiter ist der: so wie Keiner all eine betet, so soll auch Keiner für sich allein beten. Bedenkend, daß der Vater viele Kinder hat, daß ER sie alle liebt und für sie alle sorgt, und es gern sieht, wenn ein jeder Christ alle Seine Kinder als Brüder liebt, wie Er sie alle in Christo als Vater umfangen hält, - sollen sie, Eins in Ihm, ein jedes für Alle beten. Macht doch auch der ewige Hohepriester mit Seinen betenden Erlös'ten Gemeinschaft, nennt Er uns doch Seine Brüder, Seinen Vater unsern Vater, - kann doch auch ER, für uns betend, zu dem Vater sprechen: „Mein und meiner Brüder Vater, unser Vater!“ Darum soll es, wenn dein Heiland dich beten lehrt: „Unser Vater!“ wie eine sanfte Ermahnung des himmlischen Vaters an dein williges Herz eindringen, wie eine Ermahnung des Inhalts: „Thue Bitte, Gebet und Fürbitte für alle meine Kinder, deine Brüder! Bete für deine Noth, aber vergiß die nicht, welche, wie du, in Nöthen sind: Denk' an jene unter deinen Brüdern, welche, umringt von schwerer Anfechtung, selbst nicht mehr beten können: bete für sie! denk' an die Seelengefahren, an die Versuchungen, Netze und Fallstricke, welche der Feind auf dem Wege deiner Brüder ausbreitet und verbirgt! Denk' an Blindheit, Leichtsinn und Leidenschaft, welche deiner Brüder Augen, wie auch oft die deinigen, verhüllen, daß sie weder ahnen, noch erkennen, noch vermeiden, was am Wege lauert und . Verderben bringt! Bete für deine Brüder und für dich! Erinnere dich an die Sünden und Gewissensbisse, welche an den Seelen deiner Brüder, wie an der deinigen nagen; an die Sehnsucht nach Vergebung und Genesung von allen Sünden, nach Frieden, Gerechtigkeit und Freude des heil. Geistes, welche deiner Brüder Seelen und die deinige wie ein verzehrendes Feuer ergriffen hat! Ach, nicht dich allein, alle deine Brüder suche zu Mir zu retten! Schaue dein und ihr allgemeines Elend an, klage Mir's und damit ich euch allen helfe, so sprich betend: „Unser, unser Vater!“ - In Einem und demselben gemeinsamen Elend wandeln wir alle deine Kinder! Nur Eine und dieselbe gemeinsame Zuflucht und Hülfe haben wir: das bist Du alleine! Höre uns're Worte, merke auf uns're Rede, vernimm unser Schreien, unser König und unser Gott: hilf uns und errette uns! Ein Vater ist ja seiner Kinder Trost und Schutz! Sey du also unser Trost und Schutz: denn du bist und heißest: „Unser Vater!“

Ach, daß alle Christen solche betende Liebe in ihren Herzen trügen und also oft, anhaltend, brünstig beten möchten: bald würden wir die Christenheit seliger und heiliger gebetet haben! Es würde gegeben werden denen, die da haben, daß sie die Fülle hätten, - nämliche eine Fülle des Gebetes und des Geistes, welcher beten lehrt! Es müßte sich der Leidensstand der Welt, welcher uns zwingt, zu seufzen und zu bitten: „Unser Vater!“ also umkehren und zum Glück verwandeln, daß nicht mehr seufzend, sondern voll Dankes und Preises, in mächtiger Erfahrung der Vaterliebe Gottes, in seliger Bruderliebe und Einigkeit der Geister, in heiligem Vertrauen die Christenheit ihr „Unser Vater!“ erschallen ließe! -

