Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 10. Predigt

Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 10. Predigt

Text: Matth. V, V. 14-16.

Ihr seid das Licht der Welt. Es mag die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an, und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter, so leuchtet es denen Allen, die im Hause sind. Also lasset euer Licht leuchten vor den Leuchten, daß sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.

In zwei herrlichen Bildern drängt der Herr die Bedeutung und den Charakter Seiner wahren Jünger zusammen: Ihr seid das Salz der Erde, ihr seid das Licht der Welt! und sie bilden das Thema der ganzen Bergpredigt. Sie bilden es so sehr, daß Jesus öfter, bei den verschiedensten Veranlassungen, in Seiner dreijährigen Lehrwirksamkeit auf dieselben zurückkommt. (Luc. 8,16.17. 11,33. 14,34.) Das Salz der Erde nämlich sollen Seine Jünger sein, vermöge des Geistes, der sie durchdringt und der von ihnen ausgeht; das Licht der Welt sollen sie sein, vermöge des Worts, das sie verkündigen. Sind sie unentbehrlich für die Welt um jenes einflußreichen Geistes willen, so sind sie es nicht minder um des Wortes Gottes willen, das sie haben und bringen. Es sind aber drei Hauptpunkte, auf welche Jesus unsere Aufmerksamkeit im Texte hinlenkt: 1) Was umfaßt das: Ihr seid das Licht der Welt? 2) warum sollen Jünger Christi solches Licht sein? 3) welchen Zweck haben sie damit zu erreichen?

I.

Also zuerst, was heißt und was umfaßt das: Ihr seid das Licht der Welt? Sind die Jünger Jesu das Licht der Welt, so setzt das zunächst voraus, daß ohne sie die Welt in Finsterniß liegt und sich das Licht nicht wieder schaffen kann, welches ihr einmal ausgegangen ist. Was die sichtbare Welt ohne Sonne wäre, das ist die geistige Welt ohne das Licht des Evangeliums, das uns die Apostel überliefert haben. Wo die Sonne nicht in der Natur scheint, da ist es Nacht; so auch herrschen die finstern Gestalten der Unwissenheit, des Irrthums, des Wahns, des Aberglaubens und der Lüge überall, wo kein Wort des lebendigen Gottes die ewige Wahrheit verkündet. Das lehrt jeder Blick in das Heidenthum alter und neuer Zeit, sowie auf die Erkenntnißgebiete derjenigen unter unseren Zeitgenossen, die entweder nichts von der Offenbarung wissen oder sie verwerfen oder darüber noch hinausgehen wollen; ein Schritt nur von derselben entfernt, und augenblicklich umringen uns Räthsel und Geheimnisse, Verborgenheiten und Verwirrungen allüberall. Höchstens gehen noch leise Ahnungen durch unsere Seele, im Grunde und Wesen sind aber auch selbst diese falschen Vorstellungen von Gott und allem Unsichtbaren. Wollten wir das in Abrede stellen oder gar läugnen, so bleibt uns nichts übrig, als den Herrn der Uebertreibung, was sage ich: der Uebertreibung? – nein, der Lüge zu zeihen, wenn Er im Texte von den Jüngern sagt: Ihr, d.h. ihr allein, seid das Licht der Welt; außer euch ist nichts als Nacht und Finsterniß. Indeß, was Er sagt, das sagt der Mund der Wahrheit, und darum bleibt es dabei, die Welt mag es zugeben oder nicht, die Inhaber Seines Evangeliums allein sind das Licht der Welt. – Doch Er sagt es nicht nur an unserer Stelle; auch an andern Orten treffen wir auf dieselbe Wahrheit. So schreibt Paulus an die Epheser (5,8.): “Ihr waret weiland Finsterniß, nun aber seid ihr ein Licht in dem Herrn; wandelt wie die Kinder des Lichts!” an die Philipper (2,15.): “Thut Alles ohne Murmelung und ohne Zweifel, auf daß ihr seid ohne Tadel, und lauter, und Gottes Kinder, mitten unter dem unschlachtigen und verkehrten Geschlecht, unter welchem ihr scheinet als Lichter in der Welt;” an die Thessalonicher (1. Thess. 5,5.): “Ihr seid allzumal Kinder des Lichts und Kinder des Tages, wir sind nicht von der Nacht, noch von der Finsterniß.”

