Kapff, Sixtus Carl von -Am Sonntag Sexagesimä.

Kapff, Sixtus Carl von -Am Sonntag Sexagesimä.

Text: 2 Kor. 12,1-10.
Es ist mir ja das Rühmen nichts nütze, doch will ich kommen auf die Gesichte und Offenbarungen des HErrn. Ich kenne einen Menschen in Christo vor vierzehn Jahren (ist er in dem Leib gewesen, so weiß ich es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen, so weiß ich es auch nicht; GOtt weiß es); derselbige ward entzückt bis in den dritten Himmel. Und ich kenne denselbigen Menschen (ob er in dem Leib oder aus dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; GOtt weiß es), er ward entzückt in das Paradies, und hörte unaussprechliche Worte, welche kein Mensch sagen kann. Davon will ich mich rühmen, von mir selbst aber will ich mich Nichts rühmen, ohne meiner Schwachheit. Und so ich mich rühmen wollte, täte ich darum nicht töricht; denn ich wollte die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber des, auf dass nicht Jemand mich höher achte, denn er an mir steht oder von mir hört. Und auf dass ich mich nicht der hohen Offenbarung überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlage, auf dass ich mich nicht überhebe. Dafür ich dreimal dem HErrn gefleht habe, dass er von mir wiche. Und Er hat zu mir gesagt; Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne. Darum bin ich gutes Mutes in Schwachheiten, in Schwachen, in Nöten, in Verfolgungen, in Ängsten, um Christi willen. Denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.

Letzten Sonntag haben wir die unvergängliche Krone angeschaut, die in der Ewigkeit den Überwindern aufbehalten ist. Mit tiefer Sehnsucht blickten wir hinaus auf die selige Zeit, da GOtt abwischen wird alle Tränen von unseren Augen, da alles Leid und aller Schmerz dieses irdischen Jammertals verwandelt ist in unaussprechliche, herrliche Freude, da so viel Tausend und Millionen seliger Geister und Engel in schönster Gemeinschaft und reinster Liebe ihre Seligkeit einander gegenseitig erhöhen, ja, wo GOtt und JEsus selbst sich den Seelen zu schauen und zu genießen geben wird, so dass sie in wundervoller Einheit mit der heiligen Dreieinigkeit der göttlichen Herrlichkeit teilhaftig und von unbegreiflicher Seligkeit überströmt werden. Blicken wir so hinaus auf die Herrlichkeit, die an uns soll offenbart werden, so möchten wir auch ausrufen:

Ach, dass ich doch Flügel hätte,
Mich zu schwingen bald von hier
Nach der auserwählten Stadt,
Welche GOtt zur Sonnen hat!

Für dieses sehnsuchtsvolle Heimweh nach der Ewigkeit zeigt uns unser Text einen hohen Trost. Paulus spricht von seiner Entzückung, bei der er im Himmel war und unaussprechliche Worte vernahm. Demnach gibt es einen Himmel auf der Erde, wie wir auch an JEsu sehen, der noch im Leben seines Leibes auf dem Berg verklärt wurde. Zwar haben wir keiner so außerordentlichen Erscheinungen oder Entzückungen uns zu freuen, und ihrer nicht zu warten: aber doch zeigt sich im rechten Umgang mit dem HErrn Manches, was unseren Geist schon jetzt wie in den Himmel erhebt. Und jeder solche Vorschmack des ewigen Lebens ist reich an Kräften der zukünftigen Welt, und stärkt, die Versuchungen, Trübsale und Nöte dieser unteren Welt zu überwinden, wie Paulus durch solch' innerliche Erquickungen unter fast übermenschlichen Leiden so gestärkt wurde, dass er sagen konnte: „Wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ Wir wollen daher unseren Text benützen zu einer Betrachtung über

Die Offenbarungen aus der unsichtbaren Welt,

  1. über die außerordentlichen,
  2. über die allen Menschen in Christo eröffneten Offenbarungen aus der unsichtbaren Welt.

HErr JEsu, Du hast den Vorhang zerrissen, der das Allerheiligste verhüllte für alle Menschenkinder. In Dir sehen wir den Himmel offen und freuen uns hoffnungsvoll auf eine ewige, über alle Maßen wichtige Herrlichkeit. Wir danken Dir für solche Lichtblicke, die Du uns gibst, und bitten Dich, Du wollest auch jetzt uns die Augen auftun, dass wir von den Seligkeiten der unsichtbaren Welt so viel verstehen, als uns heilsam ist. O gib uns Allen deinen heiligen Geist, dass Er uns leite in alle Wahrheit. Amen.

