Hermes, Johann August - I. Am Neujahrstage.

Hermes, Johann August - I. Am Neujahrstage.

Evangelium, Luc. 2,21.

Und da acht Tage um waren, daß das Kind beschnitten wurde: da ward sein Name genennet Jesus, welcher genennet war von dem Engel, ehe denn er im Mutterleibe empfangen ward.

Gott, du lebst von Ewigkeit zu Ewigkeit! Deine Hand hat den Himmel ausgebreitet und die Erde gegründet. Alles was lebt, lebt durch dich. Auch uns kanntest du, eh wir noch da waren; sahst uns, da wir geboren wurden; siehst uns auch in diesem Augenblick, wie wir hier zur Betrachtung deines Wortes versammelt sind. Ja, noch mehr: alles Gute, was wir in unserm Leben empfangen haben, kommt von dir, dem Allgütigen, her. Auch im abgewichnen Jahr empfingen wir viele Wohlthaten aus deinen Händen. O wie groß ist ihre Summe, wenn wir darüber ernsthaft nachdenken! Und welchen demüthigen kindlichen Dank verdienst du also dafür, gütigster größter Wohlthäter!

Aber wir erkennen es auch aufs neue, o Vater, an diesem ersten Tage des Jahrs, daß wir auch ferner deiner bedürfen; und daß nicht nur das Glück des angetretenen Jahrs, sondern unsers ganzen Lebens von deiner gnädigen Regierung abhänge. Darum demüthigen wir uns vor dir, und befehlen deinem treuen Vaterherzen alle unsre größere und kleinere Sorgen und Wünsche. Erbarme dich aller Menschen; denn sie sind ja alle deiner Hände Werk. Erneure deine Gnade über unser deutsches Vaterland, über die preußischen Staaten, über diese Stadt und ganzes Stift. Segne unsre hohe Obrigkeit und alle diejenigen an diesem Ort, für welche wir sonst besonders zu beten verpflichtet sind. Dir empfehl ich diese liebe Gemeine, und einen jeden in seinem Stand und Beruf, zu deiner fernern Aufsicht, Versorgung und Leitung. Regiere du mit deinem Geist alle Lehrer der Wahrheit in Kirchen und Schulen, und besonders uns, die wir an einem gemeinschaftlichen Werke an dieser Gemeine arbeiten. Laß dein Wort jedesmal und auch an diesem ersten Tage des Jahrs reiche Früchte bringen zum Heil dieser Gemeine und zum Preise deines Namens. Amen.

Meine theuerste Freunde.

Jesus, von dessen Geburt zu Bethlehem wir im abgewichnen Feste gehört haben, hatte nun nach unserm heutigen Text die ersten acht Tage seines Lebens zurück gelegt. Freilich können in dieser kurzen Periode noch keine merkwürdige Begebenheiten vorkommen; es müßte denn das seyn, daß er gleich andern jüdischen Kindern dem am achten Tage gewöhnlichen kirchlichen Gebrauch der Beschneidung ebenfalls unterworfen wurde. Im übrigen war er jetzt eben das, was andre Kinder der Menschen in diesem Alter sind; folglich eben sowohl manchen Mühseligkeiten uno Abwechselungen des menschlichen Lebens unterworfen. Von dieser Seite finden wir also nichts Besonderes, wobey wir uns aufhalten dürften. Allein in andrer Absicht war sein Leben allerdings vom größesten Werth; und das nicht nur, in so fern es das menschliche Leben überhaupt ist, sondern in so fern er besonders zum Heilande der Welt bestimmt war. Ihr dürft euch, meine Werthesten, nur an dasjenige erinnern, was hievon ausführlicher im Weihnachtsfeste gesagt ist. Denn ich bin nicht Willens, euch hiemit an diesem Tage noch weiter zu unterhalten; sondern nur eine Veranlassung daher zu nehmen, um euch auf solche Betrachtungen führen zu können, die besonders auf die gegenwärtige Zeitveränderung passend sind.

