Vinet, Alexandre - Der Blick.
Text: „Da sprach der Herr zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie zum Zeichen auf; wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie auf zum Zeichen, und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.“
4. Mose 21, 8-9.
Obwohl wir hienieden im Glauben und nicht im Schauen wandeln, so ist unsere Errettung doch von einem Blick abhängig, und der Glaube, der uns rettet, ist eben nichts anderes als dieser Blick. Es ist mit dem Menschen in der Wüste des Lebens nicht anders wie mit den Israeliten in jener wirklichen Wüste. Diese wurden wieder belebt, wenn sie ihre Augen zu der ehernen Schlange erhoben; jener erwacht zu einem neuen Leben, wenn er seine Augen zum Kreuz erhebt. Von diesem rettenden Blick, meine Brüder, möchte ich heute zu euch reden. Gott der Herr, der ja ein Gott der Offenbarung ist, hat uns etwas anzuschauen gegeben. Das ist der Anfang, das ist die Grundlage seines Werkes. Das unsre, welches aber doch wieder in einem gewissen Sinn das seine ist, weil alles ohne Ausnahme von ihm kommt, das unsre ist kein anderes als hinzublicken; wenigstens ist das auch der Anfang und die Grundlage unsres Werkes. Alles kommt darauf zurück, alles gründet sich darauf, alles hängt davon ab. Wir möchten darum denen entgegentreten, welche unter dem Namen des Glaubens weniger verstehen oder sich mehr vorstellen. Wir möchten sie dazu bringen, zu erkennen, dass man nicht glaubt, wenn man nicht den rechten Blick hat, und dass es, um das Leben zu gewinnen, genügt, diesen rechten Blick zu haben. Möchte unsre Rede durch Gottes Gnade ebenso einfach sein wie unser Gedanke!
In unbeschränktem Sinne sagen, dass wir durch einen Blick gerettet werden: das würde soviel heißen als wenn wir behaupten wollten, dass wir uns selbst erlösen können. Wohl ist es völlig wahr, dass das Heil sich in uns und durch uns vollzieht, ja, dass wir nach dem starken Ausdruck des Apostel Paulus unsre Seligkeit schaffen müssen. Und doch hat unsre Erlösung alle ihre Wurzeln außerhalb von uns. Sie ruht vor allem auf einer Tat, welche ausschließlich von Gott allein ausgeht, auf einer Tat, bei welcher wir nichts sind. Das ist die Sündenvergebung. Gott hat vergeben, Gott hat die Hand der Versöhnung dargereicht, und Jesus Christus, der zugleich Mensch und Gott ist, hat sich zum Bürgen und Mittler zwischen Gott und den Menschen dargestellt. Durch ihn ist ein neuer Bund geschlossen worden, in welchem sich das ganze Herz Gottes offenbart und welcher als Siegel und als Wahlspruch jenes völlig neue Wort trägt: Gott ist die Liebe. Das ist die Sündenvergebung, aber noch nicht die Erlösung. Die Erlösung beginnt außerhalb des Menschen, aber sie vollendet sich in ihm. Der Mensch wird durch Jesum Christum erlöst, allein nur insoweit, als Jesus Christus ihn heiligt. Der Mensch, der in dem ersten Adam ein verlorener Sünder geworden ist, würde durch den zweiten Adam nicht erlöst worden sein, wenn von diesem zweiten Adam nicht ein belebender Geist ausginge, der ihn zu einem neuen Leben erweckte. Diese Auferweckung ist eigentlich erst die Erlösung. Wohl ist auch diese Auferweckung ein Werk Gottes. Denn er ist der Anfänger und Vollender unsres Heils. Der Mensch kann sich nicht selbst auferwecken. Allein ohne ihn vollzieht sich diese Auferweckung nicht. Unter dem Beistand Gottes nimmt er einen tätigen und wichtigen Anteil daran, und doch ist dieser Anteil so einfach. Es handelt sich nur darum, zu glauben und hinzublicken, hinzublicken und zu glauben. Derjenige, welcher den Sohn anblickt und an ihn glaubt, der hat das ewige Leben. Es muss ein Gegenstand da sein, den man anblickt, und uns denselben zu geben, das ist Gottes Sache; allein man muss nun auch auf denselben hinblicken, und das ist unsre Sache. Der unsern Blicken vorgehaltene Gegenstand ist ein solcher und hat solche Kraft, dass er, angeschaut, uns das Leben wiedergibt, wie die Schlange des Moses denen das Leben wiedergab, welche zu ihr aufblickten. Die belebende Kraft des Glaubensblickes: das ist's, was wir betrachten wollen.
Wir könnten zuerst von der Kraft und Macht des Blickes überhaupt reden. Wir könnten sagen, dass der Blick der kürzeste und beste Weg zur Erkenntnis sei, ja, dass die Erkenntnis nicht die einzige Wirkung desselben ist, sondern dass sich alsbald und fast unwiderstehlich die Zuneigung damit verbindet, wenn der Gegenstand würdig ist, sie einzuflößen und endlich, dass die Anschauung das erste, das schnellste und sicherste aller Unterrichtsmittel ist. Die Anschauung eines Vorbildes hat eine ermahnende, tadelnde, bessernde, reformierende Kraft. Sie macht uns nach und nach dem Gegenstand ähnlich, den wir betrachten. Das Vorbild und Beispiel, wenn es anders ein nachhaltiges und gleichmäßiges ist, macht Belehrungen entbehrlich und bildet für sich allein eine vollständige Erziehung und Unterweisung. Immer nur das Wahre vor Augen zu haben und es deutlich vor Augen zu haben, das gewinnt uns unmerklich für das Wahre. Zum Bürgen für diese Tatsache haben wir Gott selbst, welcher uns verheißen hat, dass wir im Himmel ihm gleich sein werden, weil wir ihn alsdann sehen werden, wie er ist.
Auf dieser Grundlage hat Gott sein Heils- und Versöhnungswerk erbaut. Ein Blick, der Blick der ersten Menschen nach der verbotenen Frucht, hat uns einst in das Verderben gestürzt. Darum hat Gott gewollt, dass ein Blick uns auch rettete. Was aber sollte der Gegenstand dieses Blickes sein, der bestimmt war, im Schoß der Menschheit das göttliche Leben wieder zu entzünden, welches durch die Sünde erloschen war? Sollte der Mensch vielleicht auf sich selbst seinen Blick heften? O, gewiss, der Mensch muss sich selbst betrachten, weil er sich sonst nicht selbst erkennt, und ohne die Erkenntnis seiner selbst ist jede andere unnütz und unmöglich. Allein was vermag zur inneren Erneuerung und Wiederherstellung des Menschen ein Blick, der einzig und allein auf ihn selbst gerichtet ist? Wenn er sich so sieht, wie er nicht ist, so entsteht Selbstüberhebung. Wenn er sich so sieht, wie er ist, so entsteht Mutlosigkeit. Aber das göttliche Leben, welches in der Einheit des Herzens mit Gott besteht, kann weder aus dem Schoße des Stolzes geboren werden noch jemals auf die Hoffnung Verzicht leisten. So muss der Mensch also anderwärts als in dem Blick auf sich selbst das Leben finden, wenn er überhaupt bestimmt ist, es zu besitzen. Und könnte es nicht scheinen, als werde der Mensch daher auf Gott seinen Blick lenken müssen? Welcher andre Anblick könnte geeigneter sein, den unglücklichen Adamssohn zu unterrichten, zu Boden zu werfen, aber auch zu heilen und wieder aufzurichten? Aber Gott ist für unser Auge verhüllt. Aus den dichten Wolken, die ihn verbergen, geht nur Donner und Blitz hervor. Tiefe Finsternisse oder blendende Lichter, das ist alles, was über die menschlichen Sphäre hinaus unser sehnsüchtiger und doch geängsteter Blick antrifft.
Denn darüber dürfen wir uns nicht täuschen: das ebenso freundliche als majestätische Bild und die Vorstellung dessen, den wir uns in so vertrautem Ton als den lieben Gott zu bezeichnen gewöhnt haben, gehört nicht von Natur dem Gedanken des Menschen. an; durch das Evangelium erst ist diese Vorstellung uns nahegetreten. Der liebe Gott ist der Gott der Offenbarung. Darum ist es, ob auch schmerzlich, so doch notwendig, es einzugestehen: der Anblick Gottes ist es nicht, welcher den Menschen zu einem neuen Leben erwecken wird, weil dieser Anblick unsern Augen entzogen ist oder uns nötigt, sie aus Furcht und Schrecken zu schließen. Aber wie soll alsdann der Mensch durch einen Blick gerettet werden können?
Aber das Evangelium hat auch wirklich unsern Blick weder auf Gott unmittelbar hingelenkt noch auf den Menschen, und doch wieder auf Gott und den Menschen, aber nur insofern, als beide in Jesu Christo eins geworden sind und durch ihn dargestellt und vertreten werden. Denn in Jesu Christo erblicken wir in der Tat ebenso wohl Gott in der Fülle seiner Eigenschaften und in der Vollendung seines Willens als auch den Menschen und zwar zu gleicher Zeit so wie er ist und so wie er sein soll. Ich habe gesagt, Gott in der Fülle seiner Eigenschaften; denn es hat ihm gefallen, dass die ganze Fülle der Gottheit wesentlich in Christo wohnte und zum ersten Mal hat er in ihm der Welt die Unendlichkeit seiner Liebe geoffenbart. Ich habe ferner gesagt, der Mensch so wie er ist und so wie er sein soll: das erstere, angedeutet durch die Schmach und die Leiden Christi, welche einen Maßstab bilden für die Schuld des Menschen; das zweite, verwirklicht in der Heiligkeit Christi, welcher in all seinen Werken, Worten und Gedanken in vollkommener Weise das Gesetz erfüllt und die Unschuld des ersten Adam weit übertroffen hat. Das, meine Brüder, das ist der Gegenstand, welchen das Evangelium unserem Blicke darbietet. Aber es gibt in diesem Gegenstand einen zentralen Punkt, auf den alles ankommt und welcher den Blick, den wir auf jenen heften, zum Prinzip und zur Quelle eines neuen sittlichen Lebens macht. Dieser zentrale und entscheidende Punkt ist das Opfer. Indem wir mit euch geradenwegs auf diesen blutigen Mittelpunkt zuschreiten, treten wir voll und ganz in den Gedanken des Apostel Paulus ein, welcher inmitten seiner Neubekehrten nichts wissen wollte als Jesum Christum und zwar Jesum Christum den Gekreuzigten.
Jesus Christus ist wie ein Berg, von dessen Gipfel aus der Blick die ganze Ausdehnung eines Landes umspannt und die fernsten Grenzen desselben erreicht. Je höher ihr hinan steigt, desto weiter dehnt euer Blick sich aus. Bei jedem Schritt vergrößert sich euer Horizont. Aber wenn ihr alles umfassen wollt, so müsst ihr bis zum Gipfel klimmen. Von da aus erblickt ihr, was ihr bereits von dem niedrigeren Standort aus gesehen hattet, und außerdem auch noch dasjenige, was man nur vom Gipfel aus sehen kann. Aber dieser höchste Gipfel Jesu Christi, wenn man so sagen darf, ist Jesus Christus, der Gekreuzigte. Von dieser Höhe aus sieht man alles, was man sehen kann, erkennt man alles, was man erkennen kann. Der Anblick, dessen man von da aus sich erfreut, umfasst und vereinigt alles. Wenn es sich darum handelt, zu erfahren, was der Mensch ist, wer wird es uns besser lehren als die unaussprechliche Gräueltat jenes Todes, bei welchem das Übermaß des Leidens sich noch durch das Übermaß der Schmach vergrößert, bei welchem in dem Becher der Schmerzen die Undankbarkeit und der Verrat noch all ihre Bitterkeit hinzufügen, und von welchem Gott selbst seinen Blick abwendet und seine Tröstung zurückzieht? Wenn ein vollkommen gerechtes Wesen um des Menschen willen dies alles leidet, was ist dann der Mensch? wie verzweifelt muss es um ihn stehen, aber auch wie groß muss seine ursprüngliche Würde und Vortrefflichkeit sein! Was für ein Wesen muss es sein, für welches Gott selbst eingewilligt hat zu sterben? So blicket hin und sprecht: Siehe, so ist der Mensch!