Noch haben wir, ehe wir von Seinem Hause in unsere Häuser gehen, meine Theuern, zu bedenken, warum der HErr uns beten lehre: „Der du bist im Himmel!“? Umgiebt uns doch die Gegenwart des HErrn auch hier auf Erden, wie uns die Luft umgiebt, - ist's doch vergeblich, ihr entrinnen wollen, ob man auch Flügel der Morgenröthe nähme und flöhe an's äußerste Meer, - ist es doch Thorheit, in die Tiefe fahren, um Ihn heraufzuholen, und in die Höhe, um Ihn herabzuholen, kein Ort ist, selbst nicht in der Hölle, wo ER nicht wäre, Massen ER Himmel und Erde füllet und sie Ihn nicht fassen können, denn ER ist allgegenwärtig und unermeßlich. Was ist's denn also, daß dennoch jedes Auge, wenn das Herz betet, die Höhe sucht, und jede Hand sich zum Himmel hebt? Warum nennt Jesus Christus so oft und gerne Seinen Vater den himmlischen Vater? Warum lehrt ER uns Ihn im Himmel suchen, wenn ER uns beten heißt: „Vater unser, der du bist im Himmel!“?

Nehmet zur Antwort dies, meine Lieben, und der Vater im Himmel verleihe, daß ich Seinen Sinn treffe: Daß wir beten sollen: „Vater unser, der du bist im Himmel!“ - zeigt an, daß der Vater, zu dem wir beten, über alle Väter auf Erden so weit erhaben ist, als der Himmel über die Erde erhaben ist; - zeigt an, daß wir unsre Herzen nicht an irdische Väter hängen, sondern, wenn wir beten, unser Herz von allen irdischen Vätern trennen und ferne sollen treten lassen, wie der Himmel von der Erde ferne ist; - zeigt an, daß ein betend Herz selbst ein großes und erhabenes Herz ist, weil es nicht zufrieden ist, sich an Creaturen, als z. B. an irdische Väter, anzuhängen, sondern kühn eines himmelhohen Vaters Ohr und Erhörung sucht. Ja, eine betende Seele meidet das Erdreich, - wie eine Lerche in den Lüften, sucht sie, der Welt entfliegend, ihre Heimath droben, wo Christus ist, zu des Vaters Rechten sitzend! Sie fährt Christo nach - Sein Vater und der Engel Vater ist der Vater, den sie meint! Valet sey Dir gesagt, du arme Erde: ihr Wandel ist im Himmel!

Ferner; weil uns Christus beten lehrt: Vater unser, der du bist im Himmel; so muß die Gegenwart des Vaters allerdings im Himmel sich anders erweisen, als hier auf Erden! Es muß ein gewaltiger Unterschied seyn zwischen Seiner Gnadengegenwart dahier und zwischen Seiner Gegenwart der Herrlichkeit dort oben. Gewiß! obgleich uns Gott weiter nichts davon offenbart hat; so muß doch in diesem Worte: „der du bist im Himmel!“ wie hinter einem Vorhang, wie unter einem ahnungsreichen Schleier, eine Welt voll wunderbarer Gottesschönheiten, von unermeßlicher, unnennbarer Herrlichkeit verborgen liegen. Denn im Himmel leuchten alle Engelheere, von dem Himmel predigt jenes: „Ehre sey Gott in der Höhe!“, in ihm ist die Hütte der Wohnung Gottes und der Tempel, den kein Auge jemals erblickt und gesehen hat. O Vater unser in dem Himmel, Du großer Gott von unaussprechlicher Kraft, wie muß es dort so schön seyn, wo deine Ehre fern von Sünde und Elend wohnt, in der Hütte, welche du dir zur ewigen Anbetung erwählt und erbaut hast, von wannen Segen, Heil und Hülfe über alle Creaturen kommt!

Indem wir an die Herrlichkeit der Himmel denken, finden wir mit Schmerzen einen ferneren Grund, warum uns geboten ist, zu beten: „Vater unser, der du bist im Himmel!“ Der Vater ist so groß und selig in Seiner himmlischen Herrlichkeit, - und wir, die Kinder, sind verbannt von Ihm und Seiner Wohnung nm der Sünde willen, so fern, so tief im Thale des Elends, - ohne Himmelsleiter, an der wir eilends und für ewig zu Ihm aufzusteigen vermöchten. Wir gehen in der Fremde und fühlen uns so schmerzlich unsrer Heimath beraubt, unser Seufzen wird zum Schreien, wir rufen: -O Vater unser in dem Himmel: aus der Tiefe rufen wir, HErr, zu Dir! Leite uns nach Deinem Rath und nimm uns endlich zu Ehren an!“ Wir stehen hier im harten Kampf, Deine streitende Kirche, - und bei unserm Vater im Himmel daheim ist die triumphirende Kirche so selig in ihren Lob, gesungen! Ach, wir wären auch gerne schon Ueberwinder, trügen gerne Kronen, Palmen, weiße Kleider und liederreiche Harfen: aber noch ist Staub des Streits auf unsern Häuptern statt Kronen, - in unsern Händen statt Palmen Schwerter, - unsre Kleider sind schmutzig und zerrissen von Sünde und Sündenkämpfen, unsre Harfen hängen an Thränenweiden! - So muß denn dies Gebet, „Vater unser, der du bist im Himmel,“ in uns das Heimweh wecken - und das ist gut: denn wer kann auf Erden beten ohne Heimweh nach dem ewigen Vaterhause?

