Christoffel, Raget - Die Waldenser und ihre Brüder – 1. Locarno, der Geburtsort Beccarias und die ersten evangelischen Regungen daselbst.

Christoffel, Raget - Die Waldenser und ihre Brüder – 1. Locarno, der Geburtsort Beccarias und die ersten evangelischen Regungen daselbst.

Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott
Ps. 42,3

Der Herzog Maximilian Sforza von Mailand trat im Oktober 1512 den 12 alten Kantonen der Schweiz1) die Städte und Gebiete von Lugano, Locarno und Domo d'Ossola ab zum Danke dafür, dass ihre Krieger sein Herzogtum von den Franzosen zurückerobert und ihn in den Besitz seines väterlichen Erbes wieder eingesetzt hatten. Dadurch wurden die Einwohner dieser Städte und Gebiete unter den Einfluss der Sitten und der Geistesrichtung gestellt, welche in den über sie gebietenden Kantonen herrschten. Von großer Wichtigkeit ward dieser Umstand namentlich in religiöser und kirchlicher Beziehung, als die von Zwingli in Zürich mit so großem Nachdrucke verkündigte evangelische Lehre immer mehr Anhänger gewann und bald in allen Kantonen Anerkennung zu finden schien. Wir richten unsere Aufmerksamkeit vorzugsweise auf den Flecken Locarno und auf dessen Bewohner. Der Geschichtsschreiber der evangelischen Gemeinde in Locarno2) entwirft von „Land und Leuten“ daselbst folgendes liebliche Bild: „Locarno am nördlichen Ende des Langensee gelegen, war ebenso ausgezeichnet durch die den Flecken umgebende reiche Natur, als durch die Vorzüge seiner Bevölkerung. Gegen den Nordwind geschützt durch steil ansteigende Berge, prangen die Gestade mit Lorbeer, Granaten und Zypressen; und hoch am Abhange sind die Felsen noch mit Kastanienbäumen und dem schönsten Laubholze bekleidet. Feigenbäume beschatten die Häuser; über dem Acker, der zwei Mal im Jahr nicht selten zwanzigfache Ernte bringt, über Straße und Pfad wölbt sich von Baum zu Baum die rankende Rebe; auch den Fuß der Berge schmückt weit hinauf dieses köstliche Gewächs. Von Fasanen, Rebhühnern und anderem Wild wimmelten damals noch die Wälder. Die schmackhaftesten Fische bot der See in Menge dar. Missglückte etwa das Getreide, so bewahrte schon eine reiche Kastanienernte das Land vor Hungersnot. Gesund war die Luft dem Tessin entlang bis gegen Bellinzona hinauf, wo heut zu Tage das Land zum Teil versumpft ist, bedeckten damals noch üppige Wiesen den Talgrund. Nur die Maggia, aus der Schlucht des gleichbenannten Tales hervorbrechend, verwüstete schon in jener Zeit die schönen Landgüter zwischen Locarno und Ascona; seither hat sie vollends ihre Schuttlager nach beiden Seiten erweitert und das Ufer beträchtlich in den See hinaus getrieben.

Vierhundert Familien zählte damals der Flecken, keine Ortschaft am Langensee war damals so ausgedehnt. Eine größere Zahl adeliger Geschlechter wohnte hier, als sonst weit umher, die Orelli, Muralto, Magoria, und, älter als alle andern, die Duni. Die Einwohner nährten sich zunächst von Feldbau. Je geringer der Umfang des zur Getreidepflanzung geeigneten Landes war, desto sorgfältiger wurde es gebaut; doch war Teuerung nicht selten. Ein anderer Erwerbzweig war der Holzhandel. In den Gebirgswaldungen der hinterwärts liegenden Täler wuchsen die schönsten Tannen und Lerchen in Überfluss. Die gefällten Stämme flößte man durch die angeschwollenen Waldwasser in den See, und weiter in Flößen durch den Tessin nach Mailand und Pavia.

Auch anderen Handel trieben die Locarner. Getreide führten sie ein aus der Lombardei, soweit es ihnen dort gestattet wurde; Salz aus Bayern und Tirol durch Graubünden und über Bellinzona, so lange nicht die Eifersucht dieser Nachbarstadt es verhinderte. Jeden zweiten Donnerstag strömten auf dem Markte zu Locarno die Leute aus den entlegenen Wildnissen von Maggia, Vezasca, Onsernone, Centovalle aus Bellinzona, Livinen und Misocco zusammen; hier machten sie ihre Einkäufe und verkehrten mit dem wohlhabenden Luganeser, dem emsigen Lombarden. Dann wimmelte der See von Fahrzeugen; kein Markt, weit in die Runde, war so zahlreich besucht.“