Aber auch andrerseits, wenn es gilt, den Menschen kennen zu lernen, nicht mehr, wie er ist, sondern wie er sein soll und sein kann, wer wird es euch besser lehren als dieses Kreuz, an welchem ein gerechter Mensch, aber achtet darauf, immerhin ein Mensch für die ungerechten Menschen stirbt, an welchem eine menschliche Seele alles entfaltet, was der Mensch nur jemals an Selbstverleugnung, an Seelengröße, an Sanftmut, an sittlicher Kraft hat ausdenken können, ohne es verwirklicht zu haben? Wer kann es euch besser lehren als dieser Tod Christi, welcher, verglichen mit den edelsten Todesfällen, welche die Geschichte uns erzählt, sie doch alle weit hinter sich zurücklässt? Darum blicket abermals hin und sprechet abermals: Siehe, so ist der Mensch! Aber genügt das? nein, Gott selbst ist es, den ihr das Bedürfnis habt zu sehen und kennen zu lernen. Der Anblick des Kreuzes hat euch gedemütigt, ich gebe es zu. Er hat auch euer sittliches Gefühl erhöht und euch die Empfindung eurer ursprünglichen Bestimmung wiedergegeben, das gebe ich auch zu. Aber was würde euch dies nützen, wenn Gott für euch der unbekannte Gott bliebe, dem sich nur zaudernd eure Ehrfurcht und Liebe zuwendet? Aber in dem Tod seines Sohnes enthüllt er euch sein Antlitz voll Erbarmen und Majestät, erweist er sich als ein lebendiger Gott, in dessen Arme zu fallen nicht mehr schrecklich, sondern süß ist, mit einem Wort, als ein Vater, welcher immer Vater war, aber welcher es euch heute erst feierlich erklärt. In gleicher Weise war er auch immer heilig. Aber habt ihr es jemals gewusst, habt ihr euch nur im Geringsten eine Idee davon gemacht, was die Heiligkeit Gottes ist, bis zu dem Augenblick, wo Gott eingewilligt hat, dass um die Menschen der Sünde zu entreißen, sein sündloser und heiliger Sohn ein solches Widersprechen und solche Schmach von Seiten der sündigen Menschen erduldete? Hattet ihr es bis dahin begriffen, dass Leiden und Sünde eng verbunden sind, dass sie unzertrennlich sind und dass sie, sozusagen, nur eines ausmachen? Aber ein Blick, ein einziger Blick sagt euch dies alles, lehrt euch alles, was ihr lernen musstet, nimmt euch allen Schrecken mit Ausnahme des Schreckens vor dem Bösen, verschafft euch gleichzeitig einen Herrn und einen Vater, sichert euch im Himmel einen Freund und einen Fürsprecher zu, zerstreut in eurem Geist die Finsternisse des Zweifels, löst das Rätsel des Lebens und lässt euch den Anker einer freudigen Hoffnung jenseits des Schleiers des Todes werfen.
Und diese innere Umwälzung reicht bis in die äußersten Tiefen des Daseins hinab. Sie zieht den Menschen unter diesem Berg der Gewissensbisse und der Verzweiflung hervor, dessen Gewicht ihn erdrückte und erstickte. Der Ewige hat gesagt: „Ich will Himmel und Erde bewegen; dann soll kommen aller Heiden Trost (Hag. 2, 6. 7).“ Ja, Gott will den Himmel bewegen, um die Erde, das heißt, das Menschenherz bewegen zu können. Der, welcher die Himmelsordnung verändert, kann doch wohl auch das Menschenherz verändern, und wenn der Ewige Gewalt anwendet, um sein Geschöpf wiederzugewinnen, so kann man es begreifen, dass auch in diesem etwas Gewaltsames und Entscheidendes vorgeht, eine schreckliche, aber gesegnete Krisis, welche die Heilung und das Leben zur Folge hat. Entweder sagt, dass die Versöhnung des Menschen über die Macht und über die Liebe Gottes hinausgeht, oder gesteht zu, dass in jener Tat der Dahingabe seines Sohnes das heldenmütige, das unfehlbare Mittel dazu gegeben war. Und damit sich nun die Versöhnung und Wiedergeburt des Menschen vollziehe, was hat derselbe dabei anderes zu tun als hinzublicken? Wie Moses in der Wüste die Schlange erhöhte, so muss des Menschen Sohn erhöhet werden. Und wozu denn erhöht, wenn nicht dazu, dass man ihn anblicke? Ja, nur derjenige, der ihn anschaut, hat das ewige Leben.
Das ist nach den Worten der heiligen Schrift und wir dürfen hinzusetzen, nach dem Zeugnis der Erfahrung der göttliche Heils- und Erlösungsplan. Euer Heil vollzieht sich weder außer noch ohne euch. Ihr könnt nicht erlöst werden, wenn ihr nicht innerlich erneuert und verändert werdet, und ihr könnt nicht verändert, das heißt, wiedergeboren werden, ohne eben dadurch erlöst zu werden. Euer Heil ist zwar nicht euer Werk, aber auf Gott sich gründend, vollendet es sich in euch und zwar im Hinblick auf die beiden großen Taten des göttlichen Erbarmens, welche dadurch bezeichnet werden, dass die Schrift Jesum Christum als den Anfänger und Vollender des Heils hinstellt. Die Vollendung des Heils aber ist gänzlich in den sittlichen Wirkungen beschlossen, welche wir angedeutet haben. Denn wenn ihr dagegen bemerkt, dass man einem andern Element Rechnung tragen muss, nämlich jener Kraft der Gnade und des heiligen Geistes, welche auf den Geist des Menschen einwirkt und welche das lebendige Prinzip seiner Wiedergeburt ist, sowie diese Wiedergeburt selbst die Bedingung, um nicht zu sagen, das Wesen des Heils ist, so werden wir darauf entgegnen, dass wir zwar mit euch hierin übereinstimmen, dass aber die Gnade, diese geheimnisvolle Kraft, deren innerliches Wirken sich unsrer Beobachtung entzieht, ihr Ziel nur erreicht, indem sie in unsern Herzen diese Freude, diese Dankbarkeit, diese Hoffnung, diese Liebe erweckt, welche zusammen genommen die Grundlage der neuen Kreatur bilden und welche, wie sie in einer Hinsicht übernatürlich sind, doch in andrer Hinsicht natürlich sind, weil sie sich genau auf die Tatsachen beziehen, welche das Kreuz uns offenbart. Wie groß auch die Notwendigkeit der Gnade ist, so ist es doch nicht weniger wahr, dass sie nicht allein wirkt, dass sie nicht ohne die Mitwirkung dieser Tatsachen wirkt, und dass man ebenso gut behaupten kann, dass diese Tatsachen uns durch die Gnade innerlich erneuern, wie dass die Gnade uns durch jene Tatsachen innerlich erneuert. Wie es sich auch mit der Gnade verhalte, es steht fest, dass nur derjenige, welcher den Sohn anschaut, das ewige Leben hat, und dass dieses Anschauen, zu welchem die göttliche Gnade uns bewegt und antreibt, hinreicht, um unser Heil zu begründen. Wir werden also, soweit die Gnade Gottes uns fähig macht, hinzuschauen, durch einen Blick errettet, dessen Gegenstand das Kreuz ist.
Allein hier begegnen uns zwei Einwände, welche sich auf die beiden hauptsächlichen Punkte des im Vorstehenden ausgesprochenen Satzes beziehen. Ist das Kreuz wirklich der einzige Gegenstand dieses Blickes? und ist dieser Blick wirklich nur ein einfacher Blick?
Wir wollen keineswegs sagen, meine Brüder, dass es in Jesu Christo nichts Bedeutsames gebe als sein Kreuz und dass man das Kreuz allein anschauen müsse und alles andere vernachlässigen dürfe. Jesus ist nicht nur dazu in die Welt gekommen, um zu sterben. Er hat gelehrt, er hat Wunder getan, er hat in den verschiedensten Beziehungen des menschlichen Lebens gelebt, und indem uns die Evangelien noch andre Erinnerungen aufbewahrt haben, als nur diejenige seines Todes, haben sie den ganzen und ungeteilten Jesus Christus uns zur Betrachtung und zur Anbetung vor die Augen gestellt. Wir wissen es und wollen es ja nicht vergessen, dass es seinem himmlischen Vater gefiel, alle Fülle in ihm wohnen zu lassen und dass er uns von Gott nicht allein zur Erlösung, sondern zur Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung gemacht worden ist. Aber Jesus Christus konnte uns nur deshalb zur Weisheit, Gerechtigkeit und Heiligung gemacht werden, weil er uns auch zur Erlösung gemacht worden ist. Und welches ist das Band zwischen der Erlösung und allem übrigen? durch welches Mittel macht die Erlösung alles übrige erst möglich und wird sie erst eine wirkliche und eine vollkommene Erlösung? Dieses Band, dieses Mittel, meine Freunde, ist eben der Blick, welcher auf die Erlösung, auf den Erlöser, auf den gekreuzigten Jesus Christus gerichtet ist. Behaltet alles von Jesu Christo mit Ausnahme des Opfers, lasst ihm seine ganze Reinheit, seine ganze Weisheit und selbst, soweit ihr es unter Beiseitelassung des Opfers könnt, seine ganze Liebe, so behaupte ich, dass, wenn das Kreuz unterdrückt wird, selbst nach jenen andern Beziehungen alle Fülle alsdann nicht in ihm gewohnt hat; ich behaupte, dass er alsdann euch weder zur Weisheit noch zur Gerechtigkeit noch zur Heiligung gemacht ist und dass er euch wesentlich und im Grunde so lassen wird, wie ihr von Natur seid. Ich gehe noch weiter: ich behaupte, dass diese Weisheit, diese Gerechtigkeit, diese Heiligung, diese unentbehrlichen Bedingungen des ewigen Lebens, diese heiligen Unterpfänder unsres himmlischen Erbes, sich im Keim und im Prinzip beschlossen finden in unserm Glauben an das Erlösungswerk oder wenn ihr wollt in dem Blick, welchen wir auf dieses Werk richten. Ich behaupte, dass sie daraus wie von selbst hervorgehen, so wie der Halm die Ähre und die Ähre das Korn aus sich hervortreibt. Ich behaupte, dass der Anfang der Weisheit, der Anfang der Gerechtigkeit, der Anfang der Heiligung sich nur in der Seele vorfindet, deren Blick auf das Kreuz sich richtet. Ich behaupte, dass in demselben Maße wie dieser Blick sich immer inniger darauf heftet, das geistige Leben unter den drei vorhin genannten Formen schweigend im Innern des Gläubigen wächst und sich entwickelt. Ich behaupte, dass es ohne diesen Blick keinen Christen gibt und dass schon dieser Blick für sich allein den Christen ausmacht.