Doch getrost, geliebte Brüder, nicht das Heimweh allein wird in uns durch dieses Gebet aufgeweckt, sondern in demselben liegt auch eine sichre Bürgschaft, daß eine Zeit kommen wird, wo die Stricke entzwei und wir frei, wo uns die Flügel zur Heimkehr gewachsen seyn werden! Dann fahren wir auf, JEsu nach, zu Seinem Vater und zu unserm Vater, in das Vaterhaus, wo ER auch uns mit seinem Blute ewige, bleibende Stätten und Wohnungen erworben - und einem Jeden die seinige schon bereitet hat! Ja, Christus, der vom Himmel gekommen war, hieß uns beten: „Vater unser in dem Himmel!“ und verhieß uns damit eine Himmelfahrt! ER Selbst ist gen Himmel gefahren - und hat vor Seiner Auffahrt gebetet: „Vater, Ich will, daß wo Ich bin, auch die bei mir seyen, die Du mir gegeben hast!“ Sollte Sein Gebet, Seine Verheißung, Sein weissagender Vorangang nicht in Erfüllung gehen? Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben: sollte ER die Seinigen nicht dahin führen, wo alleine die ewige Wahrheit und das ewige Leben, d. i. wo ER selber ewig ist, - nämlich in den Himmel? Er ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist: ER ist aufgefahren und hat verheißen, wieder zu kommen und die Gefundenen und Erlöseten heimzuführen. ER kann nicht lügen! ER wird alle Widersprecher Lügen strafen! Geduld, lieben Brüder! Unser Herz und Wandel sey jetzt schon, wo ER ist, unser Schatz im Himmel! Lasset uns unsere Augen aufheben zu jenen Bergen, von welchen uns Hülfe kommt! von wannen wir auch warten des Heilands JEsu Christi des HErrn! Wachet, bereitet euch und hebet eure Häupter auf! Unser Vater im Himmel wartet schon auf uns! Traget euer Kreuz in Geduld, so lang es noch währet: bald wird der Vater Seine Hand ausstrecken, es euch abzunehmen; bald wird unser erstgeborner Bruder, der einst auch Kreuz trug, und zwar nach dem Maaße Seiner göttlichen Kraft, an unserer Statt das schwerste: ER wird kommen, unsern nichtigen Leib verklären, daß er ähnlich werde Seinem verklärten Leibe, und wir werden Ihm nach in die ewigen Tbore eingehen! ER wird uns in den Thoren begrüßen: „Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist vom Anbeginn der Welt.“ ER wird uns zu Seinem und zu unserm Vater im Himmel bringen und zu der Menge vieler Tausende von Kindern, welche, rein gewaschen an Leib und Seele durch des Sohnes Blut, in den Kleidern Seiner Unschuld prangend, von Seinem Glanz verklärt, in tiefer Demuth, aber auch mit heimathlicher, d. i. himmlischer Freude, ewig vor ih, rem Vater dienen und gehorchen! Dann werden wir die Worte „in dem Himmel“ nicht mehr zu - Unser Vater - setzen; dann werden wir, selbst im Himmel, alle Himmel über dem Vater im Himmel vergessen und Ihn über Alles lieben, der in dem geliebten Sohne ewig seyn und bleiben wird „unser Vater!“ Ja! Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/l/loehe/loehe_predigten_vaterunser_predigt_1_-_unser_vater_der_du_bist_im_himmel.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain