Rieger, Carl Heinrich - Über die zwölf kleinen Propheten - Hosea - Das elfte Kapitel.
Darin führt GOtt selber eine bewegliche Klage über das Volk Israel, wie Seine spät und frühe an sie verwendete Mühe bisher so wenig erkannt noch zum guten Zweck angelegt worden sei; fasst sich aber doch noch weiter in der Zeit Seiner Geduld, und sieht hinaus, wie die neue Gnade, die Er ihnen noch einst zuwenden wolle, begieriger gesucht, und besser benützt werden würde.
I. GOtt stellt seine im Leiblichen und Geistlichen erwiesene Wohltaten, und den Undank und Unempfindlichkeit ihrer Herzen beweglich neben einander.
1. Da Israel jung war, hatte ich ihn lieb, und rief ihn, meinen Sohn, aus Ägypten.
GOtt führt in Seinem Wort und in des Menschen Gewissen Alles gern auf die ersten Anfänge zurück. Wie war es bei dir, bei den Deinigen in deiner Jugend, wie war es, da du noch in geringem Stand, von wenigem Vermögen, außer so vielen Bekanntschaften warst usw.? Dort kann einer in der Regel noch viel Spuren von der an ihn verwendeten Liebe GOttes und Christi antreffen. Dieser Spruch wird bekanntlich Matthäi 2, 15., bei der Flucht Christi in Ägypten angezogen, und damit auch auf die Wege unsers lieben Heilandes in Seiner heiligen Kindheit und Jugend als ein Denkmal hingestellt, das uns aufmerken heißt, wie von da an das Auge des himmlischen Vaters über diesem Seinem im Fleisch geoffenbarten Sohn gewacht, Sein Wohlgefallen auf Ihm geruht, und Ihn mit vielen Erweisungen und Zeugnissen hiervon versiegelt habe.
2. Aber wenn man sie jetzt ruft, so wenden sie sich davon, und opfern den Baalim, und räuchern den Bildern.
GOtt lädt immer wieder zur ersten Liebesgemeinschaft ein; aber der Eine geht hin auf seinen Acker, der Andere zu seiner Hantierung, und die Meisten gar zu ihren Welt-Götzen.
3. Ich nahm Ephraim bei seinen Armen und leitete ihn; aber sie merkten es nicht, wie ich ihnen half.
Das geht auf die Zeit, wo einem anfängt auf die Füße geholfen zu werden, dass es im Äußerlichen auch ein freies Fortkommen gibt. Aber da zeigt es sich auch in der Regel, was angeborene Blindheit, Unglauben, Zweifel, Undank, der aus dem Herzen kommende Unverstand für Früchte bringen.
4. Ich ließ sie ein menschliches Joch ziehen, und in Seilen der Liebe gehen, und half ihnen das Joch an ihrem Halse tragen, und gab ihnen Futter, 5. Dass er sich ja nicht wieder sollte in Ägyptenland kehren. So ist nun Assur ihr König geworden; denn sie wollen sich nicht bekehren.
GOtt richtets mit uns immer teils nach unserer Schwachheit, teils nach dem Reichtum Seiner Liebe; und wann Er uns auch mit einem Joch drücken muss, so gibt Er noch etwas dazu, das tragen hilft, und lässt es wenigstens am Allernötigsten zu Nahrung und Kleidung nicht fehlen, nur damit zu verhüten, dass der Mensch nicht nach seiner Lüsternheit auf eigenmächtige Selbsthilfe verfallen, sondern GOttes Rat über sich auswarten solle. Aber wie Israel mit seinem Herzen immer geneigt war, sich nach Ägypten umzuwenden, und dort auch gegen die Gerichte GOttes Hilfe suchen wollte, so macht es der eigensinnige Mensch immer noch, und nimmt lieber Alles über sich, nur das nicht, worunter er sich nach GOttes Rat beugen solle; und wenn es oft auch schon sehr unangemessen herauskommt, so ist es ihm genug, er will sich nicht von seinem Vorhaben wenden.
6. Darum soll das Schwert über ihre Städte kommen, und soll ihre Riegel aufreiben und fressen, um ihres Vornehmens willen.