Derjenige, welcher nicht diese Tatsache, diesen gekreuzigten Jesus Christus anschaut, derjenige, welcher sie vernachlässigt, um, wie er meint, dem Wesentlichen und der Hauptsache sich zuzuwenden, der verfehlt nur um so sicherer das Ziel, dem er zustrebt. Er sucht das Leben; aber was ist das Leben, wenn nicht der Glaube an den, den der Vater gesandt hat? Er will sich, wie er vielleicht sagt, nicht bei einer ob auch wahren, so doch müßigen Spekulation aufhalten; er will das Geheimnisvolle bei Seite lassen, um nur immer nach Klarheit zu streben; er will das Dogma aufgeben, um dafür die Moral zu pflegen. Allein will er dann einen Baum ohne Wurzeln pflanzen? oder ist das sein Wille, dass sein Weinberg, mit dem reinsten Blut des Weltalls begossen, nur ungenießbare Trauben hervorbringe? Wie? die Menschwerdung sollte wirklich eine gleichgültige Tatsache sein? wie? wenn diese Tatsache unterdrückt wird, (und das heißt doch, sie unterdrücken, wenn man sie nicht anschaut), so sollten wir trotzdem noch immer dieselbe Moral, die evangelische Moral, denselben Geist, den Geist der Heiligung besitzen? Im Gegenteil, es ist offenbar, dass wir alsdann im Evangelium nur eine neue, kaum verbesserte Anklage der Moralsysteme des Altertums haben werden. Ich sage, kaum verbessert; denn wenn sie in mancher Hinsicht richtiger und klarer erscheint, als diese, so wird sie in andrer Hinsicht dunkel, übertrieben und unausführbar erscheinen. Sie wird wie ein Buch sein, welches gänzlich aus geheimnisvollen Anspielungen besteht, für deren Verständnis man einen Schlüssel bedarf, und dieser Schlüssel ist kein anderer als das Kreuz. Was soll man da besseres tun als auf die Seite alles werfen, was dunkel ist, alles, was übersinnlich ist, alles, was übertrieben scheint, diese Gebote, sein Kreuz auf sich zu nehmen, das Himmelreich an sich zu reißen, seinen Vater und seine Mutter zu hassen, sich selbst abzusterben, zu beten ohne Unterlass? was soll man mit einem Wort besseres tun als wieder zur Höhenlage der natürlichen Moral herabzusteigen, indem man dabei immerhin noch heilige Namen ausspricht, erhabene Erinnerungen anruft, und ohne Verständnis wie auch ohne wahre Zustimmung des Herzens und infolgedessen ohne wahren Glauben gottesdienstliche, fromme Gebräuche mitfeiert, deren Sinn und Bedeutung, wie es unsre Moral und unser Leben hinlänglich beweisen, uns völlig verborgen ist?
Man darf nicht sagen: unter vielen anderen Wahrheiten gibt es auch diese im Evangelium. Man darf auch nicht sagen: diese Wahrheit ist die wichtigste des Evangeliums. Man muss sagen: diese Wahrheit ist das Evangelium selbst und alles Übrige ist, wenn ich so sagen darf, entweder die Form oder die Übersetzung oder die Anwendung davon. Diese Wahrheit ist überall im Evangelium gegenwärtig, sowie das Blut überall im menschlichen Körper gegenwärtig ist. Alles erinnert an sie, alles vergegenwärtigt sie dem, der die grundlegende Wahrheit begriffen hat; selbst da, wo jeder andre sie nicht vermutet, sieht und fühlt er sie. Nach welcher Seite er auch blickt, zu welchem einzelnen Zug im Leben er auch herabsteigt, auf welche Anwendung christlicher Grundsäge er hinschaut, überall begegnet sein Blick dem Kreuz. Und wie sollte er es nicht überall vorfinden in einem Buch, in einer Religion, deren Mittelpunkt und hauptsächlichster Gegenstand das Kreuz ist? Denn Jesus Christus ist nicht eigentlich dazu in die Welt gekommen, um uns unter Gefahr seines Lebens und für den Preis seines Blutes die rechte Moral zu lehren. Jesus Christus ist nicht in die Welt gekommen, um uns praktische Lebenswahrheiten zu predigen, welche wir niemals vergessen haben würden, wenn wir nicht Gott vergessen hätten, und welche wir schnell wiederfinden werden, sobald wir Gott wiedergefunden haben, und diese Wahrheiten, ich meine damit diejenigen, welche für die Moral des Evangeliums charakteristisch sind, sind solche, dass Jesus Christus sie nur unter der Voraussetzung bekannt geben konnte, dass er diesen furchtbaren Grundsätzen das Bild eines barmherzigen. Gottes und die Gewissheit seiner Gnade in der Erniedrigung und in dem Opfer seines Sohnes gegenüberstellte. So ist also unser Heil weder an die Bekanntmachung dieser Grundsähe noch an die Bedeutung, welche wir ihnen beilegen können, indem wir sie von der Person und von dem Werk dessen, der sie bekannt gemacht hat, loslösen, geknüpft, sondern vor allem an die Menschwerdung Jesu Christi, an seine Erniedrigung, an seine Leiden, an seinen Tod und folglich an den Blick, welcher uns alle diese wunderbaren Tatsachen vor Augen stellt und sie uns gleichsam zu eigen macht. hat man erst einmal diese große göttliche Gnadentat im Glauben angenommen, so ist es gut und nützlich, alle Lehren und Unterweisungen Jesu Christi und seiner Apostel, für die man nun den rechten Schlüssel des Verständnisses zu besitzen überzeugt sein darf, genau zu betrachten. Allein immer gilt es dabei, um diese Lehren und Unterweisungen zu lesen, sich dem sterbenden Jesus Christus wie einer Fackel zu nähern, welche uns, je näher wir an sie herantreten, das Lesen nur um so leichter macht. Unter dem immer tätigen Einfluss, ja, in Gegenwart und inmitten dieses Gedankens, ganz umgeben von seinem Licht und ganz erwärmt von seiner Glut gilt es alles, was das Evangelium außer jener zentralen Wahrheit in sich schließt, zu erforschen. Sage ich zu viel? es gilt, diese Moral gewissermaßen auf das Kreuz Jesu Christi zu schreiben, damit unsre Augen, wenn sie diese Moral zu lesen beginnen, sich nicht mehr von diesem Kreuz abwenden. Aber ist sie nicht schon darauf geschrieben? ist der Golgathahügel nicht ein neuer Sinai geworden? ist das Kreuz nicht die neue Gesetzestafel eines neuen Moses? und ohne dass unsre Blicke sich von diesem zugleich verfluchten und gesegneten Holze trennen, ohne auch nur einen einzigen Augenblick ihn aus den Augen zu verlieren, den unsre Sünden daran geheftet haben, können wir denn nicht daran wie einen neuen Dekalog, wie eine Summe dieses neuen Bundes sowohl die Gesetze als die Verfassung dieses neuen Volkes lesen, welches er auf Erden aus jedem Stamm, aus jeder Sprache, aus jedem Volk und jeder Nation zu sammeln gekommen ist?
Nein, das Kreuz ist nicht nur die Fackel, bei deren Licht wir die anderwärts niedergelegten und ausgesprochenen Lehren und Unterweisungen lesen, das Kreuz selbst ist reich an Belehrungen. Sprechen wir in Kürze von den Belehrungen des Kreuzes.
Zwar hatte der Heiland nicht bis zu seinem Leiden gewartet, um große und wichtige Dinge zu lehren. Welch einen erhabenen Unterricht hatte der, in dem verborgen sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis (Col. 2, 3), bereits im Laufe seines öffentlichen Wirkens gegeben! Welch einen Unterricht über die Heiligkeit und Unverletzlichkeit des göttlichen Gesetzes, welches keinen geringeren Inhalt hat als die Vollkommenheit und von dem kein Jota in Wegfall kommen kann! Welch einen Unterricht über das Elend der Menschen in all den feierlichen Worten, welche es aussprechen, dass wenn ein Mensch nicht von neuem geboren wird, er nicht in das Reich Gottes kommen kann, und dass wer nicht an den Sohn Gottes glaubt, unwiederbringlich verloren ist. Aber was würden all diese Unterweisungen sein ohne die Tatsachen, auf welche sie sich beziehen? Man darf nicht einmal eigentlich sagen, dass die Tatsachen die Bestätigung der Worte sind; man muss vielmehr sagen, dass die Worte die Bestätigung der Tatsachen sind. Die Belehrung beruht in den Tatsachen und sie konnte nur darin und nirgends anders bestehen. Wer würde jemals an die Heiligkeit des Gesetzes geglaubt haben ohne diese blutige Sühne, an das tiefe Übel der Menschheit ohne die Anwendung eines so gewaltsamen Heilmittels, an eine solche Milde ohne ein solches Opfer? Wer würde es jemals ohne dies alles begriffen haben, in wie weit wir Gott verantwortlich sind, in wie weit wir uns selbst absterben müssen, um ein wahrhaftes Leben zu leben, in wie weit wir gegen die Geschöpfe Gottes verpflichtet sind, wie weit unsre Aufopferung und Liebe gegen alle Menschen gehen muss? wie sollen wir über alle diese Gegenstände aufgeklärt werden? soll es durch einen Sonnenstrahl oder durch einen Donnerschlag geschehen? Es wird durch beides zugleich geschehen. Denn das Kreuz ist das eine so gut wie das andere. Aber ob Schrecken, ob Entzücken erregend, die Klarheit kommt nirgends anders woher als vom Kreuz. Über alle jene Wahrheiten erwartete die Menschheit Tatsachen; die Menschheit hatte nicht das Bedürfnis zu hören, sondern zu sehen. Jesus als Sühnopfer musste bei den Menschen erst Jesum als Lehrer beglaubigen. Der Hohepriester musste den Propheten einführen.
Zwar war das ganze Leben Jesu reich an Beispielen und vorbildlichen Taten. Sein ganzes Leben ist eine Passion, ein verlängerter Tod gewesen und das Kreuz war nur der Höhepunkt und die Weihe davon. Aber wenn das Leben Jesu auch bei einem natürlichen und friedlichen Tod uns noch als das schönste und herrlichste Leben erscheinen müsste, welch eine Krönung empfängt es nun erst durch sein Leiden und Sterben! Wir haben schon gesagt, wie viel der beständige Anblick des Guten und Gerechten dazu beitragen kann, uns nach und nach das Gute und Gerechte selbst liebzumachen. Alle Tugenden des heiligen Lebens Jesu sind in seinem Sterben zusammengefasst, aber zugleich zu ihrer höchsten Stufe erhoben. Der Tod Jesu, so feierlich angekündet, mit all seiner Bitterkeit, all seiner Schmach vorhergesehen und trotzdem so ruhig erwartet und so willig erduldet, ist der vollendetste und höchste Ausdruck des Gehorsams, der Treue, der Aufopferung.
