Brenz, Johannes - Auslegung des Vaterunser - Die fünfte Bitte.

Brenz, Johannes - Auslegung des Vaterunser - Die fünfte Bitte.

Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.

In der vierten Bitte haben wir das erbeten, was uns zur Erhaltung des leiblichen Lebens notwendig ist. Auf dass nun Niemand glaube, wir seien nur zum Erwerb und zum Genuss leiblicher Güter geboren, wird alsbald eine Bitte um ein geistliches, himmlisches Gut hinzugefügt, nämlich um Vergebung der Sünden. Und fürwahr! unser Herz muss sich mit großer Sorgfalt auf diese fünfte Bitte richten, weil darin die höchste Wohltat beschlossen liegt, und wenn wir dieselbige erlangen, so wird uns nichts mehr zur Gewinnung des wahren Heils mangeln können, wie wir an einem anderen Orte erklärt haben.

Zuerst nun lasst uns beachten, dass wir in dieser Bitte nicht um Erlass leiblicher oder bürgerlicher Schulden bitten, als da sind Schulden an Geld, an Getreide, an Wein und anderen Dingen der Art, wie sie Einer dem Anderen bürgerlichen Verträgen zufolge schuldet; denn ein Jeglicher muss seinem Nächsten, soweit das geschehen kann, bezahlen, was er ihm nach bürgerlichen Verträgen gesetzlich schuldig ist. So lehrt Paulus Röm. 13,7: „So gebt nun Jedermann, was ihr schuldig seid: Schoß, dem der Schoß gebührt, Zoll, dem der Zoll gebührt, Furcht, dem die Furcht gebührt, Ehre, dem die Ehre gebührt.“ Und wird hinzugesetzt „seid Niemand Nichts schuldig, denn dass ihr euch unter einander liebt.“ D. h.: alle bürgerliche Schulden muss man so abzahlen, dass man im bürgerlichen Leben Niemanden mehr Etwas schuldig ist. Das Übrige ist jedoch eine andere Schuld, die wir sowohl immer schuldig sind, als auch niemals in dieser Welt [völlig] bezahlen können, nämlich: unseren Nächsten lieben und ihm wohltun. Durch diese Schuld werden wir immer in Verpflichtung erhalten, während wir alle anderen abtragen können. Hierher gehört auch, was Christus sagt Matth. 5,25.26: „Sei willfährig1) deinem Widersacher bald, dieweil du noch bei ihm auf dem Wege bist, auf dass dich der Widersacher nicht dermaleinst überantworte dem Richter, und der Richter überantworte dich dem Diener, und werdest in den Kerker geworfen. Ich sage dir, wahrlich, du wirst nicht von dannen herauskommen, bis du auch den letzten Heller bezahlst.“ D. h. Niemand verweigere unter dem Vorwande des Christentums, oder gebe seinem Nächsten nicht wieder, was er ihm den bürgerlichen Gesehen zufolge schuldet. Denn so er's nicht wiedergäbe, hat die bürgerliche Obrigkeit das Recht, ihn zur Wiedergabe dessen zu zwingen, was er schuldet. Diese Zahlung bürgerlicher Schulden aber gehört zum täglichen Brot.

Daher bitten wir in Bezug auf solche Schulden in der Bitte um das tägliche Brot, dass Gott unsere Arbeiten und Geschäfte gnädig gedeihen lasse, damit wir unsere Gläubiger befriedigen und unsere Schulden bezahlen. In dieser fünften Bitte aber, darin wir sagen: Vergib uns unsere Schulden! verstehen wir unter dem Begriffe „Schulden“ geistliche Schulden, als da sind Sünden und Strafen, die wir unserer Sünden wegen Gott schuldig sind. Denn 1. Mose 2,16.17 spricht der Herr zu Adam: „Von dem Baum des Erkenntnisses Gutes und Böses sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon isst, wirst du des Todes sterben.“ Adam hat aber dieses Gebot Gottes übertreten und gegessen; darum ist er Gott alsbald den Tod schuldig gewesen. Und Paulus sagt Röm. 5,12: „Durch die Sünde ist der Tod in die Welt gekommen.“ Und wiederum Röm. 6,23: „Der Tod ist der Sünden Sold.“ Ferner werden unter dem Begriff des Todes zusammengefasst alle leibliche und geistliche Trübsale in diesem Leben und die ewigen Strafen nach diesem Leben. Darum ist ein jeglicher Mensch ein Sünder, und zwar sind alle Menschen, nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Kinder Sünder. Ein Solcher schuldet dem Herrn unserem Gott alle Strafen, sowohl die leiblichen und zeitlichen, als die geistlichen und ewigen. Was gibt es Schwereres und Schrecklicheres als diese Schulden? Daher lehrt uns Gottes Sohn Vergebung unserer Schulden erbitten, damit uns die Sünden erlassen und wir von ihren Strafen frei werden.

