Vinet, Alexandre - Die Gnade und der Glaube.
Ephes. II, 5.
Denn aus Gnaden seid ihr selig geworden.
Es gibt in keiner Sprache ein schöneres Wort, als das Wort Gnade; es gibt keins im Evangelium, an welchem die Männer der großen Welt mehr Ärgernis nähmen. Ihr Stolz entrüstet sich, ihre Vernunft empört sich gegen den Gedanken, aus Gnaden selig zu werden. Und sie ziehen diesem sanften und rührenden Worte Gnade tausendmal das gebieterische und strenge Wort Gesetz vor. Sie wollen wohl, dass man ihnen von den Vorschriften, von der Moral des Evangeliums spreche; sie mögen nicht, dass man sie von der Vergebung aus Gnaden unterhalte, welche im Evangelium verkündigt ist. Wir werden heute nicht die Ursachen dieser Vorliebe und dieses Widerwillens entwickeln, welche im Widerspruch mit den innersten Neigungen der menschlichen Natur zu stehen scheinen; aber wir werden uns zu zeigen bemühen, dass, weit entfernt, dass diese beiden Dinge, die Gnade und das Gesetz, unvereinbar wären, vielmehr das Eine notwendiger Weise zu dem Andern führt; ich meine, dass das Gesetz zur Gnade hin- und dass die Gnade wiederum zum Gesetz zurückführt. Und nachdem wir diese Wahrheit aus der Natur der Dinge selbst hergeleitet haben werden, werden wir uns auf die Erfahrung berufen, und zeigen, dass, wer eins von beiden in Wahrheit zugesteht, auch nie verfehlt, das andere zuzugestehen. So wird, wenn es Gott gefällt, uns beizustehen, sich eine der bedeutendsten Schwierigkeiten als gehoben finden, - welche die Welt gegen das Evangelium erhebt.
Wir sagen, dass das Gesetz natürlich zur Gnade hinführt. Um Euch davon zu überzeugen, meine Brüder, so wollet in dem Gesetz vier Dinge oder vier Gesichtspunkte betrachten, welche es unserem Studium darbietet: Seine Natur, seine Ausdehnung, seinen verpflichtenden Charakter und endlich seine Vollziehung oder seine Bürgschaft.
Wenn Ihr die Natur dieses Gesetzes betrachtet, so werdet Ihr sehen, dass es sich nicht um Formen, Gebräuche, äußere Übungen handelt; dies erleidet keinen Widerspruch. Natürlich, wären diese Dinge durch den Herrn befohlen, so würden sie einen Teil unserer Pflichten bilden. Aber das Gesetz, so wie Ihr es versteht, ist das moralische Gesetz, das Gesetz, welches unser Leben dem Gewissen unterwirft. Und dieses Gesetz schreibt uns nicht bloß vor, gut zu handeln, sondern auch gut zu sein; nicht bloß, recht zu tun, sondern auch recht zu fühlen; das heißt so viel, es verlangt unser Herz.
Was die Ausdehnung des Gesetzes betrifft, so genügt ein Wort: Es ist das Gesetz der Vollkommenheit. Derjenige, welcher es begreift, gleicht dem in der Geschichte so oft gefeierten Helden, der nichts getan zu haben glaubte, so lange ihm noch etwas zu tun blieb. Keine Beziehung seines Lebens, kein Augenblick seines Lebenslaufs, kein Teil seiner Pflichten entzieht sich dieser Universal-Herrschaft des Gesetzes der Moral. Gehorchen, in Allem, immer, vollkommen, das ist die unwandelbare Richtschnur seines Lebens.
Und, um zu dem dritten Punkt zu kommen, es ist dies nicht eine Wahl, ein System, eine Berechnung: er fühlt sich an das Gesetz gekettet mit den Ketten einer gebieterischen, absoluten Verpflichtung. Nichts ist in seinen Augen notwendig, als gehorchen. Das Glück, die Kraft, das Leben sind nicht Zweck, sondern das Mittel, das Gesetz der Moral zu erfüllen. Es handelt sich nicht darum, zu genießen, zu können, zu leben; es handelt sich darum, zu gehorchen. Die Gesetze der Natur könnten sich verändern, die der Pflicht bleiben.
Das Weltall könnte sich auflösen, das Gesetz der Moral bleibt. In der Verwirrung aller Dinge, in der allgemeinsten Unordnung, hört der Wille nicht auf, dem Gerechten anzugehören; und die Dinge könnten seiner Tätigkeit fehlen, und der Zweck seinen Bemühungen, er würde sich doch immer verpflichtet fühlen, gut zu sein.
Und damit er es nicht vergisst, so hat das Gesetz eine Vollziehung. Das Glück ist unabänderlich an den Gehorsam, das Unglück an den Ungehorsam geknüpft worden. Hienieden kündigen der Ekel, die Gewissensbisse, die Furcht dem aufsässigen Menschen schrecklichere, in den Schleiern der Zukunft verhüllte, Züchtigungen an: Gottes Zorn vom Himmel wird offenbar über alle Seelen der Menschen, die da Böses tun.
Versucht es, etwas von dieser schrecklichen Aufzählung hinwegzunehmen; versucht es, um bei jedem Versuche die Last um ein neues Gewicht vermehrt zu sehen. Sagt, dass der Gehorsam Grenzen hat, und wir werden Euch bitten, sie zu zeigen. Sagt, dass man sich zwischen dem Himmel und der Erde teilen kann, und wir werden Euch fragen, kraft welcher Autorität Ihr diese Teilung zu machen wagt. Sagt, dass jeder Mensch sein Maß hat, und wir werden jeden von Euch fragen, ob er dieses Maß erreicht hat. Sagt, dass Gott Eurer Opfer nicht bedarf, wir möchten von Euch wissen, ob die Gebote Gottes sich nach seinen Bedürfnissen richten; und wir werden Euch zwingen, einzugestehen, dass, in dieser Voraussetzung, Gott also nichts vorschreiben würde, weil sicher Gott nichts bedarf. Sagt, dass mehrere der Pflichten, welche man Euch auferlegt, zweifelhaft sind; aber woher kommen die meisten dieser Zweifel, wenn nicht von Eurem Widerwillen, zu gehorchen, und erfüllt Ihr wenigstens die Pflichten, an denen Ihr nicht zweifelt? Sagt, dass der Gehorsam unmöglich ist; aber lehret uns, warum in demselben Augenblick, wo Ihr ihn unmöglich findet, er Euch als höchst vernünftig erscheint; lehret uns, warum Euer Gewissen darauf besteht, ein Gesetz als verpflichtend zu erklären, welches Eure Erfahrung als unausführbar erklärt; lehret uns, warum, bei jeder Übertretung, Ihr Euch immerhin sagen möget: ich habe nicht anders gekonnt, und der Gewissensbiss deshalb doch nicht weniger stark an Eurer Seele nagt. Hebt diesen Widerspruch auf, wenn Ihr könnt; wir, wir können es nicht.
Gott unsere Körper und unsere Seelen als lebendiges und heiliges Opfer darbringen; ihm unser ganzes Leben weihen; nur seine Blicke allein suchen; unsern Nächsten lieben, als uns selbst; dieser Welt brauchen, als brauchte man derselben nicht; das ist eine schwache Skizze, ein flüchtiger Umriss des göttlichen Gesetzes. Mögen Andere die Züge desselben zu verwischen und zu verwirren suchen, wir werden ihre Tiefe ergründen; mögen sie die Last desselben zu erleichtern suchen, wir werden darauf mit unserer ganzen Kraft drücken, wir werden damit, wo möglich, die verwegene Kreatur, welche sich davon losmachen will, zu Boden drücken, damit sie, unter dem Druck dieses schrecklichen und unerbittlichen Gesetzes, den ersehnten Hilferuf ausstoße, diesen heilsamen Ruf, welchem allein das Evangelium geantwortet hat.
Denn ich behaupte, meine Brüder, dass wenn Ihr Euch einen richtigen Begriff von dem Gesetze der Moral macht, wenn Ihr es annehmt, nicht geschwächt und verstümmelt, sondern in seiner ganzen Strenge und in seiner ganzen Majestät, Ihr Euch als Übertreter des göttlichen Gesetzes bekennen, Ihr Euch nicht fähig fühlen werdet, alle seine Vorschriften zusammen, noch eine derselben in ihrer ganzen Ausdehnung und auf eine vollkommene Art zu erfüllen; und in der tiefen Überzeugung Eures Elends und Eurer Gefahr, werdet Ihr Euch entweder einer untröstlichen Verzweiflung hingeben, oder Ihr werdet Euch an den Stufen des ewigen Thrones niederwerfen, um von dem Richter Eures Lebens Gnade und Verzeihung zu erbitten.
So also führt das Gesetz zur Gnade. Habt wohl Acht, ich habe nicht gesagt, dass das Gesetz die Gnade erklärt. Das Geheimnis der Erlösung ist und bleibt immer ein Geheimnis; und das Evangelium selbst verkündigt es und erklärt es nicht. Ich habe nur sagen wollen, dass für den, welcher das heilige Bild des Gesetzes mit Ernst betrachtet hat, es wie eine gebieterische Notwendigkeit erscheint, sich zur Gnade zu wenden, oder unterzugehen.
Hier ist es, meine Brüder, wo St. Paulus wiederum rief: Wie? heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? das sei ferne! sondern wir richten das Gesetz auf.
Zweite Wahrheit, welche wir angekündigt haben: Die Gnade wiederum führt zum Gesetz zurück.
Wollet zunächst betrachten, dass die Gnade, so wie sie im Evangelium offenbart ist, die glänzendste Anerkennung, die feierlichste Bestätigung ist, welche das Gesetz empfangen konnte. Diese Gnade ist von einem besonderen Charakter. Es ist nicht die weise Nachsicht, das leichte Überlassen eines schwachen Vaters, der, ermüdet von seiner eignen Strenge, die Augen über dem Unrecht eines schuldigen Kindes schließt. Es ist nicht die Untätigkeit einer furchtsamen Regierung, welche, indem sie die Unordnung nicht unterdrücken kann, die Gesetze schlafen lässt und selbst neben ihnen einschläft. Es ist eine heilige Güte, es ist eine Liebe ohne Schwäche, welche zu gleicher Zeit verzeiht und richtet. Es ist nicht möglich, dass der höchste Bürge der Ordnung nur einen Schatten von Unordnung dulden kann, dass der heilige Gott die geringste Übertretung der von ihm gegebenen heiligen Gesetze unbestraft lasse. Also in dem Werke der Erlösung tritt die Verdammung in der Vergebung selbst, und die Vergebung in der Verdammung hervor. Gott hat uns nicht erretten können, ohne unsere Gestalt anzunehmen, noch einer von uns werden können, ohne in sich unser ganzes Elend zusammenzufassen. Das Kreuz, der Triumph der Gnade, ist der Triumph des Gesetzes. Meine Brüder, ergründet dieses große Mysterium, und Ihr werdet erkennen, dass nichts die Vernunft mehr übersteigt, dass nichts vernunftgemäßer ist. Und Ihr werdet vergeblich in allen menschlichen Erfindungen eine andere Idee suchen, welche im Stande wäre, alle Attribute, aus denen die Vollkommenheit Gottes gebildet ist, in Harmonie hervortreten zu lassen.
So findet sich also das Gesetz der Moral in der Idee der evangelischen Gnade glänzend verherrlicht. Wie würde es sich nicht ebenso in den Herzen derjenigen verherrlicht finden, welche jene Gnade anerkennen? Wie kann man ernstlich an diese blutige Sühne glauben, ohne über das Verabscheuungswerte der Sünde aufgeklärt zu sein, ohne für sie einen innigen Hass zu hegen, ohne zu wünschen, wenn ich mich so ausdrücken kann, dieser unaussprechlichen und unverdienten Gnade Ehre zu machen? Wie! Christus ist für unsere Sünden gestorben, und wir könnten unsere Sünden lieben? Wie! Christus ist gestorben, weil es ein Gesetz gibt, und unsere Ehrfurcht für dieses Gesetz sollte sich nicht verdoppeln oder aufs Neue erwachen? Meine Brüder, die menschliche Natur müsste alle ihre wesentlichen Charakterzüge verloren haben, es müssten alle Fibern des menschlichen Herzens zerrissen sein, sollte die Überzeugung einer so unendlichen Wohltat nicht unsere ganze Liebe entzünden; und das wäre eine sonderbare Liebe, welche nicht den Gehorsam erzeugte! Derjenige, welcher in seinem Herzen sagen würde: Lasst uns sündigen, da die Gnade überschwänglich ist! wäre ein Mensch, der die Gnade weder verstanden, noch empfangen hätte; denn der natürliche und vernünftige Schluss ist dieser: Da die Gnade überschwänglich ist, so lasst uns nicht mehr sündigen! Also, wie ich es oben gesagt habe, die Gnade führt zum Gesetze zurück.