„Je zu zwei Jahren wurde der Vogt, in der Landessprache Commissario geheißen, von einem der zwölf regierenden Orte nach festgesetzter Reihenfolge ernannt; zu St. Johannes des Täufers Tag ritt er auf. Er übte die Zivil- und Kriminalgerichtsbarkeit; einzig für Malefizfälle hatte er später sieben von der Landschaft gewählte Mitrichter. Beim Antritte seines Amtes beschwor er des Landes Statuten; dann erst huldigten ihm Rat und Volk. Jährlich, ebenfalls auf St. Johannestag, reisten Boten aller zwölf Orte über das Gebirge, um über Appellationen und schwere Händel, die der Vogt zu erledigen sich nicht zutraute, zu entscheiden, und Rechnung von ihm zu fordern über Einnahme und Ausgabe.“

Im Anfang des zweiten Viertels des sechzehnten Jahrhunderts begegnen uns in der Lombardei und in den der Schweiz abgetretenen Ortschaften und Gebieten. deutliche geschichtliche Spuren, die uns beweisen, dass die von Zürich aus verkündigte evangelische Wahrheit hier freudige Anerkennung fand. Schon durch das Mittelalter hindurch hatte sich in Mailand und in den angrenzenden Gebieten stets eine romfreie, dem Evangelio freundlich zugewandte religiöse und kirchliche Richtung bemerkbar gemacht. Daher hatten auch die Waldenser hier in der Stille eine große Verbreitung gefunden. Die schweren Leiden, welche die im ersten Viertel des sechzehnten Jahrhunderts hier wütenden Kriege über die unglücklichen Bewohner dieser herrlichen Ebenen brachten, weckten in denselben eine heiße Sehnsucht nach Trost und nach Erlösung durch das Evangelium. Ein sprechendes Zeugnis für dieses schmerzliche Verlangen haben wir in den Briefen des Augustiners Egidio a Porta aus Como an Zwingli. Gegen Ende des Jahres 1525 schrieb derselbe: „Lange habe ich aus ehrfurchtsvoller Scheu gezaudert, Dir zu schreiben. Jetzt aber, eingedenk, wie Christus, der Sohn Gottes, selbst die Niedrigsten nicht verstieß, nahe ich mich Dir und flehe: „Sei Du mir was einst Ananias dem Paulo.“ „Aus frommem, freilich unverständigem Eifer nahm ich vor 14 Jahren das Augustiner-Kleid; von pelagianischen Irrtümern betört, wähnte ich, durch meine Werke mir die Seligkeit erwerben zu können. Nun hat aber mich Gott niedergeworfen, wie einst den Paulus; und auf meine Frage: „Herr, was willst Du, das ich tue?“ vernahm ich die Antwort: „Gehe zu Huldreich Zwingli, der wird dir sagen, was du tun sollst.“ Aus diesen Worten schöpfte meine Seele einen himmlischen Frieden, der durch keine menschliche Sprache beschrieben werden kann. Durch dich wird mich also Gott erretten aus den Stricken der Jäger; doch nicht mich allein, sondern wie ich es hoffe, auch mehrere meiner Brüder; denn dieselben Männer, deren Frömmigkeit und Gelehrsamkeit alle Achtung verdienen, hegen schon längst einen heißen Wunsch und dringen täglich in mich, Dich zu bitten, ja Dich zu beschwören, Du möchtest Dir doch Deinen so gehäuften Geschäften nur ein Stündchen abgewinnen, um an die Vorsteher unseres Ordens zu schreiben und sie durch triftige Gründe bestimmen, dass sie ein Mal von diesem Wahne der Menschensatzungen sich los machen. Halte ihnen einige Beispiele aus der Schrift vor, aus welchen sie ersehen, wie gottgefällig die Predigt des reinen Evangeliums sei und welches Missfallen er dagegen an denjenigen habe, welche dieselbe verfälschen und Menschensatzungen für göttliche Gebote ausgeben. Sage ihnen, dass sie den Zorn des Richters der Welt auf sich laden, wenn sie nicht diese unheilbringende Sorge um die zeitlichen Güter von sich werfen, und was Dir sonst noch der Geist eingibt.“ Das furchtbare Elend, das in der Lombardei in Folge der Kriegsleiden herrschte, schildert er in folgender Weise: „Mailand und sein ganzes Gebiet sind durch die unaufhörlichen Kriegszüge völlig verarmt. Selbst die, welche sonst ein mäßiges Vermögen besaßen, sind an den Bettelstab gebracht und darben, geschweige denn die Unzahl derer, die schon vorher arm waren. Nicht zu zählen sind die Weiber, welche sich aus Not der Schande ergeben. So schwer lastet Gottes Hand auf diesem Volke, dass aus Verzweiflung alles erdenkliche Unrecht begangen wird. Aber durch Gottes Fügung kannst Du unser Retter werden. Schreibe an den Herzog von Mailand und ermahne ihn, nötigen Falls auch drohend, auf Erlösung seiner Untertanen vom Geistesdrucke und zugleich vom äußeren Elende bedacht zu sein.