Auch wir erfahren es täglich, wie flüchtig unser Leben ist; wie bald Tage und Jahre dahin eilen. Jeder Abend erinnert uns daran, und jeder Jahreswechsel noch weit lebhafter. So viel schöne Stunden und Tage sind abermals verlebt - sind dahin geflossen wie ein schneller Bach, dessen Wasser niemals zurückkehrt.- Demüthigend ist diese Betrachtung für uns freilich in mancher Absicht. Unser Leben ist gewissermaßen der Weg zum Grabe; und jede vollendete Periode desselben ein grösserer oder kleinerer Schritt, den wir auf diesem Wege vollenden. Wie thöricht war es unter solchen Umstanden, sich auf die gegenwärtige Zeit verlassen, oder sich gar im Besitz einer blühenden Gesundheit vor Gott und Menschen erheben zu wollen; da nichts unsicherer ist, als das menschliche Leben! Denn mit eben der Schnelligkeit, womit das vergangene Jahr unseren Augen entwischt ist, wird auch dies neu angetretene, ehe wirs denken, dahin eilen. Und wo ist ein Bürge, der uns die Versicherung geben könnte, daß wir's ganz zurücklegen werden? - Ach, Freunde, wie mancher unter uns wird heute übers Jahr nicht mehr diese Kirche betreten; nicht mehr unter den Lebendigen wohnen! …

Sehr traurig wär' es wahrlich, wenn wir nichts weiter, als eben dieses, von unsern irdischen Lebenstagen jagen könnten. Allein eben diese flüchtige Tage sind doch zugleich in anderer Absicht höchst wichtig. Das waren sie bey unserm Erlöser in vorzüglichem Grade. Das sind sie auch bey uns; wir mögen nun aufs Gegenwärtige oder Zukünftige hinsehn. Ich weiß daher nichts, was uns so aufmerksam auf die neue Zeit, welche wir antreten, machen könnte, als wenn ich euch jetzt den grossen Werth welchen unsere irdische Lebenstage haben, ausführlicher vortrage. Wir können uns von selbigem überzeugen, sowohl wenn wir zuerst allein den Genuß des gegenwärtigen Lebens erwägen; als auch, wenn wir weiter hinaussehn, und zweytens diese irdische Tage in ihrer Verbindung mit dem zukünftigen Leben betrachten.

Ohnstreitig, meine Lieben, muß uns dies gegenwärtige Leben schon um deswillen sehr theuer seyn, weil es ein Geschenk aus der Hand des Urhebers aller guten Gaben ist. Gott ist die Urquelle des Lebens, das ist, alles was lebet, das lebet durch ihn. Jedes Geschöpf seiner Hände, dem er nach seinem weisen Rath das Leben gibt, erhält dadurch schon einen Vorzug vor der ganzen unübersehlichen Reihe lebloser Dinge. Jedes Thier, jedes kleine kaum sichtbare Würmchen, so gering auch der Grad des Lebens in demselben seyn mag, steht doch in so fern auf einer höhern Stufe in der Rangordnung der Geschöpfe, als die schönste Pflanze, die nichts empfinden kann. Je fähiger nun weiter eine Kreatur ist, ihr Leben zu empfinden; je mehr sie sich dieser Empfindungen bewusst seyn kann: desto grösser wird dadurch der Werth ihres Lebens.

Und nun bedenkt, wie wichtig auch in dieser Absicht euer irdisches Leben seyn müsse. Denn ihr habt ja nicht blos das empfangen, was auch jedes Thier von seinem Schöpfer erhielt, nemlich sinnliche Empfindung, um schmecken, sehn, hören, riechen und fühlen zu können. Nein, der fromme Gott gab euch eine vernünftige Seele; erhob euch dadurch über alle übrige uns bekannte Geschöpfe dieser Erde; und setzte euch in den Stand, euer Leben weit besser gemessen zu können, als sie.