Und wodurch sind sie das Licht der Welt? In sich selbst haben sie es auch nicht, das ist klar; denn von Natur gehören auch sie der Welt an, und sind Finsterniß. Also durch wen haben sie das ewige Licht überkommen? Einzig und allein durch Den, der von sich sagte: ”Ich bin das Licht der Welt, wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in Finsterniß, sondern wird das Licht des Lebens haben.” (Joh. 8,12.; 9,5.; 12,35.36.) Sein Licht ist das ursprüngliche, ihr Licht nur ein abgeleitetes; was sie wissen, wissen sie durch Ihn, und wenn Jesus sie daher das Licht der Welt nennt, so will Er nur damit sagen: Ihr seid die Träger meines Lichts, die Kanäle des Urlichts, die Strahlen meiner Sonne an die Menschheit; bringet denn ihr den Tag, der euch aufgegangen ist, daß es hell werde in den Nächten der Erde und sich erfülle das prophetische Wort: “Mache dich auf, werde Licht; denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn gehet auf über dir; denn siehe, Finsterniß bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker, aber über dir gehet auf der Herr, und Seine Herrlichkeit erscheinet über dir.” (Jes. 60,1.2.) Was Jesus ist von Natur, das ist der Jesusjünger durch Gnade. So ist das Wort des Herrn Wahrheit und That: “Ich habe ihnen meine Herrlichkeit gegeben.” Jeder Erleuchtete des Herrn ist ein Licht für die Welt.