Zweitens, wenn Christus nicht nur die Apostel, sondern die ganze Kirche Vergebung ihrer Schulden oder Sünden erbitten lehrt, so lehrt er eben damit seine Kirche bekennen, dass sie eine Sünderin ist. Denn obschon die Kirche heilig heißt, um Christi willen, durch den Glauben, hat sie doch, so lange sie auf Erden ist, noch Sünden an sich. Nicht alle Frommen zwar, welche Glieder der Kirche sind, sündigen durch äußerliche Werke, alle jedoch tragen das Fleisch, in welchem noch die Sünde wohnt, auch nach dem Empfang des Heiligen Geistes. Deshalb spricht Psalm 143,2: „Vor dir ist kein Lebendiger gerecht.“ Und Psalm 130,3: „So du willst, Herr, Sünde zurechnen, Herr, wer wird bestehen?“ Und wiederum Psalm 32,5.6: „Ich sprach: Ich will dem Herrn meine Übertretung bekennen; da vergabst du mir die Missetat meiner Sünde. Dafür werden dich alle Heilige bitten zu rechter Zeit.“ Und Röm. 7.23: „Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüt [d. i. dem Heiligen Geist], und nimmt mich gefangen in der Sünden Gesetz, welches ist in meinen Gliedern.“ 1. Joh. 1,8: „So wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.“ Wenn wir also diese Bitte aussprechen, so sprechen wir damit das öffentliche und das persönliche Bekenntnis der ganzen Kirche in Betreff ihrer Sünden aus, welche auch nach der Wiedergeburt im Fleische zurückbleiben, und deren Überbleibsel immerdar gerechtfertigt werden müssen.

Endlich, wenn uns Gottes Sohn Vergebung unserer Sünden erbitten heißt, so ermahnt er uns eben damit, zu erkennen, dass wir unsere Schulden nicht bezahlen und für unsere Sünden genugtun können durch das Verdienst unserer eigenen Gerechtigkeit, sondern solche Vergebung bittweise annehmen müssen von Gottes lauterer Gnade, nur um Jesu Christi willen, durch den Glauben. Denn könnten wir die Sünden durch unsere Verdienste sühnen vor Gott, so ist Gottes Sohn gewiss ein so zuverlässiger Lehrer seiner Kirche gewesen, dass er ihr jene Werke gezeigt hätte, die wir zur Sühnung unserer Sünden tun müssten. Nun aber schreibt er uns nicht dreitägige oder viertägige Fasten vor oder Schlafen auf bloßer Erde oder Wachen oder andere Werke, die wir zur Sühnung der Sünden tun sollten. Er schreibt uns zwar alle ehrbaren Tugenden vor, welche das göttliche Gesetz erheischt, schreibt sie aber nicht vor als Verdienste zur Sühnung unserer Sünden, sondern als Zeugnisse des wahren Glaubens und der Dankbarkeit gegen Gott. Um aber Vergebung unserer Sünden zu erlangen, schreibt er uns die Bitte vor: Vergib uns unsere Schulden! Er gibt also deutlich zu verstehen, dass wir die Vergebung unserer Sünden bittweise empfangen, d. i. nicht durch menschliches Verdienst, sondern durch Gottes freie Barmherzigkeit, und zwar durch den Glauben an Jesum Christum, welcher allein die Versöhnung für unsere Sünden ist. Petrus spricht Ap.-Gesch. 10,43: „Von Diesem zeugen alle Propheten, dass durch seinen Namen Alle, die an Ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen.“ Und Paulus Ap.-Gesch. 13,38.39: „Euch wird verkündigt Vergebung durch Diesen, und von dem Allen, durch welches ihr nicht konntet im Gesetz Mosis gerecht werden. Wer aber an Diesen glaubt, der ist gerecht,“ d. h. er wird losgesprochen von seinen Sünden.