Ich sage noch mehr; ich sage: die Gnade allein führt zum Gesetz; eine Behauptung, die Ihr, meine Brüder, nicht bezweifeln werdet, wenn Ihr aufmerksam betrachtet, was das Gesetz ist. Das vollkommene Gesetz wird nur durch die Liebe erfüllt. Nun, die Liebe befiehlt sich nicht, sie flößt sich ein. Die strengsten Einschärfungen und die fürchterlichsten Drohungen würden in der Seele keinen einzigen Aufschwung von Zärtlichkeit für Gott erzeugen; die Liebe allein kann die Liebe gebären. Daher, so lange wir nur das Gesetz mit seinen Drohungen vor uns haben, erfüllen wir es nicht in dem Geiste, in welchem wir es erfüllen sollen, d. h. wir erfüllen es gar nicht. Das Evangelium hat gesagt, dass die Liebe die Furcht verbannt; es ist eben so wahr zu sagen, dass die Furcht die Liebe verbannt; denn man liebt nicht, wenn man fürchtet. Das ist der Vorzug und die Schönheit des Evangeliums, dass es unser Herz erweitert und ihm volle Freiheit gibt; denn da die Gnade verkündigt, die Furcht verbannt ist, so wagt man zu lieben, so kann man lieben. „Wenn du mein Herz tröstest“, sagt der Psalmist, „so laufe ich den Weg deiner Gebote.“ Das Herz schließt sich auf und entfaltet sich bei der sanften Wärme der göttlichen Liebe und bei den Strahlen der Hoffnung; der Gehorsam wird ein freudiger; er ist kein peinlicher Zwang mehr, er ist ein unwillkürlicher und freiwilliger Trieb der verjüngten Seele; und so wie die Fluten eines Stromes, sobald sie einmal in der Richtung ihres Falles fortgeschleudert sind, nicht in jedem Augenblicke eines neuen Anstoßes bedürfen, um in dieser Richtung zu beharren, so treibt das Leben, welches den Anstoß der Liebe bekommen hat, ganz und mit beschleunigten Wogen zu dem Ozean des göttlichen Willens hin, in welchem es sich gerne verliert und begräbt. Der vollkommene Gehorsam also ist nur eine Frucht der Liebe, und die Liebe ist nur eine Frucht der Gnade.
Diese Idee tritt stärker hervor durch eine vollständigere Betrachtung der Gnade. Die Gnade ist noch etwas Anderes, als die Verzeihung; die Verzeihung ist nur die Einsetzung der Gnade. Gott lässt uns Gnade zu Teil werden, wenn er uns unsere Sünden vergibt, und er lässt uns auch noch Gnade zu Teil werden, wenn er auf unsere Herzen wirkt, um sie zum Gehorsam zu beugen, oder, so Ihr wollt, wenn er die ersten Eindrücke, welche wir von seiner Barmherzigkeit empfangen haben, unterhält, fortpflanzt; wenn er die Erinnerung, die Idee, das Gefühl davon unaufhörlich erweckt; wenn er verhindert, dass der Kies oder der Schlamm nicht die gesegnete Quelle verstopfe, welche er aus dem, durch seine Hand gespaltenen, Felsen hat hervorspringen lassen. Alles dies hat er versprochen, alles dies ist uns zugesichert, alles dies ist auch noch Gnade. Welche Wirkung können nun solche Versprechungen, eine solche Zusicherung auf das Herz hervorbringen, wenn nicht die, es gleichzeitig zu erweichen und anzutreiben? Welche Gesinnung muss der gegen Gott haben, welcher weiß, dass Gott ihn nicht bloß einmal geliebt hat, sondern dass Gott ihn immer liebt, an ihn denkt, sich mit ihm beschäftigt, ohne Aufhören über ihm wacht, ihn führet sanft und mit Vorsicht, wie der Hirte das Vieh, so in das Feld hinabgehet; ihn auf der Seite trägt, und freundlich auf den Knieen hält, wie eine Amme ihr Kind trägt und freundlich hält; und, um Alles mit einem Worte zu sagen, das uns die Schrift liefert: „der in unsern Ängsten sich mit ängstigt.1)“ Noch einmal, meine Brüder, das ist die Gnade! Haltet Ihr sie, an und für sich, als dem Gesetze zuwiderlaufend, oder günstig für dasselbe? das heißt, mit andern Worten, fragen, ob sie geeignet ist, das belebende Prinzip der Liebe in uns zu entwickeln, oder ob sie gemacht ist, es zu ersticken?