Was der Herr gesagt, erfüllt sich. Wo die Apostel und nach ihnen alle wahren Jünger Jesu Christi hinkommen mit ihrem Evangelium: da wird es Licht; der Tag bricht an, die Decke fällt, und alles nächtliche Reden, Vermuthen und Träumen der Menschen hat ein Ende; da heißt es überall und immer. “Die Nacht ist vergangen, der Tag aber herbeikommen; so laßt uns ablegen die Werke der Finsterniß, und anlegen die Waffen des Lichtes.” (Röm. 13,12.) Ihr fragt, wie das geschieht? Gerade auf dieselbe Weise, wie draußen in der Natur das Licht wirkt, so wirkt drinnen im Herzen das Licht des Evangeliums aus dem Munde der Jünger Jesu Christi. Das Licht erleuchtet und erhellt: vorher war Alles finster, unheimlich; kein Gegenstand war zu erkennen; wir wußten nicht, wo wir waren, wo wir gingen und standen; wir konnten auf Schlangen und Ottern treten, und sahen es nicht; wir konnten unserm Todfeinde in die Hände fallen, und sahen es nicht. Das Alles hat nun aufgehört; wie zauberhaft umgewandelt erscheint uns die ganze Gegend; jeder Gegenstand tritt in sein besonderes Licht; Himmel und Erde schwimmen im Glanze; wir wissen nun, woran wir sind, und wohin wir gehen, und was wir thun und lassen müssen, damit es uns wohlgehe im Leben. “Wer des Tages wandelt,” sagt Jesus, “der stößt sich nicht, denn er siehet das Licht dieser Welt; wer aber des Nachts wandelt, der stößt sich, denn es ist kein Licht in ihm” (11,9,10.) Weg mit dem Bilde! Das Wort Gottes ertönt aus dem Munde Seiner Zeugen: wunderbare Umwandlung! Mit einem Male wird es helle im Geiste des natürlichen Menschen; er sieht klar, was er ist und was er nicht ist; was er ist: ein Sünder, der nicht ein einziges Gebot gehalten hat und ohne Gnade Gottes ewig verloren gehen muß; was er nicht ist: kein Kind Gottes, kein Frommer, kein Gerechter, kein Segen der Welt, kein Erbe des Himmels. Er thut Blicke in die Tiefen der Gottheit und der Ewigkeit; es enthüllt sich ihm das Geheimniß, verschwiegen von der Welt her, nun aber offenbaret und kund gemacht durch der Propheten Schriften auf Befehl des ewigen Gottes, das Geheimniß seiner Erlösung, seiner Rechtfertigung und Heiligung: o was er bisher nicht war, kann er nun werden, der Himmel ist ihm geöffnet, das ewige Leben ist sein, Gott ist sein Vater, Christus ist sein Heiland, der heilige Geist ist sein Tröster; nun das Hauptgeheimniß enthüllt ist, thun sich die Siegel aller andern Geheimnisse auch auf, und das Heil, das große, ewige Heil, ist gefunden. – Das Licht erwärmt aber auch und belebt, wo es mit seinen Strahlen hindringt, und es hat in sich etwas unbeschreiblich Lockendes, Wohlthuendes, Anziehendes. Sehet doch, wie in der Natur jedes Pflänzchen durch dasselbe zum Leben hervorgezaubert wird, wie jeder Keim sich in seinen milden Strahlen entfaltet, wie die Blumen sich schmücken mit dem lieblichsten Farbenspiel; wie jedes menschliche Gemüth sich wohl fühlt und auf jedem Antlitz der Wiederschein der Himmelssonne sich abspiegelt, wenn die hehre Königin des Tages die Wolken zerreißt und das Himmelsblau und der Erde Hoffnungsgrün mit ihrem Scheine krönt und ziert; wie die kleinen Kinder schon ihre Händchen begierig nach dem Lichte strecken, und die Erwachsenen zu sagen pflegen: Die Nacht ist keines Menschen Freund! Kurz, Alles, was da lebt, hat eine Neigung, ein Streben zum Lichte hin; es lebt nur im Lichte und vom Lichte; und tiefbedeutend stellt die heilige Schrift jedesmal Licht und Leben zusammen und nebeneinander, als wäre Beides nur Eins; das erste Element sogar, das Gott der Herr schuf, war das Licht, und kaum war es da, so entstand eine ganze Welt. Doch weg mit dem Bilde! wie lieblich es auch sei, es ist nur Schatten gegen die erhabene Wirklichkeit im Gottesreiche. Das Wort Gottes ertönt aus dem Munde seiner Zeugen, und Licht und Helle ergießen sich über forschenden Geister: wunderbare Umwandlung! Mit der Geisteswelt verjüngt sich auch die Gemüths- und Willenswelt, und es keimen und sprießen auf in demselben Herzen, welches vorher todt und erstorben war, die Tugenden der Demuth, der Liebe, der Keuschheit, der Selbstverläugnung, der Hingebung an den Herrn, der Sehnsucht nach Ihm und Seinem Himmel. Wie lebt es da mit einem Male auf! Wie heilig und groß erscheinen Bibel und Altar, Kirche und Gebet! Wie fröhlich wird das Herz in Seinem Herrn, und singt Loblieder über Seine Gnade! Das Alte ist vergangen; siehe, es ist Alles neu geworden. Wie ein Kind streckt der neugeborene Mensch fort und fort seine Hände nach dem himmlischen Lichte; wie eine Blume öffnet er seinen Herzenskelch den erquicklichen Sonnenstrahlen des Evangeliums; wie Johannes der Täufer sonnt er sich an der Gnade des Herrn und möchte gern eine Weile in Seinem Lichte fröhlich sein. (Joh. 5,35.) Sehet, so waren die Apostel; so sind heut zu Tage noch alle wahren Christen das Licht der Welt. Wo sie hinkommen mit dem Worte Gottes, das sie an sich selbst erfahren haben, als eine Kraft Gottes, selig zu machen Alle, die daran glauben: da machen sie auch die zweite, beseligende Erfahrung, daß es wieder auf Andere wirkt als die gleiche Gotteskraft; als ein Hammer, der Felsen zerschlägt; als ein Schwerdt, das durch die Seelen dringt; als ein Licht auf unserm Wege und eine Leuchte für unsere Füße. Wie es in des Lichtes Natur liegt, zu leuchten und zu wärmen: so können sie es auch nicht lassen, zu reden von dem, was sie gesehen und gehört haben; ihre Flamme zündet wieder und verbreitet heiße Gluth. – Das Licht endlich brennt, es übt eine verzehrende Kraft aus, verzehrend das Vergängliche, um andere Stoffe zu bereiten, reinigend das Metall von seinen Schlacken, schmelzend und bildend die lieblichsten Gestalten der Kunst und Geschicklichkeit. In dieser verzehrenden und tödtenden Wirksamkeit ist es aber auch zugleich das Bild der Hölle, und grauenhaft klingen die Drohungsworte: “Gehet hin, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, da bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!” Weg mit dem Bilde! Das Wort Gottes ertönt aus dem Munde seiner Zeugen. Furchtbarer Anblick! Flammen sprüht es aus nach allen Seiten, die allem ungöttlichen Wesen den Tod verkündigen und bringen. Was nicht probehaltig ist, muß untergehen; keine Entschuldigung läßt es mehr aufkommen, keine Ausflucht läßt es gelten; Sünde ist Sünde vor Gottes Angesicht, und jede Sünde muß gekreuzigt werden, muß sterben; jede Halbheit muß aufhören; jedes, auch noch so feine, Haschen nach Ehre und Ansehen, nach Reichthum und Genuß, muß wie die Dornen des Feldes weggebrannt, jede Lieblingsneigung des natürlichen Menschen muß geopfert werden. Entweder – Oder, ist die große Losung. Nicht nur die Menschen, die es hören, scheiden sich in zwei Theile, in Gläubige und Ungläubige, auch der einzelne Mensch scheidet sich in zwei Hälften, in ein altes und in ein neues Wesen, und das Eine stirbt, damit das Andere lebe. In diesem Sinne sprach Christus: “Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden; was wollte ich lieber, denn es brennete schon!” (Luc. 12,49.), und in diesem Sinne ist jederzeit im Großen der Kirche, wie im Kleinen des einzelnen Gemüths, die schaffende Wirksamkeit des Christenthums von einer zerstörenden begleitet gewesen; im Läuterungsfeuer täglicher Buße allein wird das Gold des Glaubens und der Liebe von allen Schlacken je mehr und mehr gereinigt. Heil uns Allen, wenn wir auf solche Weise leuchtend, belebend, reinigend durch den Glauben an Christum und durch die Nachfolge des Herrn das Licht der Welt geworden sind! Dann sind wir, von Ihm gesegnet, ein Segen für Tausende und abermal Tausende; uns selbst und Vielen, vielleicht Allen, unbewußt, ein Segen, redend und schweigend, wirkend und ruhend, im kleinen Kreise des Hauses, nicht nur als Herren und Frauen, sondern auch als Kinder, Knechte und Mägde, wie im großen Gebiete einer Stadt, die auf dem Berge liegt, hier im Leibe wallend und schon längst daheim wohnend bei dem Herrn. Wir sind Gefäße des Segens und zugleich Werkzeuge des Segens.

Meinet daher nicht, daß wir etwa durch solche Zeugenschaft und Mittheilung des göttlichen Worts an Andere verlieren. Keineswegs! Es geht wie mit dem Lichte. Kein Licht verliert dadurch, daß ein anderes an ihm angezündet wird; im Gegentheil wird’s dadurch heller, und der Zweck immer mehr erreicht. Durch jedes neue Gemüth, das dem Reiche Gottes gewonnen und zugeführt wird, gewinnen wir selbst an neuem Leben und neuer Lebensfrische. Durch Beten lernt man beten, durch Lesen lernt man lesen, durch Lehren lernt man wissen, durch Geben nimmt und gewinnt man. – Meinet auch nicht, daß solches Licht allezeit gleich hell in euch brennen werde: ach nein, es kommen auch Stunden, Tage, Wochen, wo es matter leuchtet, und wo danach mit Ernst gesehen werden muß, daß es nicht völlig ausgeht. Auch euer Licht bedarf immer wieder neuer Nahrung vom Herrn; das Oel des Glaubens und der Liebe darf in euren Herzenslampen nie versiegen, und es giebt Zeiten, wo dieser göttliche Zufluß stärker, Zeiten, wo er schwächer in die schmachtende Seele einströmt. Der unheilvollste Wahn wäre der, wenn wir uns je einbilden könnten, daß wir nun über Alles hinweg wären; im Gegentheil gilt es jetzt erst, recht ernstlich wachen, beten, die Seele in Händen tragen und auf unserer Hut sein allewege. – Wie aber die Kerzen durchgehends noch einmal recht hell aufleuchten, ehe sie ausgehen: so leuchtet auch gegen das Ende des Lebens dies Gotteslicht noch einmal recht hell auf, und es giebt keinen gesegneteren Anblick, als einen Greis, der seine letzten Tage ganz dem Herrn weiht; einen Simeon, der da spricht: “Herr, nun lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben Deinen Heiland gesehen.” O wie gern sitzt zu den Füßen solches Greises die neue, junge Welt! und hört und lernt, wie man leben muß, um selig zu sterben! Gewiß wird auch gegen das Ende der Welt dieses Licht des Evangeliums in den Zeugen Jesu Christi am hellsten leuchten, weil dann kein Land mehr sein wird, in welchem nicht die Botenstimme erklingt, und das Evangelium vom Reiche dann gepredigt werden soll unter allen Völkern zu einem Zeugniß über sie.