I.

Das Merkwürdigste in unserer Epistel ist das, was Paulus von den Gesichten und Offenbarungen erzählt, die ihm zu Teil geworden seien. Wir müssen sie als ganz besondere und außerordentliche Offenbarung des ewigen Lebens oder der unsichtbaren Welt betrachten. Er sprach davon vor den Korinthern, weil ein Teil von ihnen sich allerlei Vorurteilen gegen ihn hingab und seine Person mit misstrauischer Verachtung ansah, wodurch seine Amtswirksamkeit vereitelt und Christi Reich gehindert wurde. Da konnte er ihnen ein augenscheinliches Zeugnis anführen, durch das der HErr selbst ihn legitimiert und als einen Ihm besonders nahen Geistesmenschen anerkannt hatte. Denn er ward entzückt bis in den dritten Himmel, entzückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, welche kein Mensch sagen kann. Über den dritten Himmel erklärt der alte Storr: der erste sei der Luft- und Wolkenhimmel, der zweite der Sternenhimmel, der dritte der Ort der besonderen Gegenwart und Herrlichkeit GOttes. Andere Ausleger verstehen unter den drei Himmeln immer höhere Stufen der Seligkeit, und unter dem Paradies entweder den seligen Ort der Ruhe für die, die in dem HErrn sterben, oder den innersten Ort des dritten Himmels. Wie dem sei, Paulus sah in die Herrlichkeit des Himmels hinein nicht mit bloßen Phantasiebildern, sondern durch eine wirkliche Erhebung seines Geistes, vielleicht sogar seines Leibes in die Wohnung der verklärten und seligen Geister und Engel. Das Wort „entzückt“ bedeutet nach dem Grundtext entrückt, hinweggerissen von der Erde und hineingehoben in den Himmel. Und das war so wesenhaft, dass es ihm war, als sei er wirklich auch mit seinem Leib nicht mehr auf der Erde, sondern ganz im Himmel gewesen. Doch will er es nicht entscheiden, da es ja möglich ist, dass der Geist für kurze Zeit von der schweren Leibeshülle sich losmacht, und zu der Heimat, der er innerlich angehört, sich aufschwingt. Sei er nun außer oder in dem Leib gewesen, im Himmel war er und sah die himmlischen Dinge, wie er die irdischen sah mit seinen leiblichen Augen, und hörte unaussprechliche Worte, so erhaben und wunderbar, dass keine menschliche Sprache sie auszusprechen vermöchte, aber auch, nach dem Grundtext, nicht aussprechen dürfte, um kein Missverständnis und keinen Missbrauch zu veranlassen, weswegen JEsus sagte: „Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen (den irdischen Verhältnissen entsprechenden) Dingen, sage, wie würdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen (höheren Geheimnissen der unsichtbaren Welt) sagen würde?“ (Joh. 3,12.). Solche himmlische Dinge sah und hörte Paulus, weil sein Geist mit JEsu so vereinigt war, dass er sagen konnte: „Nicht ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“