Daraus erhellt, dass Gottes Sohn, indem er das Gebet des Herrn und zumal diese Bitte um Vergebung der Schulden lehrte, erstlich alle Opfer der Juden, welche zur Sühnung der Sünden geschahen, zweitens alle Messen der Priester, die zur Genugtuung für die Sünden der Lebendigen und der Toten gehalten werden, abgeschafft und verworfen hat; endlich alle Mönchsorden und alle Gottesdienste der Heuchler, durch deren Verdienst die Leute auf Vergebung ihrer Sünden rechnen. Eine wunderbare Sache! Die Priester, Mönche und andere Heuchler pflegen das Gebet des Herrn fast in all' ihren Gottesdiensten herzusagen und oft und viel zu wiederholen, eben damit aber verdammen sie ihre eigene Religion und ihre Gottesdienste. Denn wenn uns die Vergebung unserer Sünden nur bittweise zu Teil, d. h. umsonst, allein durch Gottes Barmherzigkeit, durch den Glauben, in welchem wir bitten im Namen Christi: so kann sie uns gewiss nicht zu Teil werden durch die Verdienste menschlicher Gerechtigkeit. Paulus spricht Röm. 4,4.5: „Dem, der mit Werken umgeht, wird der Lohn nicht aus Gnaden zugerechnet, sondern aus Pflicht. Dem aber, der nicht mit Werken umgeht, glaubt aber an Den, der die Gottlosen gerecht machet, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit.“ Röm. 11,6: „Ist's aus Gnaden, so ist's nicht aus Verdienst der Werke, sonst würde Gnade nicht Gnade sein. Ist's aber aus Verdienst der Werke, so ist die Gnade nichts, sonst wäre Verdienst nicht Verdienst;“ d. h. wenn wir Vergebung der Sünden und Heil durch die Verdienste unserer Werke erlangten. Sprechen wir also diesen Teil vom Gebete des Herrn aus, so mögen wir dessen eingedenk sein, dass wir vor Gott unsere Sünden und unsere Verdammnis bekennen, aber darauf trauen, dass uns die Sünden um Christi willen gnädig vergeben und wir von der ewigen Verdammnis, der wir um der Sünden willen unterworfen waren, durch Gottes freie Barmherzigkeit losgesprochen werden.

Doch was bedeutet jener Anhang: wie wir vergeben unseren Schuldigern? Das scheint nämlich so zu lauten, als müsste der himmlische Vater uns die Sünden dann erst vergeben, wenn wir Solches durch unsere Vergebung verdienten. Man muss aber keineswegs meinen, als habe Gott seine Vergebung auf das Verdienst oder die Gegenzahlung unserer Vergebung gestellt: denn so würden wir niemals wahre Vergebung unserer Sünden erlangen, weil wir ja unserem Nächsten das uns angetane Unrecht niemals vollkommen vergeben. Darum erfordert die Notwendigkeit unseres Heils, dass die Vergebung unserer Sünden bestehe allein auf Gottes Barmherzigkeit um Jesu Christi willen, durch den Glauben.

Die menschliche Natur ist durch die Erbsünde so verderbt, dass, ob auch der Mensch die Gabe des Heiligen Geistes empfängt, dennoch Fleisch und Blut niemals das vom Nächsten angetane Unrecht von Herzen vergibt und verzeiht. Denn es hat eine natürliche, von der Sünde erregte Begierde, sich zu rächen. Röm. 7,18: „Ich weiß, dass in mir, d. i. in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes; wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht.“ D. h. ich wünsche mich nicht nur der äußerlichen Sünden zu enthalten, sondern auch von der Begierde nach Sünden frei zu sein. In der Tat aber finde ich, dass ich dennoch, wenn ich gleich durch den Heiligen Geist der Begierde widerstehen kann, sie nicht gänzlich ausrotten kann, bis ich sterbe. Gal. 5,17: „Das Fleisch gelüstet wider den Geist, und den Geist wider das Fleisch. Dieselbigen sind wider einander, dass ihr nicht tut, was ihr wollt.“ Lasst uns etliche Beispiele dafür ansehen.