Allerdings müssen schon eure Lebenstage einen grossen Werth bekommen, wenn ihr auch bloß allein diese Glieder eures Leibes, die künstliche Werkzeuge der Sinne und die daher entstehende angenehme Empfindungen erwägt. Ihr könnt, euch deß freuen, daß ihr da seyd; könnt die Glieder eures Leibes bewegen, je nachdem es eure Bedürfnisse erfordern; könnt mit euren Augen viel angenehme Gegenstände erkennen - mit euren Ohren liebliche Töne vernehmen - die erquickende Düfte der Blume und Pflanzen mit den Geruchsnerven empfinden, durch den Geschmack an Speise und Trank euch ergötzen - und wie viel könnt ich hier sagen, wenn ich euch alle die sinnliche Vergnügungen herrechnen wollte, zu deren Genuß ihr von Gott Fähigkeiten bekamt! Und selten denn diese Fähigkeiten nicht auch ihren Werth haben? Sollten also die Tage eures Lebens nicht schon um deswillen schätzbar seyn, weil ihr in denselben auf so manche Weise durch Hülfe der Sinne belustiget werdet?

Doch ist dies nicht Alles; auch nicht das Vornehmste, wonach ihr ihren Werth bestimmen müßt. Ihr habt noch mehr vom Schöpfer empfangen, wie ihr bereits gehört habt. Durch vernünftige Anwendung eurer Kräfte könnt ihr es viel weiter in dem Genuß des Lebens, das ist, in eurem irdischen Glück bringen, als irgend ein andres lebendiges Geschöpf dieser Erde. Wolltet ihr lediglich euren sinnlichen Trieben folgen, so würd' euch das in manche schädliche Ausschweifungen stürzen; und ihr würdet dabey lange nicht so gut, als die unvernünftigen Thiere, fortkommen. Denn es ist sichtbar, daß ihr dazu von Gott geschaffen seyd, um vernünftig zu leben; das ist: mit kluger Ueberlegung eure Begierden zu ordnen, das Beste zu wählen, und dadurch euer zeitliches Glück weiter zu treiben, und euer Leben besser zu gemessen, als andere lebendige Geschöpfe dieses Erdbodens thun können. Welchen neuen Werth bekommen nun unsere Tage, so bald sie Tage eines vernünftigen Lebens sind! Wie viel werdet ihr gewöhnlicher Weise dabey an eurem Glück gewinnen, wie manchen Uebeln ausweichen, wieviel leichter in euren Berufsgeschäften und andern Unternehmungen fortkommen! Und wenn euch auch zuweilen Zufälle und Schwierigkeiten aufstossen, die ihr nicht überwinden könnt, so ist doch das allemal ein Trost für jeden vernünftigen Mann, wenn er gethan hat, was er nach seinen Kräften thun konnte. - Und nun schließt hieraus weiter, wie wichtig besonders diejenigen Tage seyn müssen an welchen ihr solche gute Kenntnisse und Erfahrungen einsammelt, oder solche Uebungen vornehmt, die euch zu besserer Ausrichtung eures Berufs und zum ruhigem Genuß eures Lebens beförderlich sind. Auch hieben kann der Mensch sehr viel thun, wenn er seine Kräfte gebraucht, sie immer mehr anbauet und dazu Mittel und Zeit treulich nutzet! Und wie wichtig müssen ihm in eben dieser Absicht ferner solche Tage werden, all welchen sich vorzügliche Gelegenheiten zur Erwerbung solcher Kenntnisse und Fertigkeiten finden! Wie köstlich ist daher die Jugendzeit, weil darin eigentlich die Zubereitung zum künftigen Leben geschehn soll! Ach, welch ein unersetzlicher Schade entsteht gemeiniglich aus liederlicher Verschwendung dieser schätzbaren Zeit! Wie viel gewinnt dagegen der kluge und sorgfältige Jüngling auf sein ganzes nachfolgendes Leben!