Diese Eröffnung des Himmels wurde ihm zu Teil, damit die anschauliche Vorstellung der himmlischen Dinge ihn im Himmel einheimisch machen und es ihm so leichter werden sollte, die alle Menschenkraft beinahe übersteigenden Leiden zu ertragen, die seiner warteten. Von diesen Leiden erzählt er gerade vor unserem Text. Fünfmal wurde er mit neununddreißig Streichen geschlagen, dreimal mit Ruten gepeitscht, einmal gesteinigt, dass man ihn für tot liegen ließ, dreimal schwamm er schiffbrüchig auf den Meereswogen daher, allezeit war er in Todesgefahr auf Reisen zu Wasser und zu Land, in der Wüste und in Weltstädten, unter Mördern, unter ergrimmten Juden und Heiden, in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, Hunger und Durst, in viel Fasten, Frost und Blöße. Für solche außerordentliche Leiden bedurfte er auch eine außerordentliche Stärkung, einen Schatz und Vorrat göttlicher Gedanken und himmlischer Anschauungen, die ihm halfen, die ganze Erde im Licht der Ewigkeit anzuschauen, und, über den Sturm der unteren Welt erhaben, die ungetrübte Ruhe und Seligkeit der oberen Heimat unverrückt vor Augen zu behalten, so dass er fortwährend nicht auf das Sichtbare sah, auch wenn es noch so schwer auf ihm lastete, sondern auf das Unsichtbare. In solcher Anschauung der himmlischen Welt und ihrer alle Begriffe übersteigenden Herrlichkeit konnte er Alles für Schaden achten und mitten in des Todes Rachen sagen: „Ob auch unser äußerlicher Mensch verwest, so wird doch der innerliche, dem Himmel zugewandte, von Tag zu Tag erneuert.“ Dazu halfen ihm alle die außerordentlichen Offenbarungen, die er erhielt. Gleich die erste auf dem Weg nach Damaskus wirkte zu seiner wunderbaren Bekehrung aus der erbittertsten Feindschaft in die heißeste Freundschaft JEsu; zweimal erschien ihm der HErr des Nachts, da er in der schrecklichsten Todesgefahr und großem Gemütsdruck war, und was er sonst von außerordentlichen Offenbarungen durch den heiligen Geist erhielt, das diente zum Bau des Glaubens- und Gemeindegebäudes, an dem Paulus einer der wirksamsten Baumeister war.

Für die gleichen Zwecke empfingen auch andere Apostel außerordentliche Offenbarungen aus der unsichtbaren Welt. So alle Apostel am ersten Pfingstfest, da unter Sturm und Flammen der heilige Geist wie ein Strom über sie ausgegossen wurde und sie plötzlich zu ganz neuen Menschen machte, wovon die Gabe, in allerlei Sprachen zu reden, das nächste Zeichen war, und woher auch ihre Krankenheilungen, Totenerweckungen und andere Wunder kamen. Petrus erhielt durch ein Gesicht aus dem Himmel die Belehrung, dass auch die Heiden ins Reich GOttes berufen seien, und als er im Gefängnis den Tod vor Augen sah, da kam ein Engel vom Himmel und zersprengte die Ketten und Riegel und Tore, was auch bei Paulus in Philippi durch ein Erdbeben geschah. Stephanus sah vor seinem Märtyrertod den Himmel offen und die Herrlichkeit GOttes und JEsum stehen zur Rechten GOttes. Philippus wurde, nachdem er den Kämmerer getauft hatte, durch den Geist des HErrn schnell entrückt, dass er ihn nicht mehr sah. Das Auffallendste aber ist, was Johannes erlebte. Er sah JEsum in seiner himmlischen Verklärung so majestätisch, dass er in Ohnmacht fiel. Aber JEsus legte seine rechte Hand auf ihn, und stärkte ihn, die Gesichte ertragen zu können, die aus dem eröffneten Himmel sich ihm offenbarten. Da sah denn Johannes nicht nur Legionen von Engeln und unzählbaren Scharen seliger Geister, er sah nicht bloß JEsum in seiner Herrlichkeit, selbst der Thron GOttes und der darauf saß, der Allherrscher bot sich seinem Blick dar, und wie das Reich des Drachen und seiner höllischen Geister, so sah er auch den neuen Himmel, die neue Erde und das himmlische Jerusalem. Solch' außerordentliche Licht- und Himmelsblicke erhielt Johannes als eine für uns Alle höchst wichtige, den Lauf der Zeiten und Ewigkeiten aufschließende Offenbarung.

So hatten auch die Propheten gar mancherlei Arten von Gesichten und Offenbarungen aus der unsichtbaren Welt erhalten. Jesajas sah den HErrn auf seinem Thron sitzen und hörte das „dreimal heilig“ der Seraphim, deren einer seine Lippen mit feuriger Kohle rührte und so ihn zu seinem Amt weihte. Hesekiel sah die Herrlichkeit GOttes in wunderbaren Gesichten, die Cherubim auf Rädern mit unbegreiflicher Zentralbewegung, den eröffneten Himmel und den heiligen Tempel einer fernen Zukunft. Daniel hatte in Träumen und im Wachen erhabene Gesichte über die Weltmonarchieen und den Gang der Weltgeschichte bis an's Ende. Und so alle Propheten sahen und hörten den HErrn, bald in Träumen, bald in Gesichten oder durch unmittelbare Offenbarungen; sie vernahmen, was des HErrn Mund äußerlich oder sein Geist innerlich zu ihnen sprach. Mit Mose hat der HErr von Angesicht zu Angesicht gesprochen und himmlische Dinge ihm gezeigt auf Sinai, so, dass sein Angesicht leuchtete wie eine Sonne. Das Alles sind Offenbarungen, die der ganzen Menschheit wegen gegeben wurden und wodurch die verborgene Weisheit GOttes enthüllt und der Grund der göttlichen Heilsanstalten für alle Zeiten gelegt worden ist.