Die Menschheit, welche von jeher das Ideal der reinen Liebe in sich trug, erwartete seit langem die Verwirklichung desselben. Aber seit dem Tag der Kreuzigung erwartet sie dieselbe nicht mehr; denn wie es ein Apostel gesagt hat, daran haben wir erkannt die vollkommene Liebe, dass Christus sein Leben für uns gelassen hat. Christus hat sein Leben für uns gelassen! Was wird diese Tatsache bedeuten, wenn wir nun den Tod Christi mit all den Umständen bekleiden, welche ihn durchaus einzigartig und unvergleichlich machen, wenn wir ihn in dem unnachahmlichen Charakter von Hoheit und Herablassung, von Mitleid und Erhabenheit betrachten, welcher aus diesem Kreuz einen Thron, einen Gerichtshof, einen Zufluchtsort macht und uns noch nach achtzehn Jahrhunderten nötigt, mit dem Hauptmann auszurufen: „Wahrlich, dieser ist ein frommer Mensch und Gottes Sohn gewesen.“ Lassen wir diesem göttlichen Mittler alles, was er uns nicht mitteilen kann. Seine Gottheit gehört nur ihm; aber seine Menschheit gehört uns. Die Tugenden, welche er am Kreuze beweist, sind menschliche Tugenden. Sie sind zu unserm Gebrauch. Sie sind uns zum Vorbild und zur Nachahmung gegeben. Sie bilden einen Teil unsres Erbes von von ihm. Nun wohl, sein ganzes Leben hat denselben Charakter an sich getragen, wie sein Tod. Treu, gehorsam, geduldig, liebreich ist er ohne Aufhören gewesen von den ersten Tagen an, wo die Geschichte ihn unsern Augen zeigt. Aber das genügte uns noch nicht. Selbst als Vorbild war dieser Tod mit all seinen besonderen Eigenschaften unerlässlich. Ohne denselben konnte es scheinen, als hätten die Tugenden Jesu doch vielleicht ihre Schranken. Sein Vorbild, zwar an sich selbst vollkommen, blieb doch unvollkommen durch die Unvollkommenheit der verschiedenen möglichen Lagen, in denen es sich darstellen konnte. Bis zum Tode Jesu kannten wir noch nicht alles, was die Menschenseele an Tugenden zu entfalten berufen ist. Jetzt wissen wir es. Jesus Christus lehrt es uns. Aber ohne sein Kreuz hätte er es uns nicht gelehrt.
Und endlich, meine Brüder, musste man denn nicht außer der Unterweisung und dem Vorbild Jesu noch etwas anderes von ihm empfangen? oder genügten sein Vorbild und seine Lehre? Ihr wisst es wohl, dass sie nicht genügten, dass sie im äußersten Fall hinreichten, um unsre Verdammnis nur noch unvermeidlicher zu machen, wenn sie anders uns zwar die volle und ganze Wahrheit zeigten, aber uns nicht auch innerlich mit der Wahrheit in Gemeinschaft setzten? Und wie dürften wir diese Gemeinschaft, diese Veränderung des Herzens und der Natur von dem alleinigen Einfluss des Vorbildes und der Belehrung erwarten? Man müsste sich von der Bekehrung des Herzens eine sehr schwache, eine sehr falsche Idee machen, um sich einzubilden, dass selbst die schönsten Vorbilder und die ernstesten Unterweisungen die Bekehrung irgend eines Menschen zu Stande bringen könnten. Wenn die Bekehrung gleichzeitig ein Tod und eine Geburt ist, der Tod des alten Menschen und die Geburt eines neuen Menschen, wenn die Bekehrung ein Sieg über die Welt ist, ich meine über die Vergnügungen, über die Meinung, über die Vorurteile, über die Weisheit, über die Tugenden der Welt, wenn die Bekehrung uns blind macht für die sichtbaren Dinge und uns die Augen öffnet für die unsichtbaren Dinge, wenn sie uns der Welt gebrauchen lässt, als gebrauchten wir ihrer nicht, wenn sie uns, mit einem Worte, auf der Erde ebenso fremd macht dem Geiste und der Gesinnung nach, als wir es unserm Ursprung und unsrer Bestimmung nach sind, wenn die Bekehrung dies alles und nichts weniger ist, so setzt sie ein so vollkommenes und so ernsthaftes Abschwören aller Grundsätze des natürlichen Menschen voraus, ich meine nicht nur seiner Laster, sondern selbst seiner Tugenden, so seht sie so sehr ein allgemeines und rückhaltloses Opfer voraus, dass es töricht sein würde, dem Vorbild und der Belehrung, welche es auch sei, die Kraft zuzuschreiben, in uns eine so innerliche und so grundlegende Revolution hervorzubringen. Aber wir dürfen nicht zweifeln, diese Revolution hat bei verschiedenen Personen wirklich stattgefunden, ja, sogar bei einer großen Zahl, wenn wir zu denen, welche uns persönlich bekannt sind, noch diejenigen hinzufügen, deren Charakter und Leben durch unverwerfliche Zeugnisse uns vor die Augen gestellt worden sind. Übrigens hat auch die Gesellschaft diese Revolution erfahren, und um nur das Eine hervorzuheben, so haben die gebildetsten Völker das Wappen Jesu Christi, das Kreuz angenommen, haben ihre Gesetze und Verträge damit gesiegelt, haben es in ihre Gebräuche und Sitten eingegraben. Glaubt ihr im Ernst, dass der, zu dessen Ehre und unter dessen Anrufung die Welt Gesetze, Sitten und Gesinnung geändert und achtzehn Jahrhunderte hindurch trotz aller Hindernisse, welche ihr die Feinde dieses Werkes in den Weg legten, ein und dieselbe unveränderliche Richtung eingehalten hat, in den Augen der Welt nur der erste unter den Weisen und nur der erste unter den Tugendhaften gewesen sei? Nein, er war der Gekreuzigte; nein, er war der Versöhner; nur vor einem solchen und nicht vor einem Geringeren konnten achtzehn Jahrhunderte, eines nach dem andern, ihr Haupt beugen; und um auf ihre Fahnen das Bild einer so schmachvollen Todesart zu zeichnen und um das Kreuz auf den Giebeln ihrer Paläste zu errichten und dasselbe auf die Siegel ihrer Staaten und Städte zu prägen, musste der, der am Kreuz gehangen hat, mehr sein als ein opferwilliger Menschenfreund, musste er ein Versöhner, mehr als ein Märtyrer, musste er ein Gott sein. Streicht aus dem Evangelium, ich sage nicht das Kreuz, aber die evangelische Bedeutung des Kreuzes aus und ihr macht diese achtzehn Jahrhunderte unverständlich, ja, unmöglich. Aber ihr werdet es nicht tun. Denn wer von euch, selbst ohne es zu begreifen, selbst ohne beizustimmen, ist nicht genötigt, anzuerkennen, dass das, wodurch allein soviel aufeinander folgende Geschlechter veranlasst wurden, ein Kreuz zum Sinnbild ihres Glaubens und ihrer Bildung und Gesittung zu machen, nichts anderes war als dass sie am Kreuze einen Versöhner und in diesem Versöhner die volle religiöse Wahrheit und das letzte Offenbarungswort Gottes über sich selbst und über die Menschheit erblickten? Wir dürfen uns nicht bedenken, es offen auszusprechen: ohne diese Überzeugung würde man schon lange nicht mehr in der Welt vom Evangelium sprechen, wenn man dann überhaupt von ihm gesprochen hätte. Es ist nicht sowohl das Evangelium, welches uns die Lehre vom Kreuz erhalten hat, als vielmehr die Lehre vom Kreuz, welche uns das Evangelium erhalten hat.
Wie die Erde mit allen andern Himmelskörpern nur von der Hand eines Gottes den ersten und unerschöpflichen Anstoß empfangen konnte, welcher sie seitdem schon viele Jahrtausende hindurch antreibt, um die Sonne diesen ungeheuren Kreislauf zu vollziehen, dessen immer gleiche Bewegung für uns die Jahre und die Jahrhunderte bestimmt, so konnte der Mensch und die Menschheit auch nur durch Christus und zwar durch den sterbenden Christus in die neue Kreisbahn gelenkt werden, welche über die weltliche Sphäre hinaus sie eine geistliche und göttliche Sphäre durchlaufen lässt. Darin allein beruht die ganze Kraft, die ganze Wirklichkeit des Christentums in jedem Christen. Selbst das Vorbild und die Lehren Jesu Christi bedürfen, um lebendig und fruchtbar zu werden, eines vom Kreuz ausgehenden Strahls. Ohne das Kreuz ist ihre Tragweite anfechtbar, ihre Bedeutung ungewiss; sie haben keinen feststehenden, bestimmten und allgemein giltigen Wert. Sie bekommen ihn erst von dem Augenblicke an, in welchem dieser Strahl, ich meine dieser leuchtende Blick des gekreuzigten Christus deutlich und klar alle Linien und alle Charakterzüge derselben hervortreten lässt. Vor allem entschließt sich nunmehr erst die Seele, jene Lehren zu beachten und jenem Vorbild nachzufolgen und verzichtet nunmehr erst auf jedes Mittel, auf die alte verlassene Bahn wieder zurückzukehren. Entschlossenheit, Kraft und Leben sind nur dort zu finden, weil nur vom Kreuze Jesu aus und von keiner Lehre und keinem Vorbild Freude und Liebe in unversiegbaren Strömen fließen. Freude, sage ich, und Liebe! Denn beides, obwohl scheinbar so verschieden, gehört doch eng zusammen. Aber wenn die Liebe nicht ohne die Freude ist, so ist auch die Freude nicht ohne die Liebe. Denn wenn die Freude die Bedingung der Tätigkeit überhaupt ist, so ist die Liebe die Bedingung einer göttlichen Tätigkeit und eines göttlichen Lebens. Ohne Zweifel ist das, was unsern Blick auf den gekreuzigten Jesus lenkt und ihn dabei festhält, die Freude, in ihm unser Heil zu finden. Aber das, was uns in Wahrheit unser Heil in ihm finden lässt, das, was bei jenem Anblick unser Heil vollkommen macht, das ist nicht die Freude, sondern die Liebe, mit welcher unser Blick sich in Gegenwart oder besser zu den Füßen der göttlichen Liebe sich erfüllt. Wir wollen damit nicht etwa das beschauliche Leben verherrlichen. Aber seitdem Jesus Christus erschienen ist, haben wir das Recht, euch aufzufordern, meine Brüder, ihn anzuschauen. Die Freude am Heil ist, wie ich zugeben will, notwendig, um in unserm Herzen die gefesselte Liebe zu befreien. Aber nachdem ihre Fesseln einmal gesprengt sind, was können wir dann besser tun, als sie ihren Aufschwung nehmen zu lassen und sich immer aufs neue erquicken und beleben zu lassen in der Anschauung der vollkommensten Liebe? Ach, dass der Mensch sich doch einmal ganz vergessen könnte! dass er doch einmal für etliche Augenblicke wenigstens sein ganzes Glück in der Bewunderung, in der Begeisterung, in der Hingabe finden könnte! dass er doch nicht nur sprechen wollte: Jesus hat mich erlöst, Jesus hat mich geliebt! sondern: Jesus ist die Erlösung, Jesus ist die Liebe! Was ist es denn nach allem, was die menschliche Seele zu der vollen Höhe erhebt, die sie überhaupt erreichen kann? was ist es, was sie, nach dem Ausdruck eines Apostels, teilhaftig macht der göttlichen Natur (2. Petr. 1, 4)? Das ist nicht die Freude, sondern die Liebe. Die Freude kommt der Liebe in ihrer zeitweiligen Schwäche zu Hilfe. Dazu ist die Freude gut und und brauchbar, aber auch nur dazu. Die Liebe ist das Ziel der Freude. Die Liebe allein ist das Leben. Das lässt sich an einem Vergleich erkennen. Welches sind denn im Leben eines jeden Menschen die glücklichen Augenblicke? das sind die Augenblicke, wo die Seele sich mit dem, was gut, groß und edel ist, durch Bewunderung oder Zuneigung vereint; sie fühlt es, dass diese Augenblicke sich nur zu verlängern brauchten, um eine höchste Glückseligkeit für sie zu bewirken. Die Seele ist nur dann völlig glücklich, wenn sie in der Vereinigung mit ihrem Ursprung sich selbst vergisst, wenn sie nichts mehr sieht, als ihren Ursprung, wenn sie sich in ihm verliert und in Beziehung auf Gott, den sie liebt, nichts anderes ist als ein Spiegel, ein Altar, ein Echo. Allzu oft bringen uns die ernstesten und die eines Christen würdigsten Spekulationen in Gefahr, dass wir uns viel zu sehr mit uns selbst beschäftigen; diese Betrachtungen, diese Streitfragen über die Freiheit, über die Heilsgewissheit, über den Zusammenhang des Glaubens mit den Werken und über andere Punkte des Glaubens vermischen uns zu sehr mit unserm Gegenstand und haben meist einen allzu sehr ausgesprochenen persönlichen Zug an sich. Aber der Blick auf Jesum und dieser Blick allein hat eine entgegengesetzte Kraft. In dem Maße als er andauert, erweckt er in unsrer Seele eine heilige Begeisterung, eine heilige Liebe, macht er diese Empfindungen bleibend und herrschend in unserm Herzen, wird er das Licht und die Wärme unsres Lebens, erleichtert, vereinfacht und erleuchtet er alles, löscht er durch seine Klarheit jeden zweifelhaften, jeden falschen, trügerischen Glanz aus, beseitigt er alle leichtfertigen Fragen, erzeugt er eine siegreiche Gewissheit, hebt er uns schon im voraus zum Himmel empor und legt alle Wolken, welche drohend über unserm Haupte standen, uns zu Füßen.