Es ist also, lieben Freunde, höchst vernünftig, Gottes Absichten gemäß und jedem rechtschaffenen Christen anständig, schon um dieses zeitlichen Gewinns willen seine Tage wohl anzuwenden, und den Werth seines Lebens nach eben dieser guten Anwendung zu berechnen. Denn nichts ist gewisser, als daß uns Gott darum in diese Welt gesetzt hat, um hier schon im gewissem Grade, und bald mehr bald weniger glücklich zu werden; und daß ers also gerne sieht, wenn wir so leben und handeln, daß wir seine Wohlthaten mit fröhlichem Herzen genießen können. Und eben so klar ist es, daß die Lehre Jesu schon darum die Verleugnung der sinnlichen und weltlichen Lüste verlangt und vor allen Arten der Laster warnt, dagegen aber Klug seyn in Anwendung unsrer Seelen- und Leibeskräfte und gemäßigte Begierden, Berufetreue und alle Tugenden gebietet; weil dies der ordentliche Weg für vernünftige Menschen ist, ihre sonst sehr flüchtige und zum Teil trübe Lebenstage heiterer und köstlicher zu machen. Und allemal bleibt es sträfliche Nachlässigkeit, wenn man sein irdisches Leben und das zu erhaltende zeitliche Glück für nichts rechnet. Selbst in dem Fall, wenn ein Christ aus redlichen Absichten seine ganze Sorgfalt so völlig auf die Seele und das zukünftige Leben richtet, daß er darüber sein gegenwärtiges Glück ganz oder doch weitenteils vernachlässiget, irret er nach allen Grundsätzen des Christenthums unleugbar. So lang wir das gegenwärtige Leben auf eine rechtmäßige Weise genießen können, müssen wir dies nie versäumen; oder wir handeln wider Gottes Absicht und mithin gegen unsre Pflicht.

Laßt uns nun auch weiter bedenken, meine Lieben, wie viele Wohlthaten wir in unsern Lebenstagen von Gottes Händen empfangen, wie unschätzbar eine jede derselben sey, und wiesehr die ganze unzählbare Menge derselben unsre Aufmerksamkeit verdiene. Dessen nicht zu gedenken, was er täglich zur Erhaltung unsers Lebens an uns thut; so wisst ihr ja alle, wie manches besondere Gute uns in unserm Leben durch Gottes Güte zustießt; so daß gewisse Zeiten und Tage dadurch vor andern ausgezeichnet werden, und in solcher Absicht einen zwiefachen Werth bekommen. Nicht unser ganzes Glück können wir uns durch Fleiß und Treue erarbeiten; sondern es muß auch in unsern äußerlichen Umstanden vieles auf eine günstige Weise zu unserm Besten zusammentreffen, welches offen, bar nicht in unsrer Gewalt, sondern lediglich unter Gottes alles umfassenden Regierung steht. Wie viel Zufalle können unsrer Gesundheit, Ruhe und ganzem glücklichen Fortkommen nachteilig werden! Und wie viele können auf der andern Seite die Erfüllung unsrer Wünsche befördern! Wenn nun letzteres durch Gottes gnädige Fügung geschieht: sollen wir das nicht erkennen? Nicht jede Probe seiner Fürsorge, seiner Errettung und seines Segens in dankbarem Andenken behalten? - O Freunde, laßt uns zurückdenken und diese besondere Wohlthaten Gottes in der verstoßenen Zeit unsers Lebens aufsuchen! Ohne Zweifel enthält auch das abgewichene Jahr nicht wenige Spuren davon. Vielleicht waret ihr krank, oder ihr befandet euch in andrer Lebensgefahr: und Gott errettete euch daraus. Vielleicht hattet ihr Nahrungssorgen, oder andere Bekümmernisse; und Gott zeigte euch Mittel und Wege, um auf eine glückliche Weise davon befreyet zu werden. Vielleicht wünschte sich euer Herz dies oder jenes besondere Glück: und der Allwissende, der euer Verlangen sähe, war so gnädig, euch dasselbe zu gewähren. Oder ihr unternahmt Arbeiten, und sie geriethen durch dazu kommende günstige Umstände vorzüglich gut. Oder es traf euch gar ein unvorhergesehenes Glück, wozu ihr selbst durch Fleiß und Klugheit wenig oder nichts beytragen konntet - Wohlan, merkt euch diese Tage der göttlichen Hülfe und seines beglückenden Segens! Schätzet ein Leben nicht gering, das Gott auf solche Art merkwürdig gemacht hat. Freuet euch seiner, als eures Erretters, Führers und besondern Wohlthäters, und preiset ihn eben durch diesen fröhlichen Genuß der Wohlthaten, welche er euch schon erzeigt hat, oder noch erzeigen wird. Denn je mehr eure irdische Tage durch solche Beweise des göttlichen Wohlthuns ausgezeichnet sind, desto merkwürdiger ist das ganze Leben; und desto mehr Ursach habt ihr auszurufen: Lobe den Herrn meine Seele und vergiß nicht, was er dir Gutes gethan!