II.

Wie das Salz nicht aufhören darf, Salz zu sein, und weggeworfen wird, sobald es an feuchter Luft kraftlos geworden: so soll das Licht auch nimmer aufhören, Licht zu sein und zu erleuchten. Den Grund giebt Jesus im Folgenden an. Es ist ein zwiefacher, ein äußerer und ein innerer; einer liegt in unserer Umgebung, der andere liegt in uns selbst. Jesus sagt zunächst: Ihr seid das Licht der Welt; als solches sollt ihr nicht verborgen bleiben, sondern seid berufen, hinaus euren Schein zu verbreiten; ja, ihr könnt auch nicht einmal verborgen bleiben, denn die Augen der Welt sind auf euch gerichtet.

Es mag die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Wie eine hochgelegene Stadt, - vielleicht wies Jesus, auf dem Berge stehend, dabei gleich anschaulich hin auf die umliegenden Bergstädte, wie Saphet, da Er es ja liebte, in seiner unvergleichlich einzigen Lehrweise die Erläuterungsbilder aus der nächsten Umgebung und unmittelbaren Gegenwart herzunehmen – Jedermann in die Augen fällt und kein Wanderer vorüberzieht, ohne sie schon von ferne in’s Auge zu fassen, und je näher er kommt, immer fester zu beobachten und nach allen Seiten hin kennen zu lernen: so soll, so wird es auch den Jüngern des Herrn gehen. Wer sich ernstlich für den Herrn erklärt, der wird sogleich als ein solcher von der Welt bemerkt; es liegt einmal im Charakter derselben, über Alles, namentlich über das Göttliche, mitzusprechen und abzuurtheilen, wenn sie auch nie dasselbe in seiner Erhabenheit und Tiefe eines ernstlichen Blicks gewürdigt und noch weniger daran gedacht hat, seinen göttlichen Geist in sich aufzunehmen und auf sich wirken zu lassen. Sie will einmal das große Wort haben und die Entscheidung sich überall vorbehalten. Das Unheilige hält sich fähig und berufen, das Heiligste zu richten; die Finsterniß und geistige Oede des Unglaubens für erleuchtet, stark und tüchtig genug, über des apostolischen Glaubens Wahrheit und Seligkeit zu urtheilen; der Weise nach dem Fleische sich berechtigt, an der Weisheit aus Gott ein Aergerniß zu nehmen, und was Geistes Gottes ist, eine Thorheit des Fleisches zu schelten. Wenn sie auch sonst nirgends auf einem Gebiete solche Verkehrtheit und Anmaßung gelten lassen will: hier, auf heiligem Gebiete, übt sie sie alle Tage aus. Und o wie freut sie sich mit ihrem Haß, den sie einmal von vorn herein gegen den Ernst des Christenthums im Herzen trägt, wenn es ihr gelingt, an den Kindern Gottes Schwachheiten und Gebrechen zu entdecken! Wie müssen da es gleich Alle empfinden und fühlen, die zum Reiche Christi gehören! Wie wirft das ein böses Licht auf’s Ganze und stellt in den Schatten Alle, die nach der Regel der Gerechtigkeit und Heiligkeit wandeln! Wie heißt es da sogleich: Da sieht man’s, was es mit dem Christenthum ist und wie Alles dabei nur in Worten und andächtigen Geberden beruht, und begründet ist in Heuchelei! Mit den stärksten Farben wird dann aufgetragen und der kleinste Fleck in’s Große gezeichnet, sobald ihn ein Kind Gottes an sich trägt; und die Entschuldigung und Beschönigung ist gleich bei der Hand: Wenn sich die Frommen so etwas erlauben, wie sollten wir es uns nicht erlauben! Darum lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, damit ihr der Sache des Herrn keine Schande, sondern vielmehr Ehre, nur Ehre bereitet.