Es fragt sich aber nun, ob wohl auch außer diesen prophetischen und apostolischen Offenbarungen fortwährend bis auf diesen Tag außerordentliche Offenbarungen aus der unsichtbaren Welt möglich notwendig und wirklich seien. An der Möglichkeit ist nicht zu zweifeln. Der Himmel ist mit JEsu Himmelfahrt oder mit der Apostel Tod nicht zugeschlossen und GOtt nicht beschränkt, sich zu offenbaren, wie Er will. Engel sind um uns und können sich auch sichtbar machen, und der Geist kann außerordentlich wirken, wo und wie Er will. Unser Geist aber ist als Geist fähig, in die unsichtbare Welt zu schauen, wenn GOtt das innere Auge ihm eröffnet, und in die Dunkelheit des Erdenlebens, die unter schweren Umständen über Vermögen gehen kann, einen Strahl seines himmlischen Lichtes hereinleuchten zu lassen für gut findet. Für notwendig aber können wir solche besondere Offenbarungen jetzt nicht mehr halten; denn was wir zur Stärkung unseres Glaubens und zur Erhellung unserer Erkenntnis bedürfen, das ist durch das prophetische und apostolische Wort uns Alles gegeben, und die ganze unsichtbare Welt ist unserem Glaubensauge so lebendig vergegenwärtigt, dass wir, besonders wenn der Geist in unserer Schwachheit mächtig ist, die himmlischen Dinge, selbst JEsu Gegenwart, wie zu sehen glauben. Dass Er da ist, auch wenn wir Ihn nicht sehen, das wissen wir, und dass Alles am Ende zu seiner Verherrlichung dienen, und sein Reich über Alles herrschen und die ganze Welt noch in sein Reich verklärt werden muss, das wissen wir. Kurz Alles, was ein Menschengeist über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu wissen nötig hat, ist Alles in GOttes Wort geoffenbart, und wir dürfen nur recht glauben, so ist es gar nicht nötig, zu sehen, was erst dann geschehen soll, wenn der Glaube sich im Kampf bewährt hat, weil JEsus sagt: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“

Wenn aber gleich besondere Seherblicke ins unsichtbare Reich nicht notwendig sind, so ist doch nicht zu vergessen, dass der HErr in besonderen Umständen es für gut finden kann, einem schwachen und hilfsbedürftigen Sterblichen einen höheren Blick zu eröffnen und so ihn zum Kampf mit schweren Anfechtungen und zur Ausrichtung besonderer Berufung und Aufgabe auszurüsten. So hat schon hie und da ein Gläubiger im Traum ein belehrendes Gesicht einen Engel oder den HErrn selbst gesehen und gehört, und es ist ihm ein für sein ganzes geistliches Leben wichtiges Licht aufgegangen. Andere haben so außerordentliche Gebetserhörungen und überhaupt Beweise der göttlichen Führung, Bewahrung und Hilfe erfahren, dass sie es sich nur aus der unmittelbaren Wirkung des HErrn oder eines Engels erklären konnten. Andere hatten Entzückungen, in denen sie Alles in ganz neuem Licht sahen, und ihnen innerliche Seligkeiten, Kräfte, Gedankenfülle und Geistesblicke sich eröffneten, wovon sie vorher keinen Begriff gehabt hatten. Manche auch durften an ihrem Sterbelager himmlische Boten oder gar den HErrn selbst sehen, entzückende Musik vernehmen und sahen so den Tod als die erwünschteste Reise zur Heimat an.