Denn einen solchen Trotz, der sich gegen die göttlichen Gerichte durch Menschenhilfe zu schützen meint, zerbricht GOtt in der Regel am härtesten; wie die Erfüllung hiervon 2. Buch d. Könige 17, 4. ausdrücklich steht: da der König zu Assyrien inne ward, dass der König in Israel beim König in Ägypten Hilfe suchte, kam er, belagerte ihn, und legte ihn ins Gefängnis.
7. Mein Volk ist müde sich zu mir zu kehren; und wie man ihnen predigt, so richtet sich keiner auf.
Eigentliche Beschaffenheit derer, die erst durch Gerichte einigermaßen aufgeweckt werden; müde, ungewiss, unentschlossen, zwischen Furcht und Hoffnung, Lust und Unlust umgetrieben. Es ist freilich nimmer die vorige Sicherheit, aber doch sonst so viel Unruhe und Zerstörung des Gemüts dabei, dass es selten zum völligen Ausschlag auf die gute Seite kommt.
II. Bei dem allem nun stärkt sich gleichwohl GOtt, die Zeit der Geduld über sie noch fortwähren zu lassen, und bei einem endlichen neuen Gnaden-Antrag ihre Herzen noch zu gewinnen.
8. Was soll ich aus dir machen, Ephraim? Soll ich dich schützen, Israel? Soll ich nicht billig ein Adama aus dir machen, und dich wie Zeboim zurichten? Aber mein Herz ist anderes Sinnes, meine Barmherzigkeit ist zu brünstig, 9. Dass ich nicht tun will nach meinem grimmigen Zorn, noch mich kehren, Ephraim gar zu verderben: denn Ich bin Gott und nicht ein Mensch, und bin der Heilige unter dir; ich will aber nicht in die Stadt kommen.
So lange der Sünder mit Furcht und Hoffnung ringt, ist über ihm im Herzen GOttes ein Streit, zwischen Seinem gerechten Zorn und Seiner brünstigen Barmherzigkeit. Wer daraus abnehmen lernt, was GOtt nach dem Recht tun könnte, der lernt dann Gnade als Gnade verehren und annehmen. Unsern erschrockenen Gewissen macht der Gedanke: ich habe es mit GOtt und keinen Menschen zu tun, öfters schwer, die Vergebung der Sünden zu suchen und zu glauben (siehe hiervon des Eli Rede an seine Söhne, 1. Sam. 2, 25.); aber die göttliche Großmut macht sich einen Beweggrund daraus, selbige uns desto reichlicher angedeihen zu lassen, oder doch Seine Zeit der Geduld über einen zu verlängern, wie es da bei Israel eigentlich war, das zwar von dem grimmigen Zorn nicht gar aufgerieben und vertilgt werden sollte, aber doch nun sich selbst überlassen ist, und ohne Gottesdienst, ohne Stadt, darein GOtt eigentlich zu ihm käme, und sich nahe zu ihm tat, wie vormals, dahin geht, und unter allen Völs kern zerstreut ist, bis Er sie aus selbigen wieder sammeln, und zum Erstaunen das an ihnen ausführen wird, wovon es vollends im Beschluss des Kapitels heißt.
10. Alsdann wird man dem HErrn nachfolgen, und er wird brüllen, wie ein Löwe; und wenn er wird brüllen, so werden erschrecken die, so gegen Abend sind. 11. Und die in Ägypten werden auch erschrecken, wie ein Vogel, und die im Lande Assur, wie Tauben; und ich will sie in ihre Häuser setzen; spricht der Herr.
Auch zu Gnaden-Erweisungen kann der Anfang teils so unerwartet, teils unter solchen Umständen gemacht werden, dass es nicht ohne Schrecken bei denen abgeht, auf deren Bestes es doch eigentlich abgesehen ist. Man wird oft von etwas aufgeschreckt, ehe man in die Häuser des Friedens zu wohnen kommt, darin man hernach seine Lust an GOttes Gnade zu sehen bekommt. Ein Wink, ein Wort vom HErrn: seht auf, merkt, was für eine Erlösung, was für eine Kraft des Reichs GOttes hinter allem Schreckhaften nahe ist, kommt einem dabei wohl.