Wer könnte jetzt, nachdem er die Natur des Gesetzes und der Gnade betrachtet hat, sagen, dass die Gnade und das Gesetz unverträglich sind? Niemand, ohne Zweifel. Aber, was zur Unterstützung dieser Wahrheit dient, ist die Erfahrung. Sie bestätigt vollkommen, was unsere Betrachtung uns schon bewiesen hat.
Zuerst steht es fest, dass die, welche die Gnade annehmen, auch das Gesetz annehmen. Es ist klar, meine Brüder, dass wir hier nicht von diesem trockenen Dogmatismus, dieser toten Orthodoxie sprechen, die eben so wenig das Christentum sind, wie eine Statue ein Mensch ist. Wir geben zu, dass es eine Art gibt, die Dogmen der Kirche anzunehmen, welche dieselben ohne Einfluss auf das Leben bleiben lässt. Wir sprechen nur von denen, deren Christentum lebendig ist, von denen, welche die Gnade mit demselben Gefühle erfasst haben, welches ein Schiffbrüchiger empfindet, wenn er das rettende Brett ergreift, das ihn über dem Wasser erhalten und zum Ufer tragen soll. Nun wohlan! Habt Ihr bemerkt, dass diese Christen der Überzeugung und des Gefühle, welche bekennen, nur durch die Gnade selig zu werden, weniger Ehrfurcht als Andere für das Gesetz haben? Habt Ihr nicht im Gegenteil erkannt, dass das, was sie auszeichnet, gerade ihre Anhänglichkeit, ihr Eifer für das Gesetz ist? Bemerkenswerte Sache! Man hat, mit Hilfe einiger Sophismen, die Idee verbreiten können, dass die Lehre, welche sie bekennen, der Moral schädlich, dass ihr Glaube ein Ruhekissen der Sicherheit ist, dass ihre Lehre die Notwendigkeit der guten Werke vernichtet, dass sie allen Lastern die Tore öffnet; aber ihr Lebenswandel hat allen diesen Sophismen geantwortet. Die Logik des Fleisches kann wohl sagen: Lasst uns sündigen, da die Gnade überschwänglich ist; aber der heilige Geist lehrt dem menschlichen Herzen eine andere Logik, und niemals hat Jemand Christ zu sein geglaubt, indem er der des Fleisches folgte. Es ist wahr, dass die Christen Alles von der Gnade erwarten, und sie gestehen dies ein, aber sie arbeiten, als ob sie Alles von sich selbst erwarteten. Man erstaunt in der Welt, dass Menschen, welche seit langer Zeit ihr Glück gemacht haben, früh aufstehen, spät zu Bette gehen, ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts essen, als ob sie noch ihr Glück zu machen hätten. Wohlan! diese da haben ihr Glück gemacht, sie sind selig, sie sagen es; aber Alles, was ein Mensch, der noch nicht das geringste Pfand seiner Seligkeit besäße, tun könnte, sie tun es eifrig, sie tun es unaufhörlich. Und sie arbeiten nicht bloß, sondern sie beten auch; sie bitten Gott, sie aufzurichten in ihrer Schwachheit; sie sagen mit Inbrunst: O! wer wird uns erlösen von diesem Leibe des Todes? sie wiederholen mit dem großen Apostel: „Ich schätze mich selbst noch nicht, dass ich es ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, das da vorne ist; und jage nach dem vorgesteckten Ziele, nach dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu.“ Mit einem Worte, das Leben dieser Anhänger der Gnade ist ein solches, dass man schwerlich unter den Anhängern des Gesetzes einen einzigen Menschen finden dürfte, der eben so aufmerksam wäre, seine Zunge im Zaum zu halten, die Empörungen seiner Sinne zu bekämpfen, alle Jota des Gesetzes sorgsam aufzusammeln, sein Leben mit guten Werken anzufüllen. Und dennoch knüpfen sie an keines ihrer Werke die Hoffnung ihrer Seligkeit. Wo ist ein stärkerer Beweis, dass die Gnade und das Gesetz nicht widersprechend sind?