Was ist nun von solchen außerordentlichen Mitteilungen aus der unsichtbaren Welt zu halten? Viele in unserer Zeit sehen das als das Wichtigste an, und setzen die höhere Geistlichkeit und Erleuchtung in solche Eröffnungen des Himmels. Daher ist es für jeden Christen und für Manche unter uns ganz besonders wichtig, über diese Frage im Klaren zu sein.

Wenn Andere uns etwas der Art erzählen, so müssen wir sehr vorsichtig sein. Vieles wird durch die Sage vergrößert und entstellt; ohne diese gewichtigsten Zeugnisse muss man nichts Außerordentliches glauben. Wenn aber auch die Sache selbst vollkommen richtig ist, so fragt sich's, von welcher Art die Personen sind, denen eine besondere Offenbarung zu Teil worden sein soll, und von welcher Art die Sachen, Wahrheiten, Lehren, Erscheinungen sind die geoffenbart wurden. Einem Apostel darf man kecklich Glauben schenken, und je mehr ein Mensch ein frommer und erleuchteter Geistesmensch ist, desto eher kann man ihm zutrauen, dass er sich nicht getäuscht habe und nicht Andere täusche. Darum prüft die Geister, ob sie aus GOtt sind! Aber auch Geister, die aus GOtt sind, können irren. Selbst Paulus sagt in unserem Text: „dass ich mich nicht der hohen Offenbarung überhebe;“ also auch er hatte noch Versuchung zu hochmütigen Gedanken, wie viel mehr wir! Und eben der Hochmut ist eine fruchtbare Mutter des Strebens nach außerordentlichen Dingen. Man will mit dem Gewöhnlichen nicht mehr zufrieden sein, man will etwas Besonderes haben vor Anderen, und steigert sich so in Phantasien hinein, die man dann als Offenbarungen ansieht und im Wiedererzählen noch vergrößert, um sich recht wichtig zu machen. Bei Paulus war das ganz anders. Er sprach ungern und nur notgedrungen von seinen Gesichten, nachdem er vierzehn Jahre tiefes Stillschweigen darüber beobachtet hatte. Bei solcher Zurückhaltung, Ruhe und Demut - da ist keine Schwärmerei. Aber bei den Leuten, die Alles, was in ihrem inneren Leben vorgeht, gleich herausgeben und auskramen, da kann's innerlich recht leer aussehen, und was sie von Außerordentlichem erzählen, ist vielleicht nichts, als die gesteigerte Phantasie der Schwärmerei oder eine Täuschung des Satans, oder der Ausfluss großer Unwissenheit und Beschränktheit, oder krankhafter Nervenverstimmungen, oder überspannter Grübeleien. Deswegen müssen wir gegen alle Erzählungen von angeblichen außerordentlichen Offenbarungen höchst misstrauisch sein, und lieber zu wenig glauben als zu viel, lieber nichts als etwas Schädliches. Da kommt es immer auf die Sache an, die geoffenbart worden sein soll. Ist es etwas gegen die Bibel, so ist es zu verwerfen, und wenn es noch so schön lautet; ist es aber nach dem lauteren Wort GOttes, so kann man es als Beweis, dass der Himmel uns stets nahe ist, dankbar annehmen. Nur muss man ja auf nichts hineinfallen und immer die ordentliche Führung GOttes, den ordinären Weg und das einfache Wort GOttes in der Bibel für viel höher achten, als alles Außerordentliche, Übernatürliche.