Dann aber der andere, innere Grund: Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es denen Allen, die im Hause sind, d.h. mit andern Worten: Ihr dürft auch euer Licht nicht verbergen und geheim halten, es ist euch darum gegeben, damit es leuchten und erleuchten soll; und wehe euch, wenn ihr euer Pfund vergraben wolltet! Im Morgenlande wurde nämlich bei dem Mangel an Tischen das Licht auf den Erdboden gestellt; sollte es finster werden, so deckte man etwas darüber, meist ein Getreidemaß. Die Christen nun sind berufen, ihr Licht leuchten zu lassen; wollten sie es verdecken, so wäre das nicht nur thöricht und zweckwidrig, sondern auch lieblos und selbstsüchtig. Es hat immer Menschen gegeben, die der Meinung waren: man müsse sein Christenthum für sich behalten und gegen Niemand davon sprechen; das Evangelium sei die Sache des Herzens, und nicht des Schwatzens. Thörichte Meinung! Wenn das die Apostel auch gedacht hätten oder diejenigen, durch deren Wert und Lehre du deine Erkenntniß von göttlichen Dingen erhalten hast, würdest du da auch ein Sterbenswort von deinem Heile ahnen und wissen können? Warum wolltest du also schweigen und dein Christenthum für dich behalten? Etwa aus Ehrfurcht und Achtung vor der großen Sache selbst, weil sie dir zu heilig ist, um sie durch Worte zu entweihen? Ach nein, sei nur offen und gestehe es: - entweder aus Menschenfurcht: du besorgst Schmach und Schande, wenn du dich für das ausgeben wolltest, was du bist; oder aus Eitelkeit: du magst nicht gern für ungebildet, für schwärmerisch und überspannt gehalten werden von deinen Brüdern; oder aus Trägheit: du scheuest den Kampf, der augenblicklich mit deinem Bekenntniß sich einstellen wird; oder aus Gleichgültigkeit und Lauheit gegen die Sache selbst: sie ist dir noch nicht so sehr Lebens- und Herzenssache geworden, daß du für sie etwas wagen und übernehmen möchtest. Gesetzt aber, du hättest das Rechte gefunden, Wahrheit und Frieden in Christo: wie grausam, wie hartherzig, wie lieblos, wie selbstsüchtig wäre es, wenn du, im Besitz des größten Reichthums, deine Brüder in tiefer Armuth wolltest schmachten lassen, wenn du, befreit vom Joch der Sünde, sie dem tiefen Kerker ihrer Leidenschaften und Sünden überließest! Grausamer Mensch, bedenkst du denn nicht, was Jesus sagte im Gleichniß zu dem untreuen Knechte, der das anvertraute Pfund vergraben hatte? “Du Schalk und fauler Knecht, wußtest du, daß ich schneide, da ich nicht gesäet habe, und sammle, da ich nicht gestreuet habe: so solltest du mein Geld zu den Wechslern gethan haben, und wenn ich kommen wäre, hätte ich das Meine zu mir genommen mit Wucher. Darum nehmet von ihm den Centner, und gebet’s dem, der zehn Centner hat; denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.” (Matth. 25,26-30.) Darum laßt euer Licht leuchten, stellt es nicht unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter hin, und an solchem Leuchter, d.h. an einer Stellung und Lage, wo ihr eure Gabe brauchen und anwenden könnet, wird es euch auch nicht fehlen; denn Jeder hat seinen Wirkungskreis, den ihm Gott angewiesen hat. Mag Anderer Licht heller sein, als das eurige, und ihre Gaben glänzender und erfolgreicher, als die eurigen: Gott sieht nicht auf die Größe und Menge der Gaben, Er sieht das Herz an, Er verlangt nur Treue in der Anwendung derselben; wollt ihr treue Haushalter sein über Gottes Geheimnisse: schweiget nicht, wo ihr reden, verläugnet nicht, wo ihr bekennen solltet, so wird eures Christenberufs Zweck auch herrlich erreicht werden.