“ So heiß sehnten sich die Besseren in der Lombardei und in Oberitalien nach Erlösung vom geistigen Drucke durch die freien Verkündiger des Evangeliums. Dieses Sehnen machte sich namentlich auch in Locarno bemerkbar und blieb von Zwingli nicht unbeachtet. Als daher Zürich im Frühjahre 1530 den Landvogt für diese Herrschaft zu bestellen hatte, ward ein naher Freund des Reformators, Jakob Werdmüller, „ein alter, ernsthafter, tapferer Mann, guter Achtung und alten Herkommens, dem Evangelio sehr günstig und eifrig“ für diese Stelle ausersehen. Demselben ward befohlen, „sich christlich, ehrlich und wohl wie man ihm vertraue, zu halten, und namentlich den Mandaten des göttlichen Wortes halb, wie solche die Herrn von Zürich in Brauch und Übung haben, anzuhangen und nachzukommen.“ Bald nach Antritt seiner Stelle schrieb Werdmüller an Zwingli: „Es predige hier Niemand (nämlich die evangelische Lehre), auch könnte es nicht, wiewohl hier Einer sich befindet, welcher der Schrift berichtet ist, dem ich auch Euer lateinisches Büchlein geliehen habe; denn dieser Mönch liest viel im Testamente und sagt: Er wolle jetzt nur noch die Episteln Pauli predigen, was die Andern nicht können.“ Es war dieses der Carmelitermönch Balthasar Fontana, der im März 1531 folgendes Schreiben an Zwingli und an die Evangelischen deutscher Zunge richtete: „Heil Euch, ihr teuerste Christgläubige, zu deren frommen Händen diese Zeilen gelangen mögen. Nehmt an, ich sei der arme Lazarus im Evangelio oder jene demütige kananäische Mutter, die sich nur von den Brosamen, welche von den Tischen der Herren fielen, zu sättigen verlangte. Wie David im Knechtsgewande und unbewaffnet zum Priester kam, so flüchte ich mich zu Euch um des Schaubrotes und um der im Allerheiligsten verwahrten Rüstung willen. Schmachtend vor Durst, suche ich die lebendige Wasserquelle und sitze als ein Blinder am Wege und rufe ihn an, der die Blinden sehend macht. Schwach und krank harre ich mit der ganzen Sehnsucht meiner Seele auf baldige Erlösung für mich und für mein Vaterland. Wir bitten Euch daher von ganzem Herzen, die reichen Schätze, mit welchen Euch Christus so freigiebig gesegnet, nicht karg uns vorenthalten zu wollen. Kein Rechtdenkender wird die angezündete Leuchte unter einen Scheffel stellen. Nur ein Unsinniger wird das zum Handel anvertraute Geld vergraben. Wir sitzen hier in der Finsternis und bitten unter Tränen und Seufzen Euch, die ihr die Titel und Verfasser der erleuchteten Schriftwerke kennt (denn Euch ist verliehen, die Geheimnisse des Reiches Gottes zu vernehmen) uns die herausgegebenen Bücher der von Gott erwählten Lehrer zu senden, die ihr besitzt. Vorzüglich die sämtlichen Werke des göttlichen Zwinglis, des weitberühmten Luthers, des scharfsinnigen Melanchthons und des sorgfältigen Oecolampads. Den Betrag dafür werde ich dem Landvogte Werdmüller einhändigen. Wohlan denn ihr Diener des teuersten Königs und der heiligsten Mutter, der Kirche, schafft nach Kräften, dass eine von Babel in Knechtschaft gehaltene Stadt der Lombardei zur christlichen Freiheit gelange. Wir sind hier zwar nur drei, die sich zu diesem Feldzuge im Dienste der Wahrheit verbunden und verschworen haben. Allein Midian wurde nicht durch die Menge der Tapferen Gideons besiegt, sondern nur durch Wenige, die aber Gott selbst sich dazu erwählte. Wer weiß, ob Gott nicht aus diesem kleinen, nur unter der Asche glimmenden Funken ein großes Feuer noch anfachen will? Wir wollen säen und pflanzen, der Herr aber wird das Gedeihen schenken. Lebt wohl und glücklich und gedenkt unser.“

Locarno im März 1531.

Balthasar Fontana.

Diese evangelische Regung ward zwar durch den unglücklichen Ausgang der Schlacht bei Kappel, in welcher Zwingli fiel, gehemmt und scheinbar unterdrückt. Da Landvogt Werdmüller selbst den gehässigsten Anfeindungen von Seite der obsiegenden päpstlichen Partei in der Schweiz ausgesetzt war, so konnte er gar nicht mehr daran denken, diese evangelische Erweckung zu pflegen und sie zu einer weitern Entfaltung zu fördern. Aber verborgen glühte der Funke des Glaubens unter der Asche fort, bis es dem Herrn gefiel, denselben durch andere Werkzeuge zur hellstrahlenden Flamme anzufachen.

1)
Zürich, Bern, Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Glarus, Freiburg, Solothurn, Basel und Schaffhausen.
2)
„Die evangelische Gemeinde in Locarno“ von Ferdinand Meyer. Zürich 1836.
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autoren/c/christoffel/christoffel-waldenser/christoffel_-_waldenser_2_-_1.txt · Zuletzt geändert: von aj
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