Und das, was dieses Leben schafft und unterhält, regelt es gleichzeitig. Das Gefühl einer selbst unvollkommenen Kraft flößt leicht den Stolz und die Unbesonnenheit ein. Aber in jenem Licht des Kreuzes sind alle Schätze der Weisheit mit inbegriffen. Es erweckt in uns nicht das Vertrauen auf Gott, ohne gleichzeitig in uns ein tiefes Misstrauen zu uns selbst zu erwecken. Ja, es macht sogar aus diesem Misstrauen einen Bestandteil unsres Glaubens, eine Voraussetzung unsrer Kraft, ein Unterpfand unsres Heils. Mit einem Wort: es flößt uns gleichzeitig die Demut und den rechten Mut ein, indem es unsre Blicke und unsre Hoffnung auf denselben Gegenstand hinlenkt und uns unaufhörlich durch den Mund des Propheten zuruft: „Schaut den Fels an, davon ihr gehauen seid, und des Brunnen Gruft, daraus ihr gegraben seid (Jes. 51, 1).“
Wir können, meine Brüder, nicht alles, was sich über diesen Gegenstand sagen ließe, ausführlich behandeln. Aber das ist auch nicht nötig. Wir haben, wie ich meine, genug gesagt, um zu erkennen, dass Jesus Christus, der Gekreuzigte, der wichtigste Gegenstand des christlichen Glaubens ist, dass der Glaubensblick des Christen, wenn er diesem Gegenstand sich zuwendet, unfehlbar darin alle anderen Gegenstände der christlichen Heilswahrheit findet, dass wir dieselben nur dann nützlich betrachten können, wenn wir sie dicht neben das Kreuz stellen, welches uns dieselben allein richtig anschauen und beurteilen lehrt, mit einem Wort, dass es wohl noch andre Fragen und Gegenstände in der Religion gibt, dass wir aber nur durch Jesum Christum den Gekreuzigten und in ihm eine wirkliche, eine genaue, eine tiefe, lebendige und heilsame Erkenntnis haben können. Jesus Christus, wir wiederholen es, ist uns zur Weisheit, zur Gerechtigkeit zur Heiligung nur darum gemacht worden, weil er uns auch zur Erlösung gemacht worden ist. Auf diese Tatsache, auf das aus Gnaden Seligwerden, auf die Versöhnung, auf die durch den Gottmenschen vollbrachte Heilsvermittlung haben darum auch die Apostel, hat Jesus Christus selbst den Blick der entstehenden Kirche gelenkt, in der Gewissheit, dass wenn die Erkenntnis des Christen erst einmal im Mittelpunkt der Wahrheit festen Fuß gefasst habe, sie alsdann auch leichter alle übrigen Punkte erfassen und erreichen würde. Als Jesus Christus seine Lehre kurz zusammenfassen und in einer äußeren Handlung gleichsam sichtbar machen wollte, welche ihr völlig entsprechender Ausdruck sein sollte und worin niemand sie verkennen könnte, was tat er da? Er setzte das heilige Abendmahl ein, welches den für unsre Sünden dahin gegebenen Leib und das für unsre Missetat vergossene Blut Jesu Christi darstellt und welches nichts anderes darstellen kann, so dass bis an das Ende der Zeiten überall, wo das heilige Abendmahl gefeiert werden wird, das Gedächtnis an den gekreuzigten Heiland lebendig bleiben wird. Und so haben auch zu allen Zeiten die wahren Reformatoren den Blick der Kirche auf diesen Mittelpunkt wieder hingelenkt und eine jede Kirchengemeinschaft hat durch den Blick auf ihn das Leben wiedergefunden, welches sie anderswo weder suchen noch finden konnte. Wollen die Apostel das Leben in ihren Gemeinden erwecken und bestätigen, so richten sie, wie Moses in der Wüste, die eherne Schlange auf und rufen aus: „Lasst uns aufsehen auf Jesum, den Anfänger und Vollender des Glaubens (Hebr. 12, 2).“ Nehmen sie wahr, dass das Leben, der Eifer, die Liebe in ihren Gemeinden ermattet, so sprechen sie das Losungswort des Christentums aus, berufen sich auf das Andenken des Gekreuzigten und stellen ihn mit einem Ausruf schmerzlichen Erstaunens und Tadels den ungetreuen Dienern vor Augen: , ihr unverständigen Galater! wer hat euch bezaubert, dass ihr der Wahrheit nicht gehorchet? Ihr, denen Jesus Christus vor die Augen gemalt war und vor denen er, so zu sagen, gekreuzigt wurde?“ Es ist unnütz, die Beispiele zu vermehren und die Beweise, welche aus der Vergangenheit sich entnehmen lassen, noch mehr zu häufen. Die Gegenwart fordert auch, dass man von ihr spreche.
Was heißt denn heute das Evangelium predigen, wenn nicht dies, dass wir dem Blick der Menschen den Gekreuzigten vorhalten? wo sehen wir ein christliches Leben erblühen und sich entfalten, wenn nicht einzig und allein da, wo die Predigt sich zusammenfasst in dies Wort: Schaut den an, welchen ihr durchstochen habt!“ Ja, dies Wort allein, dieser Gegenstand allein, das Kreuz kann genügen, um Christen zu machen; aber ohne dasselbe genügt nichts. Der eigentliche Gegenstand der Predigt der Missionare draußen wie der Predigt unter uns ist der, Jesum Christum zu verkündigen. Das ist die Kraft, die Bedeutung, der Schlüssel für alles, was überhaupt gepredigt werden kann. O Wunder, welches über unser Begreifen hinausgeht! Ein Blick, ein einfacher Blick, also kein Vernunftschluss, kein gelehrtes Studium, keine Anstrengung und Arbeit, ein einfacher Blick bekehrt die Welt, und die wesentliche Aufgabe des Apostels ist es, die Sünder, diese wie in einer anderen Wüste mit dem Tode Kämpfenden, zu bestimmen, dass sie ihr niedergesunkenes Haupt vom Boden erheben und ihren Blick nach der Seite hinlenken, die man ihnen bezeichnet. Und was erblicken sie da? Es ist ein Kreuz, ein abstoßender und blutiger Gegenstand, ein Marterwerkzeug, ein Sinnbild der Schmach, welches, wenn der daran Gestorbene nicht durch seine Person diese schimpfliche Todesart geweiht hätte, auf unsre Einbildungskraft den Eindruck eines Galgen oder eines Schafotts machen würde. Nun wohl, der Anblick dieses Gegenstandes ist es, welcher das Heil der Welt verwirklicht, dessen gesamter Preis durch die göttliche Güte bezahlt worden ist, und alles, was wir dabei zu tun haben, nicht als Bedingung des Heils, sondern als Mittel, um es uns anzueignen, ist das eine, dies Kreuz anzuschauen; nicht in dem Sinne, als wenn dieser Blick alles sei, sondern in dem Sinne, dass dieser fruchtbare und schöpferische Blick alles in sich schließt und alles hervorbringt. Wenn die allzu empfindlichen Gemüter, deren Einbildung eine stärkere Abneigung hat als die Bedürfnisse und Instinkte ihrer Seele, wenn die Bewunderer der menschlichen Vollkommenheit, welche der Gedanke an eine blutige Sühne und an ein Heil, welches ihr Stolz nicht umsonst annehmen will, in Aufregung versetzt, ihre Augen von dem gleichzeitig demütigenden und entsetzlichen Schauspiel abwenden, welches wir ihnen zeigen, wenn das, was es Trauriges hat, ihnen dasjenige verbirgt, was es Erhabenes an sich trägt, so haben wir die auf eine Erfahrung von Jahrhunderten gestützte Hoffnung, dass sich weniger stolze Geister finden werden, welche ihre Blicke nicht hartnäckig abwenden, sondern bereit sein werden, den, den sie durchstochen haben, anzuschauen und zu betrachten. Und mögen immerhin, o du unser himmlischer Bruder, sich mehrere an dir ärgern, weil du ohne Gestalt und Schöne bist, mögen sie immerhin ausrufen: „Wie? das ist der, den man unserem Glauben als den Herzog unsrer Seligkeit anbietet, und es ist doch nichts an ihm, was man begehrenswert finden könnte!“ so werden sich doch in allen Jahrhunderten, in allen Ländern und in allen Ständen Bewunderer deiner Schönheit finden, o du am Kreuze Hängender, und deine Schönheit wird ihnen niemals größer und göttlicher erscheinen als unter dem Todesschweiß von Golgatha, unter den rohen Beschimpfungen der Kriegsknechte und unter dem Blut, welches die Dornenkrone über deine geheiligte Stirn hat fließen lassen! Du erscheinst ihnen am Kreuz schöner als irgend ein Mensch und sie grüßen dich bewegten Herzens mit dem Liede:
O Haupt voll Blut und Wunden,
Voll Schmerz und voller Hohn,
O Haupt, zum Spott gebunden
Mit einer Dornenkron,
O Haupt, sonst schön gekrönet
Mit höchster Ehr und Zier,
Jetzt aber höchst verhöhnet,
Gegrüßet seist du mir!
Für diese stillen, demütigen Seelen ist der Heiland am Kreuz schön, schön wie das Heil, wie die Liebe, wie die Wahrheit, wie die Hoffnung, weil eben Jesus am Kreuz das völlige Heil, die völlige Liebe, die völlige Wahrheit, die völlige Hoffnung bedeutet; schön in der Schönheit der Gnade und in der Schönheit des Gesetzes, weil er am Kreuz, an das ihn seine Liebe geheftet hat, zugleich die volle Gnade und das volle Gesetz darstellt, so dass seine Jünger bei dem Anblick seiner Schmach von Herrlichkeit, bei dem Anblick seiner Schmerzen von Freude, bei dem Anblick seines Todes von Leben reden und dass dieses Kreuz, an dem Jesus unbeweglich hängt und wo es mit seiner Wirksamkeit und seiner Lehre scheinbar ein Ende hat, ihnen Jesum als frei, als lehrend und predigend, als im Triumph und in Herrlichkeit einherschreitend erscheinen lässt, so dass sie vor diesem Fluchholz niederknieen und ausrufen: Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Boten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!“ (Jes. 52, 7.)