III.

Welches ist dieser erhabene Zweck unseres Christenberufs? Jesus antwortet: *”Also lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure guten Werke sehen? Sonst warnt der Herr vor nichts mehr, als vor dem Streben, das Gute deßhalb zu thun, um gesehen zu werden; sonst nennt Er solch Streben Pharisäismus, und im weiteren Verfolge der Bergpredigt erklärt Er von den Werken der Liebe und der Wohlthätigkeit: “Wenn du Almosen giebst, sollst du nicht lassen vor dir posaunen, wie die Heuchler thun in den Schulen und auf den Gassen, auf daß sie von den Leuten gepriesen werden. Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn dahin. Wenn du aber Almosen giebst, so lasse deine linke Hand nicht wissen, was die rechte thut, auf daß dein Almosen verborgen sei, und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten öffentlich;” von den Werken der Frömmigkeit und Andacht: “Wenn du betest, sollst du nicht sein wie die Heuchler, die da gerne stehen und beten in den Schulen und an den Ecken auf den Gassen, auf daß sie von den Leuten gesehen werden; wenn du aber betest, so gehe in dein Kämmerlein, schleuß die Thür zu, und bete zu deinem Vater im Verborgenen, und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten öffentlich;” von den Werken der Selbstverläugnung und Selbstbeherrschung: “Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer sehen, wie die Heuchler, denn sie verstellen ihr Angesicht, auf daß sie vor den Leuten scheinen mit ihrem Fasten. Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn dahin. Wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Angesicht, auf daß du nicht scheinest vor den Leuten mit deinem Fasten, sondern vor deinem Vater, welcher verborgen ist; und dein Vater, der in’s Verborgene siehet, wird dir’s vergelten öffentlich;” an all’ diesen Werken tadelt Er es, wenn sie in der Absicht gethan werden, daß Andere sie sehen sollen: - und nun hier fordert Er: “Lasset euer Licht leuchten vor den Menschen, daß sie eure guten Werke sehen”? Was meint Er also wohl hier für gute Werke? Er verstehet darunter das ganze Sein des Christen, die Uebereinstimmung seines Wandels mit seiner Erkenntniß; das Streben, die Lehre des Heilandes durch’s eigene Beispiel eines erbaulichen, heiligen, untadelhaften Wandels anzupreisen, und allen Eifer, alle Einfalt, alle Aufrichtigkeit, alle Treue, alle Uneigennützigkeit, allen Muth, alle Unerschrockenheit, alle Emsigkeit in der Verkündigung des Evangeliums durch Wort und Werk, kurz, die Gesammtdarstellung und den Gesammteindruck seines christlichen Geistes; man möchte sagen, was Er vorher Salz genannt hat, das nennt Er hier die guten Werke des Lichts. Damit ist nichts gewonnen, meine Brüder, wenn wir uns von der Welt bloß in Ansichten und Lehren unterscheiden; unterscheiden sollen wir uns durch unser ganzes Thun und Leben! Das überzeugt am meisten, und wie nichts in der Welt, von der Herrlichkeit und Göttlichkeit unserer Sache; das macht jeder Verläumdung und Verketzerung ein schnelles Ende.