- Das geb ich alles zu, wird vielleicht mancher unter euch bey sich selbst sagen so lang ich das menschliche Leben nur von seiner guten Seite, da es durch besondre Wohlthaten Gottes merkwürdig wird, betrachte. Aber wie kurz, mühselig und elend ist es dagegen in andern Fällen? Wie schnell werden so viele Kinder, Jünglinge und Männer in ihren besten Lebensjahren durch den Tod dahin gerissen! Wie voll Mühe Arbeit und Kummer ist das Leben vieler andern! Wie wenig genießen sie von den Freuden, die vielen ihrer Brüder in so reichem Maaße zu Teil werden! Und was soll nun ein so kurzes, müh- und angstvolles Leben für einen besondern Werth haben? - Auf diese Einwendungen, lieben Freunde, ließe sich immer noch vieles mit Grunde antwortet Ich könnte euch zeigen, daß auch in dem kürzestem und unglücklichsten Leben noch allemal Wohlthaten Gottes übrig bleiben, die demselben seinen Werth geben. Indeß wollen wir uns jetzt bey einer solchen Rechtfertigung der göttlichen Regierung nicht aufhalten. Ihr wisst als Christen, daß dies Leben noch einen andern Werth habe, der nicht aus dem gegenwärtigen Genuß, sondern aus seiner Verbindung mit dem uns bevorstehenden ewigen Leben entsteht. Genug für uns, daß wir dies wissen, und daß wir hinlängliche Gründe haben, die uns davon überzeugen können! Wohl auch mir, daß ich Recht und Ueberzeugung habe, euch eure irdische flüchtige Tage von dieser neuen köstlichen Seite zeigen zu dürfen! O was wär ich, und was wäre mein Amt, und mit was für Freudigkeit könnt ich heute am ersten Tage des Jahrs unter euch auftreten, wenn ich euch nur allein zur Werthachtung und zum Genuß des gegenwärtigen Lebens auffordern dürfte! Aber nun freuet euch mit mir. Denn wir leben für die Ewigkeit! Gott hat uns seinen Sohn geschenkt; auf das alle die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben sollten.-

Und in dieser neuen Verbindung, Freunde, lasset uns unser Leben noch etwas näher betrachten!