In der Tat, meine Brüder, wenn man in seinen Gedanken alle diese Züge vereinigt, so muss man sich nicht sowohl darüber wundern, dass sich etliche Blicke dem gekreuzigten Jesus zuwenden, sondern nur darüber, dass er nicht die Blicke aller Menschen in einer gemeinsamen und innigen Betrachtung auf sich zieht. Selbst wenn wir dort am Kreuz nur das erblicken wollen, was die Menschen gemeinhin schön nennen, so wurde ihrer Bewunderung niemals ein schöneres Schauspiel dargeboten. Schon die Weisheit des Altertums sagte: es ist ein Schauspiel für Götter, einen gerechten und guten Menschen zu sehen, welcher allem Missgeschick die unzerstörbare Heiterkeit seiner Stirn entgegenstellt. Ein solches Schauspiel für Götter, ein Opfer der Bosheit der Menschen zu sehen, welches in jeder Schmach, die ihm angetan wird, nur einen Antrieb mehr erblickt, für sie einzutreten, sollte das nicht auch ein Schauspiel für uns Menschen sein? Hat nicht eine so durchaus göttliche Liebe noch weit mehr Rechte als eine nur menschliche Tugend? Kann Gott der Herr und der sterbliche Mensch ernsthaft mit einander verglichen werden? und wenn Gott es nicht verschmäht, auf uns Menschen herabzublicken, sollte es dann für uns Menschen zu viel sein, ich sage nicht, unsre Blicke bis zu Gott zu erheben, aber ihn mit gebeugten Knien anzuschauen und es als unser höchstes Gut, als unsre einzige Ehre zu erbitten, dass dieser Anblick, welcher unser innerstes Wesen bewegt und umgestaltet, uns niemals entzogen werde?
Ich sage, dass dieser Anblick Gottes uns umgestaltet. Denn wie dürfen wir hier nur von Bewunderung reden? um Bekehrung handelt es sich vielmehr. Wie können wir nur von der Schönheit reden? um unser Heil handelt es sich. Jenen Blick empfehlen wir als heil- und rettungbringend, als fähig, uns vom Tod zum Leben hindurchdringen zu lassen. Wir empfehlen ihn vor allen denen, welche nicht glauben, damit sie durch diesen Blick glauben lernen und leben. Und damit kein Missverständnis entsteht, wir meinen hier, wenn wir vom Blick sprechen, nicht etwa die Prüfung der Beweise, welche die Wahrheit der christlichen Religion begründen, obwohl das für dieselbe abgelegte Zeugnis durch Wunder, durch Zeichen und andre göttliche Machterweise genugsam bestätigt worden ist; wir meinen hier, wenn wir vom Blick sprechen, auch nicht das Studium der heiligen Schrift, obwohl das feste prophetische Wort überall von Jesu Zeugnis ablegt. Alle diese Bemühungen sind notwendig und empfehlenswert und wir wollen euch keineswegs von der Schriftforschung abhalten, welche heutigen Tags nur allzu sehr vernachlässigt wird und ohne welche wohl viele niemals dazu gelangen werden, Jesum Christum anzuschauen; aber alle solche Arbeiten werden nicht im Stande sein, den Blick zu ersetzen, den wir fordern, während dieser Blick allein sie bereits oftmals ersetzt hat. Wohl kommt der Glaube aus der Predigt und die Predigt seht das Hören voraus. So ist das Hören gleichsam der Ausgangspunkt des Glaubens. Aber dem Blick kommt es zu, das unvollständige Werk des Gehörs zu vollenden. Wo ist nach eurer Meinung ein Mensch, welcher viel von Jesu hat sagen hören, welcher viel über ihn gelesen hat, welcher aber niemals zu ihm aufgeblickt hat? Wo ist ein Mensch, welcher sich sorgfältig über die Beweise der Gottheit Jesu Christi unterrichtet und sie angenommen hat, der aber nicht zugleich aufgeblickt hätte zu Jesu? Wo ist ein Mensch, welchen jene Beweise überzeugt, zum Glauben genötigt, den seine Forschungen bis an den Fuß des Kreuzes geführt haben, und der nun mit zum Boden niedergesenkten Augen dort stehen bliebe und sie nicht zum Kreuz selbst und zu dem erheben wollte, dessen anbetungswürdiges Blut vom Kreuzesstamm herabfließt? Sind wir etwa voreilig, von diesem Blicke als von einer Bedingung des wahren Glaubens zu sprechen, wenn Jesus Christus selbst gesagt hat: „Wer den Sohn anschaut und glaubt an ihn (das will sagen: ein Jeder, der, nachdem er den Sohn angeschaut hat, an ihn gläubig geworden ist), hat das ewige Leben?“ Diese Worte, meine Brüder, machen das Leben entschieden von einem Blick abhängig, zwar nicht von jedem beliebigen Blick, aber von einem aufmerksamen, wahrhaften und anhaltenden Blick, von einem einfachen, kindlichen Blick, in den sich die ganze Seele hineinlegt, von einem Seelenblick und nicht einem Verstandesblick, von einem Blick, der seinen Gegenstand durch die Augen völlig in die Seele aufnehmen will.
Habt ihr schon in solcher Weise Jesum angeschaut, ihr, die ihr ihn verleugnet oder die ihr, ohne ihn zu verleugnen, vielleicht noch schlimmer handelt, da ihr ihn völlig zunichte machen wollt? O, verleugnet ihn nicht, verwerft ihn nicht, diesen Gottmenschen, diesen Mann der Schmerzen, bevor ihr ihn angeschaut habt! Ein einziger, freier, vorurteilsloser Blick hat ihm schon manches Mal diejenigen zugeführt, welche zum ersten Mal von ihm sprechen hörten. Dieselbe Gnade wird vielleicht auch euch gewährt werden. Aber das ist gewiss, dass sie jedenfalls einem beständigen und anhaltenden Blick nicht verweigert werden wird. Wenn Jesus, wie der Apostel sagt, vor eure Augen gemalt sein wird, wenn er infolge dieses tiefdringenden Blicks gleichsam vor euch gekreuzigt sein wird, wenn ihr zum ersten Mal die ganze Herrlichkeit seines Martyriums, die ganze heilige Majestät seines Todes, das ganze Gewicht seiner legten Worte betrachtet, wenn ihr durch den Schleier seiner Leiden bis zu dem innersten Geheimnis seines Werkes und seiner Seele hindurchgedrungen sein werdet und die Gottheit selbst bis zu unserm menschlichen Elend in der Person Jesu Christi herabgestiegen und erniedrigt seht, wenn ihr in gewissem Sinn mit euren Augen gesehen und mit euren Händen betastet habt, was wir euch verkündigen, dann wird ebenso einfach und selbstverständlich, wie das Licht in die Augen und die Luft in die Brust eindringt, ohne dass die Augen es gemerkt haben, dass sie erst haben sehen müssen, und die Brust, dass sie erst hat atmen müssen, dies große und unergründliche Wunder einer Liebe, mit welcher und doch auch ohne welche wir uns Gott nicht vorzustellen vermochten, in euren Geist einziehen, der, indem er dasselbe gleichsam atmet, sich nicht mehr davon belastet fühlen wird, als die Brust von der Luft, die sie einatmet: so sehr ist diese übernatürliche Wahrheit doch zugleich natürlich und so sehr war sie, ohne von der Menschenseele geahnt und vorhergesehen zu sein, doch unbewusster Weise von ihr erwartet, erwünscht und ersehnt.
Aber nachdem wir denen, welche noch nicht glauben, zugerufen haben: Schauet ihn an! sollten wir nun nicht auch zu denen, welche schon glauben, ja, welche aufrichtig glauben, ebenso sprechen? Wollten wir es nicht tun, so würden wir uns von dem Wesen des Glaubens eine sehr oberflächliche und falsche Idee machen. Glauben: das ist nicht ein Zustand, bei dem man ein für alle Mal beharrt. Glauben ist eine Tätigkeit, eine Seelentätigkeit, welche immer wieder aufs neue dasjenige, dem sie von Anfang an zugewendet war, an- und aufnimmt und sich immer wieder aufs neue damit innerlich verbindet. Wenn es sich aber so verhält, und wenn es wahr ist, dass man nicht zum Glauben kommen kann, ohne den rechten Blick, ist es dann nicht klar und offenbar, dass man vom Beginn der Bekehrung an, die ja einen Blick zum Ausgangspunkt hat, ohne Unterbrechung auf Jesum hinblicken muss? Andre werden vielleicht sagen: man muss nicht ohne Unterbrechung hinblicken, sondern unaufhörlich darüber nachdenken, was man erblickt hat. Gewiss, meine Brüder, wir fordern auch nicht, dass das Denken ausgeschlossen sein soll; im Gegenteil liegt in dem Blick, den wir empfehlen, viel Nachdenken beschlossen. Jedenfalls würden wir nicht zufrieden sein, wenn dieses Denken nicht jenen Blick begleitete oder wenn jener Blick nicht immer durch dieses Denken aufs neue entstünde.
Aber ohne Zweifel ist der Gegenstand des Christentums nicht eine abstrakte Wahrheit; er ist vielmehr eine Tatsache: er ist eine Person, er ist Jesus Christus der Gekreuzigte. Diese Tatsache, diese Person bietet sich natürlich dem Blicke früher dar als dem Gedanken, und das, was auf unsre Seele Einfluss hat, ist eben dieser Gegenstand selbst. Wir glauben nicht an das Christentum, wir glauben an Jesum Christum. Was in der Welt an christlichem Wesen vorhanden ist, das stammt nicht vom Christentum, sondern von Jesus Christus. Die Beziehungen, welche wir als Christen pflegen, sind nicht Beziehungen unsres Geistes mit einer Wahrheit, sondern Beziehungen von Person zu Person, Beziehungen von uns Menschen zu Jesu Christo dem Gottmenschen. Der Gegenstand unsres Glaubens ist unsichtbar, aber nicht unpersönlich. Er wird nicht mit den Augen des Fleisches erblickt, aber er wird nichts desto weniger gesehen. Wir verkehren nicht mit ihm wie mit einer Idee, das heißt im Grunde wie mit uns selbst, sondern wie mit einem Wesen, welches bei uns ist bis an das Ende der Welt. Wer also als Christ gar nicht oder wenig zu ihm hinblickt, der bleibt hinter den Aufgaben und Pflichten seines Christennamens und Christenglaubens zurück. Denn sein erster und wichtigster Beruf ist es, oft und anhaltend ihn anzublicken.
Wenn euch, meine Brüder, diese Betrachtungen überflüssig oder unzeitgemäß erscheinen, so lasst mich euch sagen, dass ich sogar unter den überzeugten und aufrichtigen Christen neben solchen, welche Jesum Christum anblicken, eine große Anzahl solcher sehe, welche ihn nicht oder doch nicht genug anblicken. Wiederum sehe ich andere, welche ihn zwar anblicken, welche aber nicht oft genug ihre Blicke und all ihre Gedanken auf Jesum Christum den Gekreuzigten hinlenken.
Die ersteren versäumen es, Jesum anzublicken, weil sie sich allzu sehr dem Denken oder der praktischen Tätigkeit widmen oder weil sie - anstatt Jesum zu betrachten, sich vielmehr selbst betrachten. Und um zuerst von diesen denkenden Gläubigen zu sprechen: denken ist nicht immer auch anschauen und denken an Jesum ist nicht immer Jesum anschauen. Man kann sich von Jesu recht wohl entfernen, selbst wenn man an ihn denkt. Man hat dann nicht mehr die Person Jesu, sondern eine Idee von Jesu vor den Augen. Man denkt über ihn nach wie über eine Idee, deren Namen er trägt. Man nennt ihn oft, allein man missbraucht seinen Namen. Man hat vor den Augen nur die Form des Gegenstandes, nicht den Gegenstand selbst. Man handelt so, wie diejenigen, welche an einer Frucht ihr Gewicht, ihre Gestalt und ihre Farbe betrachten, welche aber vergessen, dass sie wohlschmeckend und nahrhaft ist, und sie darum wegwerfen, nachdem sie dieselbe gemessen, gewogen, gezeichnet und abgemalt haben. In solcher Weise darf man sich nicht mit Jesu Christo beschäftigen. Wer sich nur so mit ihm beschäftigt, beschäftigt sich im Grunde gar nicht mit ihm. Auf solche Weise erfüllt man zwar alles mit seinem Namen, mit seiner Idee, lässt aber im übrigen alles von ihm unberührt. Wollt ihr wirklich in nützlicher Weise an euren Heiland denken, so müsst ihr ihn anschauen.