David war von Saul durch die schwersten Ungerechtigkeiten verletzt, welchem er auch seine Schuld also vergab, dass er seiner, obschon er ihn in Händen hatte, und ihn hätte töten können, dennoch verschonte und sprach: „Lasse der Herr ferne von mir sein, dass ich meine Hand sollte an den Gesalbten des Herrn legen“ (1. Sam. 26,11). Und dennoch wagt David, als er seinen Todfeind so wohlwollend unverletzt von sich gelassen hatte, sein Vertrauen nicht auf dies Werk seiner Vergebung zu sehen, sondern ruft, weil er in sich noch den Widerstand des Fleisches und die Begierde nach Rache spürt, Ps. 143,2: „Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knechte, denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht.“ Und Ps. 130,3: „So du willst, Herr! Sünde zurechnen, Herr! wer wird bestehen?“ Dem Paulus ist von seinen Juden das größte Unrecht widerfahren, welche ihm auch nach dem Leben standen, aber diese Ungerechtigkeiten und Rohheiten hat er ihnen so verziehen, dass er für sie ein Fluch zu sein wünschte. Und dennoch wagt er es nicht, auf diese seine Verzeihung vor Gott zu bauen. Röm. 7,22.23: „Ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte, und nimmt mich gefangen in der Sünden Gesetz, welches ist in meinen Gliedern.“ Phil. 3,9: „Dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christum kommt.“ Und es ist kein Zweifel, dass Paulus dasselbe gemeint und von sich bekannt habe, was Johannes sagt 1. Joh. 1,8: „So wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.“ Obschon nämlich die Heiligen ein gutes Werk tun, so ist's doch, weil noch in ihrem Fleische die Erbsünde übrig ist, unmöglich, dass nicht das gute Werk durch diese Sünde befleckt und so unvollkommen und unrein gemacht wird, dass sie vor Gottes Richterstuhl sich nicht darauf verlassen können. Daher ist dieser Anhang: wie auch wir vergeben unseren Schuldigern nicht so zu verstehen, dass Gott seine Vergebung unserer Sünden auf das Werk oder Verdienst unserer Vergebung gestellt habe.

Ap.-Gesch. 10,43: „Von Diesem zeugen alle Propheten, dass durch seinen Namen Alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen.“ Eph. 2,8.9: „Aus Gnaden seid ihr selig geworden, durch den Glauben, und dasselbige nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus den Werken, auf dass sich nicht Jemand rühme.“ Tit. 3,4.5: „Da erschien die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes, unseres Heilandes, nicht um der Werke willen der Gerechtigkeit, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit machte er uns selig.“

Wenn uns nun die Vergebung der Sünden nicht aus Verdienst unserer Vergebung, sondern nur durch das Verdienst unseres Herrn Jesu Christi vermittelst des Glaubens zu Teil wird, - welches ist der wahre Sinn dieses Anhangs: wie auch wir vergeben unseren Schuldigern? Dieser Anhang ist kein Ruhm wegen des Verdienstes unserer Gerechtigkeit, sondern er ist ein Versprechen der Dankbarkeit, in welcher wir es auf uns nehmen, für die Wohltat der Sündenvergebung dankbar zu sein. Und der Sinn ist: Wir bitten, himmlischer Vater! dass du uns unsere Sünden in Gnaden, um Christi, deines Sohnes, willen vergibst. Wir nehmen es dagegen auf uns, auch unseren Nächsten, die gegen uns ungerecht gewesen sind, all' ihre Sünden zu verzeihen. Denn dass die Vergebung fremden Unrechts gegen uns kein Verdienst sei, um des willen wir Vergebung der Sünden vor Gott erlangen, sondern eine Frucht sei, welche dem Glauben folgen muss, der die Sündenvergebung umsonst von Gott empfängt: das bezeugt Christus selbst Matth. 18,23-35 in dem Gleichnis von den zwei Schuldnern. Als nämlich der König, von Barmherzigkeit bewegt, dem einen Schuldner 10.000 Pfund erlassen hatte, und dieser Schuldner von seinem Mitknechte 100 Groschen aufs härteste eintrieb, da hört er von dem Könige: „Du Schalksknecht! alle diese Schulden hab' ich dir erlassen, dieweil du mich batest; solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe?“ Und es wird hinzugefügt: „Also wird euch mein himmlischer Vater auch tun, so ihr nicht vergebt von eurem Herzen, ein Jeglicher seinem Bruder seine Fehler.“

Hier werden zwei Stücke gelehrt: einmal, dass wir zwar der Knechtschaft und Gefangenschaft des Todes und der Hölle wegen unserer Sündenschulden unterworfen sind, und dennoch, wenn wir Gottes Barmherzigkeit durch Christum, seinen Sohn, anflehen, Sündenvergebung erlangen, umsonst, ohne Verdienst von Werken.