Deswegen dürfen wir auch für uns selbst gar nicht auf solche Dinge warten, und es ist ein grober Irrtum, wenn Seelen das vollkommenere Christentum in besondere Erleuchtungen, in ein inneres Licht, das mehr gelte als das äußere Wort, in Erscheinungen und Visionen setzen. Durch dieses Blendwerk hat der Teufel schon viele Gläubige berückt und den Geist wieder herabgezogen in das Fleisch. Wer mit diesen Schwärmereien, z. B. der schändlichen Wiedertäufer zu Luthers Zeit, der Kirchen-, Bibel- und Abendmahlsverächter, der Seher, Somnambulen und dergleichen bekannt ist, der weiß, wie viel satanische Fäden diese Gewebe durchziehen, und hält es auch bei den Erscheinungen, die von Vielen als ganz fromm und ganz herrlich gerühmt werden, für möglich, dass ein böser Geist, folglich ein Lügengeist, unter der Sache geschäftig ist, und dass die Offenbarungen über die andere Welt und neue Wahrheiten die Lüge eines bösen Geistes sind, der sich verkleidet in einen Engel des Lichts, sich stellt als Schutzgeist, als ein verklärter Menschengeist und dergleichen, der durch ein buntes Gemisch von Wahrheit und Irrtum die Seelen täuscht. Deswegen bleiben wir am liebsten bei der Regel: Was anerkannt heilige Männer GOttes für offenbar göttliche Zwecke ganz nach dem lauteren Wort GOttes von außerordentlichen Offenbarungen aus der unsichtbaren Welt erfahren haben, das nehmen wir dankbar an als weitere Aufhellung und Veranschaulichung der himmlischen Dinge. Und sollte uns selbst einmal der Himmel sich weiter auftun, als im gewöhnlichen geistlichen Leben, so behalten wir es im Stillen als ein liebliches Denkzeichen auf unserem Weg durch die Wüste dieses Lebens. Aber als notwendig oder auch nur als besonders wünschenswert dürfen wir nie etwas der Art suchen; denn entweder ist es dem Wort GOttes gemäß, dann brauchen wir's nicht und haben am Wort genug, oder ist es gegen GOttes Wort, dann sagt Paulus: „Wenn auch ein Engel vom Himmel ein anderes Evangelium predigte, der sei verflucht.“ Und gegen GOttes Wort ist schon Alles, was den Hochmut nährt und das Fleisch irgend begünstigt. Deswegen sind wir zufrieden,

II.

mit den allen Menschen in Christo eröffneten Offenbarungen aus der unsichtbaren Welt. In dem Abschnitt des ersten Korintherbriefes (Kap. 12-14), der von den geistlichen Gaben handelt, setzt Paulus die gewöhnliche Lehr- und Predigtgabe weit über die außerordentliche Sprachengabe, und hoch über alle Gaben setzt er die Liebe.

Als die Hauptoffenbarung aus der unsichtbaren Welt haben wir das heilige Wort GOttes anzusehen, das mit untrüglicher Wahrheit und Klarheit uns Alles offenbart, was zur Seligkeit nötig ist, ja auch außer dem Vieles, das unsere Wissbegierde über GOtt, Ewigkeit, Himmel und Hölle zu wissen wünscht. Da haben wir ein festes prophetisches und apostolisches Wort, und wer ohne Grübeleien bei dem Wort GOttes bleibt nach dem Buchstaben, aber im heiligen Geist, der ist vor aller Schwärmerei und Irrlehre bewahrt, und der verlangt ganz gewiss keine außerordentlichen Offenbarungen. Er hat an seiner Bibel noch unendlich viel zu lernen und lernt auch täglich mehr. Ja, es gehen ihm durch das treue Lesen und Betrachten des Wortes oft wirkliche Offenbarungen auf, die wie neue Lichtblicke aus der höheren Welt ihn anleuchten. Das ist die Wirkung des heiligen Geistes, der den vielleicht lange uns verschlossen oder gleichgültig gebliebenen Buchstaben oft auf Einmal verklärt, und wie ein Feuer im Herzen anzündet und uns wie in eine neue Welt hineinblicken lässt. Da erkennt unser Geist Wahrheiten, die ihm vorher dunkel oder ganz verborgen waren, in neuem Licht; er sieht die göttlichen Wege und Lehren im höheren Zusammenhang; er darf das, was er bisher nur als tote Geschichte gekannt hatte, sich selbst zueignen, und darf die innere Seligkeit, da Erkennendes und Erkanntes Eins wird, schmecken. Wie wird es da oft Licht in der Seele, wenn ihr vom Geist GOttes die Tiefe des menschlichen Verderbens, dann aber die ganze Größe der göttlichen Gnade aufgedeckt, die Vergebung der Sünde und Kindschaft GOttes versichert, der Kreuzestod JEsu und sein ganzes Leben ihr innerlich verklärt wird, und sie sich selbst als in Ihm neugeschaffen, als mit Ihm der Sünde gestorben und mit Ihm auferstanden zu göttlichem Leben ansehen darf, und wenn sie die himmlischen Dinge, wie sie in der heiligen Offenbarung besonders uns vor Augen gemalt werden, wie gegenwärtig anschauen, und in diese unaussprechliche, herrliche Freude sich versetzen darf, dass sie, von innerer Seligkeit durch den heiligen Geist überströmt, jetzt schon wie im Himmel zu sein glaubt.