Was nun weiter die praktische Tätigkeit betrifft, der sich ein aufrichtiger Christ im Namen Jesu Christi widmet, so setzt sie zwar voraus, dass er wenigstens schon zuvor einmal Jesum angeblickt hat; allein die fortgesetzte Tätigkeit seht nicht auch einen fortgesetzten Blick voraus. Sie kann vielmehr den Blick auch anderswohin lenken. Von ihm ausgegangen, braucht sie nicht zu ihm zurückzukehren. Die Tätigkeit ist ohne Zweifel notwendig; ohne Zweifel kann man sagen, dass der, der nicht mehr im christlichen Sinne wirkt und handelt, auch nicht mehr zu dem Herrn aufblickt, ja, sogar, dass er niemals wahrhaft zu ihm aufgeblickt hat. Aber die Tätigkeit ersetzt nicht den Blick und macht den Blick nicht überflüssig. Sehr häufig fahren wir in der Tätigkeit nur fort, weil wir damit schon begonnen hatten, ohne dass damit eine Erneuerung oder Verdoppelung des Lebens verbunden wäre. Unser erster Antrieb ist erschöpft, aber die Gewohnheit gibt uns einen neuen. Wir ahmen nicht mehr Jesum Christum nach, sondern wir ahmen uns selbst nach. Die Gewohnheit, ohne sich auf ein festes Prinzip zu stützen, verkettet unsre Gegenwart mit unsrer Vergangenheit, und jene ersten, aus einer so lebhaften Empfindung geflossenen Werke werden endlich ganz mechanisch und fast unwillkürlich wiederholt. Der Blick allein vermag der Tätigkeit zwar nicht jene fieberhafte Lebhaftigkeit zu geben, welche ihr unsre Leidenschaften geben, wohl aber jene stille und ruhige Kraft, jenes rechte Maß, jene zarte Sicherheit, jene Schönheit, welche ihr unsre Leidenschaften niemals geben können.
Endlich gibt es solche Christen, welche zwar auf ihn hinblicken, aber im Grunde dabei doch nur sich selbst anschauen und betrachten. Wir haben schon gesagt, wie sehr diese Selbstbetrachtung notwendig ist. Wir haben nicht nötig, es zu wiederholen. Aber wenn es unmöglich ist, sei es sein Elend zu betrachten, ohne zu Jesu Christo hingeführt zu werden, sei es Jesum Christum anzuschauen, ohne wieder zu seinem eigenen Elend zurückgeführt zu werden, so ist doch dieses Elend nicht der Gegenstand des seligmachenden Glaubens, und es ist nicht der Anblick dieses Elends, welcher in unser Herz die Grundlage des Lebens und das Angeld unsres Heils legen kann. Ja, man wird sogar sagen müssen: ohnmächtig, uns zu retten, ist jener Anblick unsres Elendes vielmehr geeignet, uns zu verderben. Denn abwechselnd entmutigt und verbittert er uns nur. Ja, er bewirkt sogar beides zu gleicher Zeit. Er erschöpft und entnervt die Seele in unfruchtbaren Klagen; er lässt sie untergehen in Traurigkeit, und der einzige Rest von Leben, der in diesem Todeszustand noch übrig bleibt, ist die Verstimmung, der Missmut, das Murren, der Neid. Die Kenntnis des göttlichen Gesetzes lässt das Übel nur schlimmer werden, indem sie uns mit dem legten Rest von Hoffnung auch alles, was uns noch an Tatkraft übrig blieb, raubt. Darum ist, so seltsam es auch klingen mag, die Lage dessen, welcher das Gesetz Gottes nicht kennt, vorteilhafter als die Lage dessen, der dasselbe kennt. Das Gesetz lässt uns im vollen Sinne des Wortes sterben, und ist man nicht wirklich schon gleichsam gestorben, wenn man in Folge der Verdammung durch das Gesetz aufgehört hat, sei es an sich selbst zu glauben, sei es auf Gott zu hoffen? Aber ihr werdet vielleicht sagen, das geht den Christen nichts an, der ja keineswegs auf das Gesetz beschränkt ist, sondern für welchen auf das verdammende Mittleramt des Moses das gerecht machende Mittleramt Jesu gefolgt ist. Und doch geht das auch den Christen an, wenn er nicht beständig Jesum anschaut. Es geht ihn darum an, weil in der Gewohnheit, mit langen Zügen sein eignes Elend auszukosten, anstatt die Güte und Gnade Gottes zu genießen, schon ein teilweiser Tod vorliegt. Man fällt zwar nicht völlig in Verzweiflung, weil man davor noch durch die Erinnerung an Jesum Christum bewahrt wird, aber man gerät doch in eine tiefe Niedergeschlagenheit. Trotz mancher Lichtstrahlen, welche von Zeit zu Zeit vom Kreuze her zu ihr dringen, ist die Seele ihrem gewöhnlichen Zustande nach traurig und schwach. Sie glaubte, dass es genüge, Jesum ein für alle Mal anzuschauen; aber entweder muss man Jesum unaufhörlich anschauen oder unaufhörlich auf die Sünde schauen. Das Auge, wenn es nicht erblindet ist, hat keine andre Wahl, und wenn es erwiesen ist, dass man sein Elend niemals ganz aus dem Auge verlieren wird, wenn man Jesum den Gekreuzigten anschaut, weil dieses Elend gewissermaßen auf das Kreuz mit eingegraben ist, so ist es ebenso sehr erwiesen, dass man durch die Betrachtung seines Elends Jesum Christum aus den Augen verlieren kann, weil das Kreuz nicht von Natur in das Bild unsres Elends mit eingegraben ist. Ein Apostel wurde einst getadelt, weil er seine Hände in die Wunden seines auferstandenen Herrn legen wollte; wir schließen uns alle diesem Tadel an und wir fragen: Warum legte er sie nicht vielmehr in seine eigenen Wunden, in die Wunden seiner Seele? Und doch muss uns in einem andern Sinne das Beispiel des Thomas als Regel gelten. Dann allerdings sollen wir unsre Hände nicht in unsre eigenen Wunden, sondern in die Wunden Jesu legen, und in diesem Sinne sagen wir zu jener Klaffe von Gläubigen, welche wir im Auge haben: Blickt umher, blickt überall umher, blickt bis in die Tiefe eures Elends hinein, aber vor allem blickt Jesum an und betrachtet euch selbst und eure Sünde nur im Lichte des Kreuzes Jesu Christi und seiner triumphierenden Liebe.
Und um nicht nur von unserm Elend zu sprechen, sondern im Allgemeinen von der Betrachtung unsrer Eindrücke und unsrer wechselnden Zustände, der wir uns so gern hingeben, so können wir uns nicht genug davor hüten, meine Brüder, dass wir dieser Betrachtung die Zeit und das Interesse schenken, welches wir vor allem der Betrachtung unsres Heilandes schulden. Zwar gibt es hierbei, wie ihr wohl erkennt, keine Ausschließlichkeit und keine bedingungslose Vorschrift. Wir verteidigen die heilige Sache der Betrachtung Jesu Christi, ohne doch die Selbstbetrachtung zu verbieten. Denn das hieße ja das Evangelium selbst verbieten, welches dieselbe gebietet und empfiehlt. Man muss ja in der Tat die ausdrückliche Genehmigung derselben in den Worten des Paulus aus dem zweiten Korintherbrief erblicken, die da lauten: „Versucht euch selbst, ob ihr im Glauben seid, prüft euch selbst! Oder erkennt ihr euch selbst nicht, dass Jesus Christus in euch ist?“ Denn diese Worte hätten keinen Sinn, wenn die Selbstprüfung dem Christen untersagt wäre. Ebenso muss man anerkennen, dass wenn Johannes uns erklärt, dass wir nur daran erkennen können, ob wir in der Wahrheit sind, wenn wir unsre Brüder lieben, er uns eben damit zu dieser Selbstbeobachtung veranlasst, gegen welche wir uns scheinbar verwahren. Allein wir gehen auf nichts anderes aus als darauf, euch vor dem Missbrauch zu warnen, und das ist wahrlich der Mühe wert. Und ist nicht bereits die Quelle verdächtig, aus welcher so häufig die Selbstbeobachtung fließt? Finden wir nicht so oft ein bitteres Vergnügen, eine Art schmerzlicher Lust darin, uns mit uns selbst zu beschäftigen, wäre es auch, um uns zu verdammen und um uns zu hassen? und dieses Vergnügen ist so gefährlich, dass wir uns seiner entwöhnen müssten, selbst wenn wir es mit dem Preis einer großen Demütigung erkauft hätten. Eine andre, nicht geringere Gefahr besteht darin, das Kreuz Jesu Christi zu entwerten, die völlig unverdiente Gnade Gottes allmählich durch etwas zu ersetzen, was anfangs gar nicht wie ein Werk aussieht und doch im Grunde nichts anderes als ein Werk ist, uns nicht einfach dem göttlichen Erbarmen zu übergeben, sondern aus unsrer Erlösung und unserm ewigen Heil eine Angelegenheit und eine Frage der Empfindung zu machen. Allein das ist nicht so und darf nicht so sein. Bei dem, was unbedingt gilt, gibt es kein mehr und kein minder, und da Jesus Christus nicht für die einen und für die andern mehr oder minder gestorben ist, so ist er auch nicht für einen jeden Einzelnen unter uns je nach dem Zustand, in dem wir uns in einem bestimmten Augenblick befinden, mehr oder minder gestorben. Ich möchte zwar keineswegs, meine Brüder, die verderbliche Idee ermutigen, als brauchten wir weder auf das, was wir sind, noch auf das, was wir tun, zu achten. Was sollte aus dem Gebot der Wachsamkeit werden, wenn uns das Recht der Selbstbeobachtung nicht zustünde? Wie könnten wir unser Leben überwachen, wenn wir nicht unser Herz überwachen dürften, aus dem erst die Quellen des Lebens fließen? Allein wenn wir auch dies alles zugeben, so behaupten wir doch auf Grund unsrer Beobachtungen, dass diese Selbstbetrachtung, wenn sie nicht unaufhörlich durch die Betrachtung Jesu Christi gereinigt wird, sehr leicht in den Fehler der Selbstsucht fällt und uns entweder zur Selbstgerechtigkeit, zur Werkgerechtigkeit und zum geistlichen Hochmut oder zur Verzagtheit und Mutlosigkeit führt. Daher sage ich noch einmal: Betrachtet euch immerhin selbst, aber nicht anders als in Gegenwart des Kreuzes Jesu Christi.