Wenn es wahr ist, dass die, welche die Gnade annehmen, auch das Gesetz annehmen, so ist es unglücklicher Weise nicht weniger wahr, dass die, welche die Gnade nicht annehmen, auch das Gesetz nicht annehmen. Diese Behauptung wird nicht auffallend erscheinen, wenn man sich erinnert, was das Gesetz ist, und was es heißt, das Gesetz annehmen. In dem erhabenen und geistigen Sinne, welchen wir diesen Ausdrücken haben geben müssen, wer ist es da, der das Gesetz annimmt, wer ist es, der es ganz und gar will? Es sind wahrlich nicht die, welche die Gnade verwerfen. Überall ist bei den Kindern dieser Welt das Gesetz Gottes im Preise heruntergesetzt. Jeder nimmt davon nur, was er seinen Kräften angemessen, für seine Umstände passend findet; Jeder macht sich ein Gesetz nach seinem Maßstabe. Die Moral wechselt in Ausdehnung und Gestalt mit jedem Individuum. Und was besonders bemerkenswert ist, man bringt dem Gesetze alle die Opfer, die nichts kosten, d. h. die keine Opfer sind; aber jeder scheint von ihm Gnade zu verlangen für irgend eine Lieblingsneigung, für irgend ein vorbehaltenes Laster, für irgend einen Götzen, den er nicht den Muth hat zu zerschlagen; der Geizige für seine Wut der Ersparnis und der Aufhäufung; der Sinnliche für die Leckerbissen, denen er nicht entsagen kann; der eitle Mensch für die Auszeichnungen, die ihm schmeicheln; mit einem Worte, hinter dem Gewissen, und in einem finstern Grunde der Seele, unterhält jeder von ihnen, vielleicht ohne sein Vorwissen, irgend einen Götzen-Altar. Und das ist es, was uns den sonderbaren Vorzug erklären kann, welchen die Weltkinder dem Gesetze vor der Gnade geben; niemals würden sie das Gesetz vorziehen, wenn sie es ganz sähen. Sie ziehen es nur vor, weil der empfindliche Punkt, der verletzende Punkt, wenn ich mich so ausdrücken darf, ihnen verschleiert bleibt, und sie nur die schmeichelhaften Teile, die glatten Seiten, die leichten Pflichten desselben kennen. Nun, bei wem findet Ihr diesen Trieb, das Gesetz zu mildern, oder vielmehr diese Unfähigkeit, es zuzulassen? Ist es bei den Anhängern der Gnade oder bei denen, welche die Gnade verwerfen? Ist es bei den Schülern der Welt, oder bei den Kindern des Evangeliums?
Aber, werdet Ihr mir sagen, gibt es nicht selbst unter denen, welche die Seligkeit aus Gnaden nicht annehmen, Menschen, die, durchdrungen von der Heiligkeit des Gesetzes, eifrig wünschen, es zu erfüllen? Ach! meine Brüder, Ihr sprecht von einer sehr bemerkenswerten und sehr anziehenden Klasse von Menschen; das sind die Kandidaten der Gnade, wenn ich sie so nennen darf. Es gibt Menschen, ich bin weit entfernt, es zu leugnen, denen sich Gott wie Moses auf dem Sinai offenbart zu haben scheint, mit der ganzen Majestät eines Gesetzgebers, eines Richters. Durch eine himmlische Gunstbezeugung, die man wohl einen Anfang der Gnade nennen kann, haben sie die Größe, die Notwendigkeit, die Unbiegsamkeit des Gesetzes der Moral gefühlt, und sie haben zu gleicher Zeit geglaubt, es in ihrem Leben verwirklichen zu können.