Solche Lichtblicke kann oft ein einziger Vers der Bibel uns eröffnen, wenn der heilige Geist den Buchstaben uns verklärt. Das ist allerdings etwas Außerordentliches; denn es ist nicht aus uns, nicht aus der Ordnung dieser unteren Welt und unserer Vernunft und Kraft; es ist wirkliche Mitteilung des heiligen Geistes, und also ein Ausfluss aus dem unsichtbaren Reich des Geistes: aber es ist ganz in der Ordnung des Zusammenhangs, in den ein Menschengeist durch treuen Gebrauch des Wortes GOttes mit dem heiligen Geist und mit dem Himmel kommt. Solche Offenbarungen aus dem unerschöpflichen Wort GOttes durch den heiligen Geist werden nie alltäglich; sie sind bei einem in GOtt ruhenden Geeist täglich neu und lebendig. Denn ein mit der unsichtbaren Welt im Umgang stehender Geist sieht auch im Kleinsten und Gemeinsten GOtt - und das wie in der Bibel, so auch in der sichtbaren Außenwelt. Da verklärt sich das ganze Leben, auch das gewöhnliche und natürliche, zu einer großen, fortgehenden Offenbarung GOttes, und was fürwitzige und hochmütige Schwarmgeister als ordinär und alltäglich geringschätzen, das ist einem vom eigenen Geist freien und vom heiligen Geist erleuchteten Menschen göttliche Weisheit, an der es noch viel zu lernen, göttliche Ordnung, an der es noch viel zu üben und zu tun gibt.

Selbst die Trübsale und drückenden Lasten dieser unteren Welt, und Alles, was das tägliche Leben mit sich bringt, sieht ein Geistesmensch als Offenbarungen und Führungen GOttes und als Wege zur unsichtbaren Welt an. So betrachtete Paulus nach unserem Text den Pfahl ins Fleisch, der ihm gegeben war, damit er sich nicht der hohen Offenbarungen überhebe. Dieser Pfahl war wohl ein sehr schmerzliches körperliches Leiden, wahrscheinlich verbunden mit schwerer Bangigkeit, die auch den Geist niederdrückte, vielleicht mit Krämpfen, die wie Faustschläge wirken und die er als Wirkung eines Satansengels ansah, also auch als Wirkung aus der unsichtbaren Welt, aber aus dem finsteren Reich. Paulus erkannte im Licht des Geistes das Alles als göttliche Ordnung und demütigte sich unter alles Kreuz, so dass er sagt: „er rühme sich am liebsten seiner Schwachheit, „ oder nach Röm. 5,3.: „ er rühme sich der Trübsale.“

Leiden macht das Wort verständlich,
Leiden macht in Allem gründlich,
Leiden, wer ist deiner wert?
Hier nennt man dich eine Bürde,
Dorten bist du eine Würde,
Die nicht Jedem widerfährt.

So denkt ein Geistesmensch, und gibt sich willig in Alles, was GOtt ihm Tag für Tag zuschickt und auflegt, bleibt so in besonnener Nüchternheit bewahrt, den Flug zu hoch zunehmen, herrschen zu wollen, ehe er gekämpft und gesiegt hat, im Himmel sein zu wollen, ehe er die Prüfungsschule der Erde durchgemacht hat. Aber wie viel Offenbarung der göttlichen Liebe, ja Offenbarung aus der unsichtbaren Welt dürfen wir besonders unter dem Kreuz erfahren! Zu Paulo sagte der HErr: „Lass dir an meiner Gnade genügen, meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ So erfüllt Er auch an uns sein Wort: „Ich will dich in die Wüste führen, aber ich will da freundlich mit dir reden.“ Wie erquickt fühlt sich die Seele, wenn durch das Leiden im Fleisch die Bande, die uns an's Irdische ketten, eins um's andere gelöst und wir so dem Himmel näher gerückt werden! Und wie viele innerlichen Tröstungen und wie viele Verklärung der seligmachenden Wahrheit, unseres ganzen Glaubens, unserer Liebe und Hoffnung, und so viel wichtige Offenbarungen werden unter dem Leiden uns gegeben! Das Alles haben wir als Vorschmack des ewigen Lebens anzusehen.