Hier ist das Erste, was ich euch sagen kann, daß diese irdische Tage doch wirklich den Anfang eines ewig fortdaurenden Lebens ausmachen. Mögen sie doch noch so kurz und freudenleer seyn, so sind sie dennoch das erste Glied an einer Kette, die ins Unendliche fortgeht! Wer wird nicht einen jungen Schößling, so unfruchtbar er auch ist, schon um deswillen werth halten, weil aus demselben ein schöner fruchtbarer Baum werden kann? Und welcher Gartenfreund verwahret nicht die jungen Pflanzen welche künftig Blumen tragen sollen, im Winter aufs sorgfältigste? - Laßt es also seyn, daß ein Leben nur wenig Stunden, Tage oder Jahre dauert: so war's doch das Leben eines Menschen, das erste Wachsthum einer jungen Pflanze, die erst in jener Zukunft blühen und Früchte bringen soll. Zwar scheint es im Tode eben so erstorben zu seyn, wie das Leben einer Pflanze im Winter. Doch der Frühling kommt wieder! - Er kommt, so wahr ein Gott ist; und - O welch eine Aussicht - er währt alsdenn ewig! Kein Tod stört forthin ein Leben, das der Vater der Menschen zum ewigen Wachsthum bestimmt hat - Das ist Trost, wenn wir selbst einem frühzeitigen Tode entgegen sehn müssen; Trost bey dem frühen Hingang derer, die wir lieb haben; Trost beym Wechsel der Zeit, wenn Wir die Flüchtigkeit unsrer Tage so lebhaft wahrnehmen! Auch heute, theureste Freunde, mache dieser Gedanke alle Herzen fröhlich, die den Werth des Lebens und den Durst nach Ewigkeiten bey sich selber empfinden!

Noch mehr: dies irdische Leben verhalt sich zur Zukunft, wie die Saatzeit zur Erndte. Was der Mensch hier säet, soll er dort erndten. Es ist die Erziehungs- oder Vorbereitungszeit zur Ewigkeit. Hier sollen wir Weisheit lernen, und durch Fleiß und Treue solche gute Menschen werden, die dort im Lande der Wahrheit und Freyheit das höhere Glück, zu welchem sie berufen sind, ohne fernere Störung genießen können. Welchen Werth giebt diese Betrachtung unserer irdischen Lebenstagen, auch sogar in dem Fall, wenn sie durch Nachlässigkeit des Menschen nicht nach Gottes väterlicher Absicht als eine Vorbereitungszeit wirklich angewandt werden! Oder ist etwa die Saatzeit um deswillen weniger schätzbar, weil es immer nachlässige Hauswirthe giebt, die sie wenig benutzen, oder ihre Felder gar zur Unzeit brach liegen lassen, und dadurch nach und nach in Armuth und Elend gerathen? - Bedauern muß man die armen Leute, die das so wenig bedenken, wozu sie auf Erden leben: die in viehischen Lüsten oder in träger Sorglosigkeit ihre Tage verbringen, und zufrieden mit dem gegenwärtigen Genuß auf die Zukunft nicht denken. Aber wir selbst sollen nur desto aufmerksamer und geschäftiger seyn, um die Zelt, die uns von Gott geschenkt ist, aufs beste zu unserm ewigen Nutzen auszukaufen. O wie groß und wichtig ist dieser Beruf!

Hieraus folgt sogleich unwidersprechlich, daß alsdenn unsre Tage ihren Werth auf ewig erhalten, wenn wir sie hier so anwenden, daß Wir uns ihrer dereinst ohne bittere Reue erinnern können. Indem wir unsre Pflichten nach den Vorschriften des Christenthums mit Redlichkeit erfüllen, so geben wir dadurch unsern Tagen diesen neuen Werth. Folglich gehört Hieher selbst die christliche Verwaltung unsrer Berufsgeschäfte; indem die Lehre Jesu solche ausdrücklich gebietet. Diejenige Stunden und Tage, in welchen ihr als Bürger, Eltern und Eheleute, oder in andern Aemtern, Würden und Verbindungen treu und rechtschaffen gehandelt habt sind also keineswegs verloren; zumal wenn ihr andre gute Werke, die euch daneben geboten sind, nicht unterlassen habt. Wer im Geringen nicht treu ist, der ist auch nicht im Grossen treu. Wer also nicht einmal seine Berufspflichten zu erfüllen weiß- wie will der andere höhere Tugenden auf eine dem Christen anständige Weise ausüben? Auch die Tage des geringsten Taglöhners können also dadurch ihren besondern Werth erlangen, wenn er mit redlichem Herzen seinen Herrschaften dient, und seine zum Teil mühvollen Arbeiten willig und fleißig verrichtet. Wo ist irgend ein so niedrig Geschäft, wenn es nur an sick nicht den Grundsätzen des Christenthums widerspricht, in welchen man keine Gelegenheit hätte, redlich zu handeln? Und wo also ein Mensch wenn er dies nach seinen besten Gewissen thut, den wir gering schätzen, oder wegen seines Standes des ewigen Lebens unwerth erklären dürften? - Laßt uns dies wohl beherzigen, lieben Freunde! Es liegt viel Beruhigung in dieser Wahrheit für diejenigen, die zu einem mühseligen und niedrigen Stande berufen sind. Aber auch viel Ermunterung für andere, in ihrem wichtigern Amt uno Beruf christlichen Ernst und Treue zu beweisen.