„Da jammerte den Herrn“ heißt es „desselbigen Knechts, und er ließ ihn los, und die Schuld erließ er ihm auch.“ Sodann, wenn auf den Empfang der freien Vergebung der Sünden keine Liebe gegen den Nächsten folgt, und wir fahren fort, aufs härteste unser Recht einzutreiben, ist das ein Beweis, dass wir entweder den wahren Glauben nicht haben oder, so er wahr ist, ihn verlieren. Denn wer im Gebete des Herrn diesen Teil betrachtet: Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, inzwischen aber wider seinen Nächsten auf Rache sinnt und ihn zu allem Unheil verwünscht: was erbittet er in diesem Gebete Anderes, als dass Gott alle Arten von Blitzen auf ihn schleudere, und ihn in die äußersten Lästerungen stürze? Denn ein solcher Beter wünscht, dass dergleichen seinem Nächsten widerfahre. Darum ist's zu unserem Heile durchaus notwendig, sobald wir von Gott die freie Vergebung unserer Sünden empfangen haben, auch unserem Nächsten seine Sünden wider uns zu verzeihen. Wir reden hier nicht von dem ordentlichen, gesetzmäßigen Anspruche auf sein Recht, der [einem Jeden] natürlich gestattet ist. Denn zu diesem Behuf ist die bürgerliche Obrigkeit da, dass sie Gottes Dienerin sei, dir zu Gute, und eine Rächerin zum Zorne für den, der Übles getan hat. Auch Paulus hat gesetzlichen Schutz verlangt von dem Hauptmann gegen die, welche sich zu seiner Ermordung verschworen hatten. Wir reden vielmehr vom Hass, vom Neid, von der fleischlichen Rachgier, von Beschuldigungen, von Giftigkeit, von Lästerung und sogar von der Einforderung des höchsten Rechtes, welches nach dem Zeugnisse heidnischer Schriften das höchste Unrecht ist, und von anderen Freveln, welche bei persönlicher und fleischlicher Rache für Unrecht zusammenzukommen pflegen. Solches müssen wir abtun und lautere, wohlwollende Gesinnung gegen unseren Nächsten annehmen, die wir auch bezeugen müssen durch Leutseligkeit und alle möglichen Dienste, und feurige Kohlen, wie Paulus (Röm. 12,20.21) nach Salomo lehrt, auf das Haupt unseres Feindes zu sammeln und das Böse mit Gutem zu überwinden.

Doch du wirst sagen: Was soll ich tun, um eine wohlwollende und ihnen das mir zugefügte Unrecht vergebende Gesinnung gegen meine Feinde anzunehmen? Erstens bedenke recht fleißig, dass dir Gott aus freier Gnade alles Unrecht vergibt, das du wider ihn getan hast. Und doch übertrifft dieses alles Unrecht, welches dir dein Nächster angetan hat, so viel, wie 10.000 Pfund 100 Groschen übertreffen, d. h. wie 6 Millionen Goldkronen 10 Kronen übertreffen. Ich bitte dich also: wie viel Dankbarkeit bist du dagegen dem Herrn, deinem Gott schuldig, welcher dir so gnädig deine Sünden vergibt! Er fordert aber von dir, nicht, dass du eine weite, gefährliche Reise übers Meer unternimmst, fordert auch von dir kein dreitägiges oder viertägiges Fasten, sondern fordert, dass du zum Beweise deiner Dankbarkeit dem Nächsten seine Irrtümer gegen dich verzeihst; wie geringfügig sind doch diese, ich bitte dich, im Vergleich zu dem, was du wider Gott begangen hast! Zweitens bedenke: wenn du die Rachgier festhältst und dem Nächsten seine Irrtümer nicht vergibst, so hast du kein Recht, das Gebet des Herrn zu beten, hast also auch kein Recht, in das Himmelreich einzugehen. Denn so du Anderer Sünden behältst, so behält Gott deine Sünden, und enterbt dich, damit du kein Sohn und Erbe seiner Güter sein sollst. Und weil im Himmelreiche der höchste Frieden und Eintracht ist, wird dir nicht erlaubt, in dieses Reich einzugehen, so du noch nicht gelernt hast, auf Erden mit deinem Nächsten friedlich und einträchtiglich zu leben. Was gibt es aber Schrecklicheres, als das Gebet des Herrn nicht wahrhaft beten zu können, die zuvor umsonst empfangene Sündenvergebung wiederum zu verlieren und des Anrechts auf das himmlische Erbteil beraubt zu werden?!

Wenn wir Solches und Anderes der Art ernstlich erwägen, so werden wir dem Heiligen Geiste Gelegenheit geben, unser Herz zu entzünden, dass, gleichwie Christus uns vergeben hat, so auch wir uns unter einander vergeben, so Jemand Klage hat wider den Anderen (Kol. 3,13).

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