Was diejenigen betrifft, von denen ich auch gesprochen habe, welche zwar zu Jesu aufblicken, aber nicht vor allem und beständig zu ihm als dem Gekreuzigten mit ihren Blicken zurückkommen, so habe ich ihnen Folgendes zu sagen: es herrscht nur Verwirrung, Angst, Dunkelheit und unfruchtbare Anstrengung in allen Systemen über Jesum Christum, die man nach und nach aus dem Evangelium gebildet hat, so lange es eben nur Systeme sind. Die erhabensten und an sich notwendigsten Spekulationen sind trocken und geisttötend. Wir wollen zwar nicht zu denen gehören, die da sagen: „Betrachtet das Kreuz und nichts anderes. Sprechet vom Kreuz und immer nur von ihm. Kümmert euch nicht darum, was Paulus, Johannes, selbst Christus außerdem noch geredet haben. Es ist wahr, sie haben von der Wiedergeburt gesprochen, ohne welche niemand das Reich Gottes sehen kann, und von der Heiligung, ohne welche niemand den Herrn sehen wird. Sie haben ihre Gründe dazu gehabt, die uns unbekannt sind. Was euch betrifft, so tut es ihnen nicht nach. Denn es ist völlig klar, dass wenn ihr von der Notwendigkeit einer Wiedergeburt sprecht, es ebenso ist, als wenn ihr den Menschen den Befehl erteiltet, von neuem geboren zu werden, und dass wenn ihr auf die Einzelheiten die Heiligung eingeht, ihr aufs neue jener Selbstgerechtigkeit die Tür öffnet, welche Jesus Christus aus dem Heiligtum vertrieben hat.“ Meine Brüder, wir werden uns niemals in ähnlicher Weise aussprechen. Man darf im Evangelium keine Auswahl treffen wollen. Alles gilt es da anzunehmen, nichts bei Seite zu lassen, und wenn Paulus von den Nahrungsmitteln der physischen Welt hat sagen dürfen: „Alle Kreatur Gottes ist gut und nichts verwerflich, das mit Danksagung empfangen wird“ (1. Tim. 4, 4), wie sollten wir das nicht auch von dem Evangelium sagen, dieser andern Welt, in welcher doch gewiss alles gut ist? Nur fügen wir mit dem Apostel hinzu: vorausgesetzt, dass ihr es mit Danksagung genießt, oder wie wir es auch ausdrücken können: vorausgesetzt, dass eure Dankbarkeit gegen Jesum Christum, eure Hingabe an die reine Gnade Gottes, euer Vertrauen auf den Heiland alles beherrschen und durchdringen; vorausgesetzt, dass ihr, nachdem ihr viele Dinge gelernt habt, in voller Wahrheit sagen könnt: ich hielt mich nicht dafür, dass ich etwas wüsste unter euch, ohne allein Jesum Christum, den Gekreuzigten.“
O dass wir eure Augen, meine Brüder, und vor allem unsre eignen an diesen einfachen, auf Jesum gerichteten Blick gewöhnen könnten, welcher die Kraft und die Salbung der Gläubigen aller Zeiten gewesen ist. O dass wir in eure Seele und vor allem in die unsre die heilsame Überzeugung pflanzen könnten, dass alle Verwicklungen, alle Schwierigkeiten des christlichen Lebens sich gleichsam von selbst auflösen in diesen wahrhaft christlichen Blick auf Jesum! Dieser Blick genügt in seiner Einfachheit und Schlichtheit, die ihn für Jedermann geeignet macht, selbst für das niedrigste Kind, für alle. Er ist das Werkzeug der verschiedenartigsten Wirkungen, das Heilmittel für die entgegengesetztesten Übel, er erweist sich in gleicher Weise siegreich über die Schwierigkeiten der Lehrsysteme wie über die Beängstigungen des Zweifels, über die Angriffe des Stolzes wie über die der Verzweiflung, über die Versuchungen der Begehrlichkeit wie über die des Schmerzes, über die Bitterkeit des Hasses, wie über die Schwächen der natürlichen Zuneigung. Vom Kreuze, wenn man es anschaut, geht ein Licht aus, welches alle Finsternis verzehrt, und ein Blitzstrahl, welcher jeden Hass vernichtet. Wer kann bestehen, wenn er erscheinen wird?“ so rief der letzte der Propheten aus mit nach dem himmlischen Orten gewendeten Auge. Und wir sagen auch: Welche Angst, welche Bitterkeit, welcher Schmerz kann dann noch bestehen, wenn Jesus Christus erscheint, wenn die göttliche Liebe, die Liebe ohne Maß, ohne Bedingung und Schranke sich vor uns in dem Geheimnis des Kreuzes enthüllt? Alle Vernunftschlüsse, alle klugen Folgerungen, alle menschlichen Ratschläge, alle Methoden haben für das Herz nicht den Wert eines einzigen, auf Jesum gerichteten Blickes, und wenn auch alle diese Mittel sich als nützlich erweisen, so bedarf es doch noch jenes Blickes, so bedarf es doch noch jenes Lichtes, um alles zu beleben, um alles zu befestigen. „Welche ihn ansehen,“ sagt der Psalmist (Psalm 34, 6),“ deren Angesicht wird nicht zu Schanden.“
Macht nur, meine Brüder, diesen Gedanken, den wir dargelegt haben, dass der Anblick des Kreuzes zu allem genügt, zum Gegenstand sorgfältiger Erwägung. Man erkennt wohl einen gewissen Vorteil davon an, aber man erkennt nicht den ganzen Gewinn, den dieser Blick uns bringt. Man begreift wohl, dass er Trost bringt in eine unter der Last der Sünde niedergebeugte Seele; aber begreift man auch, dass er ebenso trostbringend ist bei den Schmerzen des Leibes? Man begreift, dass dieser Blick ein für alle Mal unserm Leben eine allgemeine Richtung anweist, aber begreift man es auch, dass er uns auch für all die einzelnen Fragen des alltäglichen Lebens das rechte Licht und den wahren Rat bringt? Man begreift, dass er uns, indem er uns das Heilmittel für unser Elend darbietet, zugleich die Erkenntnis unseres Elendes gibt; aber begreift man es auch, dass er geeignet ist, um die Zweifel über die Wahrheit des Evangeliums zu zerstreuen? Man begreift, dass es gut ist, Jesum anzuschauen in den Augenblicken der Erregtheit und der inneren Dunkelheit, aber begreift man es auch, dass es ebenso gut und heilsam ist, ihn anzuschauen in den Augenblicken der Geistesklarheit, der Herzensruhe und des Lebensglückes, da er ja nicht nur die Klarheit aller Klarheit, die Ruhe in der Ruhe, das Glück im Glück, sondern die Wahrheit und die Heiligkeit aller dieser Zustände ist? Nein, die Vorteile und Segnungen des Aufblicks zum Kreuz sind noch nicht Jedermann bekannt; es fehlt noch viel, dass ein Jeder daraus den Gewinn zöge, den er daraus ziehen könnte, weil niemand es sich deutlich genug sagt, dass das Kreuz alles in sich schließt und zu allem genügt, dass es alles auf Erden gibt und alles im Himmel verheißt.
Es ist, meine Brüder, eine wunderbare Eigentümlichkeit des Evangeliums, dass man die Mittel, die es darbietet, von dem Ziel, welches es uns vorhält, die Opfer von ihrer Belohnung, die Gegenwart von der Zukunft, die Erde vom Himmel, kaum zu unterscheiden vermag; so sehr ist die Bestimmung des Menschen eine einheitliche, so sehr ist die Wahrheit eine einheitliche, so sehr sind Pflicht und Glück, die wie nur allzu oft in unserm Geist von einander trennen, im Grunde nur ein und dieselbe Sache. Im Evangelium ist die Belohnung der Liebe keine andre als die, dass man nur noch mehr liebt, und die Belohnung des rechten Blicks, dass man nur noch besser und deutlicher sieht. Wir haben euch als zu einem Gebot christlicher Weisheit und Klugheit ermahnt, auf Jesum hinzublicken. Nun wohl, die Herrlichkeit und Seligkeit des Himmels wird vor allem darin bestehen, zu schauen. Wer wüsste denn nicht, dass das der Name ist, den die heiligen Schriftsteller am liebsten für die himmlische Seligkeit gebrauchen? Wer wüsste es nicht, dass in ihrer Sprache selig sein nichts anderes ist als Gott schauen? Dafür ist derjenige unter ihnen Zeuge, der uns erklärt, dass ohne Heiligung niemand Gott schauen wird; dafür ist Jesus Christus selbst Zeuge, da er diejenigen selig preist, die reines Herzens sind; denn, so setzt er hinzu, sie werden Gott schauen. Dafür ist Zeuge Johannes, welcher die Christen zur Treue ermutigt durch die Hoffnung, einst den Herrn zu sehen, wie er ist. An den Erlösergott wendet sich David im 17. Psalm mit dem Ausruf: „Ich aber will schauen dein Antlitz in Gerechtigkeit; ich will satt werden, wenn ich erwache nach deinem Bilde.“ Und gewiss, ihr werdet euch nicht wundern, dass gerade unter diesem Bild des Schauens die ewige Seligkeit uns dargestellt wird, da ihr wisst, welche unvergleichliche Freude man schon auf Erden im Anschauen Jesu Christi genießt, und von allen Verheißungen, mit denen man für euch den Ausblick auf die himmlische Zukunft schmücken könnte, bringt keine in euer Herz eine größere Freude als diese: Ihr werdet den sehen, in welchen ihr gestochen habt (Sach. 12, 10).“ Wenn einer unsrer Mitmenschen durch Worte oder Werke uns seine Liebe und Zuneigung bewiesen hat, so scheint es uns, als könne sein Anblick uns nichts neues mehr über ihn lehren und sagen. Was nützen uns, so denken wir, die Züge seines Gesichts und die Gestalt seines äußeren Wesens? und doch haben wir den innigen Wunsch, ihn zu sehen, und erst von dem Augenblick an, wo wir ihn gesehen haben, scheint es uns, als ob wir nun erst recht wüssten, wer er ist, und als ob wir ihn zuvor noch nicht recht gekannt hätten. Der Klang seiner Stimme, ein Blick seines Auges zeigen ihn uns in ganz neuer Gestalt, und der Augenblick persönlicher Bekanntschaft eröffnet in unsern Beziehungen zu ihm einen ganz neuen Abschnitt. Und diese Tatsache, meine Brüder, gibt uns zwar nur eine Ahnung, aber doch eben eine Ahnung von dem persönlichen Anschauen Jesu, welches den gläubigen Seelen in einem andern Leben aufbehalten ist. Er ist zwar schon bei ihnen bis an das Ende ihrer irdischen Laufbahn, wie er ja auch bei seiner Kirche ist bis an das Ende der Welt. Sie haben ihn schon gekannt und haben mit ihm verkehrt. Ja, etliche sogar, die glücklichen Zeitgenossen seines Erdenwandels, haben ihn mit ihren leiblichen Augen geschaut. Aber ihn sehen mit dem tiefen Blick, der bis in den innersten Mittelpunkt der Seele eindringt, hineinschauen bis in in das Allerheiligste dieser unaussprechlichen Liebe, sie empfinden wie die eignen Empfindungen, unaufhörlich diese Liebe schmecken und gleichsam mit langen, durstigen Zügen trinken, teilhaben an allen Gedanken des Hochgeliebten, seines vollen Vertrauens gewürdigt werden, mit ihm eins sein, wie er mit seinem Vater eins ist, sich jeden Augenblick an der geheimnisvollen Kraft seines Blickes begeistern und sich sagen: „Dieser König der ewigen Herrlichkeit ist der, den ich mit ans Kreuz geschlagen habe; er, den meine Augen nun erblicken, ist zugleich mein Opferlamm und mein Gott!“ o, das alles sind zwar nur Worte, die es nicht vermögen, das Unaussprechliche auszusprechen, die aber doch vielleicht genügen, um dem Blick der Hoffnung eine entzückende und unbegrenzte Aussicht zu erschließen. Möchte diese Aussicht vor unser aller Augen stehen! Aber damit unser Blick, ich sage nicht, die Wolken, sondern den Lichtglanz durchdringen könne, der ihm jene Aussicht zu verschließen scheint, so muss er vor allem hienieden schon auf Jesu dem Gekreuzigten ruhen und sich dadurch vorbereiten, den Anblick jener blendenden Ferne zu ertragen, damit er gelernt habe, den Himmel auf Erden zu schauen, bevor er den Himmel im Himmel schaut. Amen.