Aus den bisherigen Betrachtungen laßt sich nun leicht angeben, welche Tage unsere Lebens einen vorzüglichen Werth m dieser ihrer Verbindung mit der Ewigkeit erhalten. Alle diejenigen, welche wir besonders zur Zubereitung auf jene Zukunft anwenden können, gehören zuvörderst Hieher. Noch mehr aber diejenigen, an welchen sie die vorhandne Mittel und Gelegenheit wirtlich zu solchem Zweck redlich gebraucht haben. Wie wichtig werden daher alle die Stunden und Tage, in welchen wir Gelegenheit haben, uns von den Willen Gottes besser zu unterrichten! Oder die Tage, da wir von nützlichen Wahrheiten neue und festere Überzeugungen erhalten - oder, da wir Anlaß bekommen, noch mehr in unserm eignem Herzen zu forschen und in der Kenntniß unsrer selbst weiter zu kommen! - Wie wichtig bis Tage, da wir tobende Lüste oder alte Gewohnheiten bekämpfen, und sie glücklich überwinden - oder da wir Ermunterung und Gelegenheit zur Vollbringung edler Thaten und menschenfreundlicher Handlungen bekommen! - O wie schön werden auf solche Weise alle diese Tage ausgezeichnet, und wie groß wird alsdann ihr Werth vor Gott und unserm eignen Gewissen! Denn keine Erinnerung ist so angenehm für ein Herz, das noch christlich Gefühl hat, als an Tage und Zelten, die man vorzüglich gut angewandt, das ist, durch wahrhaftig gute Handlungen merkwürdig gemacht hat.

Selbst die sonst so trüben Tage der Trübsal haben in. der Verbindung mit der Ewigkeit ihren unleugbaren Werth, wenn sie nach der evangelischen Anweisung genutzt werden. Trübsal bringt Geduld; Geduld aber bringt Erfahrung, Erfahrung aber bringt Hoffnung. Wie viel demüthiger und geschmeidiger wird das Herz durch manche äußerliche Leiden gemacht! Wie viel aufmerksamer gemeiniglich auf die Stimme der Wahrheit und auf den stärkenden Trost des Evangelii! Wie wächst das Verlangen nach dauerhaften Gütern unter dem Druck der Widerwärtigkeiten, folglich auch die himmlische Gesinnung, die uns zu jenen Freuden fähig macht: Vielleicht ist es nicht zu viel gesagt, wenn ich in Absicht vieler Christen behaupte, daß die Tage der Noth für sie von grösserem Werth seyn, als die Tage der Freuden. Jene Zukunft wird uns das völliger aufklären, und zugleich der weisen Fürsehung Gottes zur volkommensten Rechtfertigung dienen.