Ganz erfüllt von dieser Idee, haben sie sich an's Werk gemacht; und bald abstreichend, bald zulegend, bald verbessernd, haben sie ihren Körper und ihren Geist der strengsten Zucht unterworfen. Aber als sie gesehen haben, dass die Aufgabe kein Ende, die Laufbahn keinen Ausgang hatte, dass ein ausgerottetes Laster immer wieder ein anderes blicken ließ; dass, nach so vielen Verbesserungen im Einzelnen, das Ganze des Lebens, der Grund der Seele nicht wesentlich verändert war, dass der alte Mensch noch da blieb in seiner schlecht verkleideten Hinfälligkeit, dass die Krankheit, von der sie sich zu befreien hatten, nicht eine Krankheit, sondern der Tod selbst war, und dass es sich für sie nicht darum handelte, geheilt zu werden, sondern zu leben; als sie gesehen haben, mit einem Worte, dass die Arbeit nicht den Frieden mit sich führte, und gleichzeitig gefühlt haben, dass dieses Bedürfnis nach Frieden mit den Anstrengungen, welche sie machten, es zu befriedigen, noch zunahm … da, meine Brüder, hat sich in ihnen bestätigt, was Jesus Christus gesagt hat: Diejenigen, welche den Willen meines Vaters tun wollen, werden erkennen, ob meine Lehre von Gott kommt, oder ob sie von den Menschen kommt. Ja, da haben sie diese Lehre, welche nichts anderes als die Gnade ist, als die des guten und heiligen Gottes erkannt, als den einzigen Schlüssel des Rätsels, welches sie quälte; sie haben sie mit Liebe umfasst; sie haben Alles verkauft, um diese Perle von großem Wert zu besitzen; und dadurch haben sie auch bewiesen, was unsere Rede festzustellen sucht, dass das Gesetz ein Lehrer ist, der zu Christus führt, und dass man auf dem Wege des Gesetzes bei der Gnade ankommt. Eine große Zahl von Bekehrungen, welche die Kirche des Herrn erfreuen, haben keine andere Geschichte.
Auch will ich denen unter Euch, meine Brüder, welche sich etwa noch nicht haben entschließen können, das Heil als ein Gnadengeschenk anzunehmen, als den Preis der Leiden Christi, ohne Umschweif den Grund davon sagen. Es geschieht, weil sie das Gesetz noch nicht kennen. Sie können, wenn sie wollen, von Gerechtigkeit, von Vollkommenheit und selbst von Liebe sprechen; es gibt irdische Dinge, auf welche man jedes dieser Worte anwenden kann; und es ist schon lange, dass die menschliche Sprache sich verwegen die Worte der Sprache des Himmels anmaßt. Aber wie weit ist das, was sie Vollkommenheit, Gerechtigkeit und Liebe nennen, von dem entfernt, was der Herr so genannt hat! Ach! wenn sie den geringsten Begriff davon und das geringste Verlangen danach hätten, wenn einmal das erhabene Bild der Wiedergeburt, des Lebens in Gott vor ihren Blicken erglänzt wäre, welche Revolution würde in ihren Ideen vor sich gegangen sein! wie würde das Leben in ihren Augen ein anderes Ansehen bekommen haben! wie würden ihre Begriffe über Glück und Unglück plötzlich verändert worden sein! wie würde ihnen Alles gering erscheinen gegen den Preis dieses göttlichen Friedens, zu welchem sie noch nur auf dem Wege des Gesetzes gelangen zu können glauben; und wenn, nachdem sie lange unter dem eisernen Joche des Gesetzes gekeucht und auf dem Felde der Pflicht so viele unnütze Furchen gezogen haben, sie endlich das göttliche Versprechen leuchten sähen, wenn der Ersehnte der Nationen, der Ersehnte ihres Herzens, sich vor ihren Augen mit der rührenden Würde des Mittlers zeigte, wenn er ihnen den süßen Namen Vater stammeln gelehrt hätte, welchen ihr Mund nicht im Stande war auszusprechen; wenn sie die Bande einer unnennbaren Gemeinschaft zwischen ihrer unglücklichen Seele und der ewigen Seele sich bilden sähen … O! dann würden sie diese Gnade lieben, begreifen, annehmen, diese Gnade, welche heute für sie nur ein Gegenstand des Ärgernisses oder des Spottes ist. Öffne, Herr, ihre Augen den majestätischen Klarheiten deines heiligen Gesetzes, dem sanften und zarten Scheine deiner Barmherzigkeit! Durchdringe sie mit Ehrfurcht für deine Gebote, und darauf mit Liebe für deine Liebe! Führe sie auf dem Wege des Gesetzes zum sichern Hafen, zum ewigen Asyl deiner Gnade in Christo Jesu!