Und was wir im Gebet täglich erfahren können, wie wunderbare Offenbarungen aus der unsichtbaren Welt stellt es uns vor Augen! Ein armer Erdenwurm, gedrückt von Sorgen und Mühen dieser Fremde, verwaist und einsam, zu allem Guten träg, zu allem Bösen geneigt, wird durchs Gebet in neues Leben versetzt, aus der Finsternis in wunderbares Licht, ans der Weltliebe in selige Gottesliebe, aus dem Trachten nach irdischen Dingen in ein heiliges Trachten nach dem, das droben ist, aus innerlicher Ferne GOttes in selige Gottesnähe, aus lauter irdischen Umgebungen in den Himmel selbst und in seine ewige Freude. Oft ist es, als sehen wir den Heiland leibhaftig vor uns, als stünden wir mitten in der Gesellschaft der Seligen, nach denen unsere Liebe sich sehnt, und unter den Engeln, die da sind vor GOttes Thron. Da kann es uns sein, wir hören Worte JEsu, in denen Er uns sagt, was wir in den einzelnen Verhältnissen und Fällen zu tun haben, oder sagt, was Er wider uns hat, wie wir uns erneuern und Seiner würdiger werden sollen. Ach, kein Mund kann es aussprechen, was für Offenbarungen aus der unsichtbaren Welt im Gebet erfahren werden! Wie oft darf man da einstimmen in das Wort:

Fahr' hin, was heißet Stund' und Zeit,
Man ist schon in der Ewigkeit,
Wenn man in JEsu lebet!'

Und wie sehen wir oft den Himmel offen, wenn wir zum heiligen Abendmahl gehen dürfen! Wie überströmt uns oft da eine selige Wonne, dass wir's gleich in allen Gliedern fühlen und ein göttliches Lebensfeuer uns durchzuckt vom Kopf bis zum Fuß! Oder wenn wir in der Gemeinschaft der Heiligen sind, in Versammlungen, über die der Geist des HErrn ausgegossen ist, wie fühlen wir da über das Irdische uns erhoben und sehen hinein in die himmlische Versammlung der Millionenmal Millionen seliger Geister, deren Liebe ein Meer von Seligkeit ist! Überhaupt alle die Blicke in den Himmel, die das Wort GOttes, besonders die Offenbarung, unserem Glaubensauge eröffnet, die Vergegenwärtigung der himmlischen Dinge, die, je lebhafter unser Glaube und je eindringlicher unser Gebet ist, desto mehr zu einem inneren Schauen wird, und dann der selige Friede, der bei solchen Hoffnungsblicken das Herz überströmt in der Gewissheit der Kindschaft GOttes, - das Alles ist ein Vorschmack des Himmels.

In allem bisher Genannten können wir such außerordentliche Offenbarungen sehen, Kräfte aus der unsichtbaren Welt, wunderbare Mitteilungen des dreieinigen GOttes an gläubige Menschenherzen, Verklärungen des Irdischen und Erhöhungen in den Himmel, die durch keine menschliche Vernunft und Kraft zu erlangen sind. Und doch ist Alles ganz auf dem ordentlichen Heilsweg durch den Gebrauch der von GOtt für Alle verordneten Gnadenmittel und täglich und für Alle zu erlangen, und es geschehen solche innere Geisteswunder fortwährend, nur unsichtbar und der Welt unbemerkbar. Für uns liegt darin einerseits der hohe Trost, dass die unsichtbare Welt, das Geisterreich mit seiner Seligkeit uns allezeit nahe ist, und nicht unendlich ferne von uns, wie unser Natursinn wähnt, andererseits aber sehen wir darin die kräftigste Aufforderung, vom Irdischen immer mehr los und so himmlisch gesinnt zu werden, dass wir unseren Schatz und unser Herz im Himmel haben. Dann sind alle außerordentlichen Offenbarungen aus der unsichtbaren Welt, so wie die ordentlichen Heilsmittel und alltäglichen Führungen uns ein mächtiger Trieb, in Selbst- und Weltverleugnung nach der Herrlichkeit zu trachten, die an uns soll offenbart werden, gegen welche alle Leiden und Freuden dieser untern Welt für nichts zu achten sind, denn

Schenkst Du schon so viel auf Erden,
Ach, was will's im Himmel werden!

Amen.

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