Endlich, Freunde, laßt uns hieben noch einen ernsthaften Blick auf den Tag hinwerfen, der uns allen zuverlässig bevorsteht. Ich meyne, wie ihr leicht merken werdet, unsern Sterbetag. Ist je ein Tag unsers Lebens wegen seiner Folgen wichtig, so ist es dieser. Welchen Werth hat er, wenn wir ihn mit christlichen Gesinnungen antreten und vollenden! Ich sage mit Fleiß, antreten und vollenden. Arme bedauernswürdige Menschen, die bis dahin ihre Besserung aussetzen, und nun erst, mit dem Tod auf der Zunge zu dem Allgerechten um Gnade schreyn! Was für Trost kann ein Herz in den letzten Stunden erhalten, wenn das ganze Leben dem aufwachenden Gewissen beissende Vorwürfe macht? Doch hievon jetzt nichts mehr. Heil dem Christen, der bey Annäherung seines Sterbetages getrost seine Augen zu Gott aufheben und ihm seine Seele anbefehlen kann! der's weiß, daß ihm Gott auch durch Christum begnadiget hat, und daß Tod Grab und Ewigkeit seinem wahren Glücke nicht schaden! Welch ein Siegestag wird alsdenn dieser sonst so furchtbare Tag! Wahrlich, ein Tag der Errettung und des Uebergangs aus einem unruhigen flüchtigen Leben zur seligen friedevollen Unsterblichkeit -

Steht hier noch einen Augenblick stille, liebe Zuhörer, um über das, was ihr gehört habt, ernsthaft nachzudenken. Von dem großen Werth unsrer irdischen Lebenstage werdet ihr hoffentlich überzeugt seyn. Und mit diesen Überzeugungen seht nun in das verfloßene Jahr, ja in die ganze Lebenszeit zurück. Entscheidets vor Gott und eurem Gewissen, wie die kostbaren Tage bisher von euch angewandt sind, und welchen Werth also euer Leben haben kann, wenn ihr die Sache nach den Lehren des Christenthums untersucht. Heuchelt euch selbst bey dieser Untersuchung nicht, denn es kommt dabey nicht blos auf den Verlust von ein paar Lebensjahren, sondern auf Ewigkeiten an. Traurig war es doch, wenn ihr so viele köstliche Zeit in Unwissenheit, Leichtsinn und Ruchlosigkeit zugebracht, und also in der That auf ewig verlohren hattet! Und noch trauriger, wenn ihr darüber keine Vorwürfe in eurem Gewissen und keine herzliche Triebe zur künftigen Besserung verspürtet. Hat's euch denn Nicht das vergangene Jahr gelehrt, 0 ihr schlummernde Christen, wie schnell unsere Tage dahin eilen? - Und dies kurze Leben wollet ihr ferner verschleudern? Wollet nicht Weisheit lernen, nicht Schätze der Tugend einsamlen, um, wenn dies Jahr das letzte wäre, nicht wenigstens etwas zu haben, wovon Ihr mit Recht sagen dürft: das ist mein Schatz; den nehm ich in die Ewigkeit mit, - Nein, Freunde, die ihr den Werth des irdischen Lebens erkennt, so thöricht laßt uns nicht handeln! Köstlich sey uns jeder Tag und jedes Jahr, das uns Gottes Güte noch schencken wird. Friedlich und dankbar wollen wir seine Gaben genießen, wenn es uns wohl geht. Demüthig wollen wir ihn ehren, wenn wir die Mühseligkeit dieses Lebens erfahren müßen. Vor allen Dingen aber sey dies unsere erneuerte Entschliessung, so forthin zu leben, daß wir immer reicher werden an Erkenntniß, Hoffnung und guten Werken. Ja, immer besser wollen wir's lernen, jeden Tag so anzuwenden, daß wir uns seiner in jener Zukunft mit getrostem Muth erinnern dürfen Alsdenn können wir erndten ohne Aufhören, die Ewigkeit zu gebrauchen. Lehr uns beydes klüglich bedenken. Auch mit diesem neuen allen bekannt, daß kein Tag desselben verloren geht, den wir dir und der Gottseligkeit widmen. O wie dank ich dir mit allen deinen Freunden für diese Ueberzeugung! Ich arbeite für die Ewigkeit; und ein jeder meiner Zuhörer, der da christliche Gesinnungen hat, ebenfalls. Hilf uns, Herr, daß es uns auch in diesem Jahr gelinge. Segne insonderheit meine Amtsführung zu diesem Ende überschwänglich. Amen.

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