Warum aber verlangt Jesus, daß die Leute unsere guten Werke sehen sollen? Etwa um unseres eigenen Ruhms willen? Nimmermehr! Das wäre pharisäische Selbstsucht. Jesus sagt: “Daß sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.” Gottes Verherrlichung, nichts als das, soll der Zweck sein alles unseres Schaffens und Treibens; daß Sein Name geheiligt werde, Sein Reich komme, Sein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel; daß in allen Dingen Gott gepriesen werde durch Jesum Christum, welchem sei Ehre und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit; damit Alle ein gute Meinung gewinnen vom Christenthum und Lust bekommen, auch der Gnade theilhaftig zu werden, die solche Früchte hervorbringt und solche Werke des Lichts erzeugen kann. Gott muß unseres Wirkens Anfang, Mitte und Ende sein. Von Ihm, durch Ihn, zu Ihm sind alle Dinge! Ihm sei Ehre in Ewigkeit! O wahrlich, der höchste Genuß und die Seligkeit aller Seligkeiten, die einem Christenmenschen hienieden widerfahren kann, ist, das Lob Gottes zu fördern und zu erhöhen, die Heilsanstalt Jesu Christi immer weiter bekannt und zugänglicher zu machen, und ein stehender Beweis zu sein von Seiner Gnade und Treue; denn Gott loben ist ein Engel-Geschäft: “Lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen!” Denn was spricht Er damit anders aus, als die Wahrheit: daß, wenn auch im Allgemeinen die Welt Vorurtheile hat gegen das Evangelium, es doch nie an Solchen in ihr fehlen wird, die ihre Augen sich öffnen lassen, um zu sehen, und die den Vater im Himmel preisen für das erworbene und erlange Heil; daß Christus mithin nicht mehr zum Fallen, sondern auch zum Aufstehen Vieler gereichen wird in Israel!

Wohlan, seid das Licht der Welt! Das Größte, was ihr sein und werden könnt, ist, das Salz der Erde und das Licht der Welt zu sein; das Salz der Erde durch den christlichen Geist, der von euch ausgeht, das Licht der Welt durch das Wort, das ihr lehrend und handelnd verkündigt. Durch Beides seid ihr in der Welt und für die Zeit schlechterdings dann unentbehrlich: natürlich, Jeder nur an dem Orte, wo, und zu der Zeit, so lange Gott ihn brauchen kann zu Seinem Dienste; - entbehrlich im Allgemeinen Alle, aber unentbehrlich im Einzelnen Jeder nach der Kraft, die Gott darreicht, und nach der Lebenslänge, die Er ihm fristet. Die übrigen irdischen Vorzüge und Auszeichnungen haben hierbei keinen Einfluß. Nicht hilft es uns und Andern zur Seligkeit, daß wir talentvoll, klug, geschickt, kenntnißreich, daß wir begütert, mächtig, angesehen und bewundert sind auf Erden; nichts schadet es uns, daß wir arm sind, schwach, niedrig und unangesehen. Nur so viel Erhebendes und Verklärendes ist an uns, nur so viel wahrhaft Gutes und Beseligendes, als von dem Geiste des Herrn in uns wohnt, von Seinem Salze und von Seinem Lichte. Möge denn dies Salz immer mehr uns durchdringen, dieses Licht immer heller uns aufgehen, damit wir nicht bloß nach Christo den Namen tragen Christen, sondern auch seien, was wir heißen, Gesalbte des Herrn in der That und in der Wahrheit, lebendige Steine im Tempel Gottes, die, wie sie von Vielen getragen werden, ebenso Vielen zur Grundlage dienen! Amen.

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