Vinet, Alexandre - Der Mensch, alles Ruhmes vor Gott mangelnd - Zweite Rede.

Vinet, Alexandre - Der Mensch, alles Ruhmes vor Gott mangelnd - Zweite Rede.

Röm. III, 23.
Denn es ist hier kein Unterschied; sie sind allzumal Sünder, und mangeln des Ruhmes, den sie an Gott haben sollen.

Wir haben es in unserer vorhergehenden Rede gesagt: der Mensch hat einige Ansprüche auf Ruhm vor dem Menschen. Armselige Berechtigung, die er sich selbst bestreitet, und die er, nach einer genaueren Prüfung, sehr oft mit Erröten verwirft. Von dem, was ihm bleibt, von dem, was ihm niemand verweigern kann, ist er nicht im Stande, für sein Elend ein Gegengewicht zu bilden; seine Schande wird immer, selbst in seinen eignen Augen, größer sein, als sein Ruhm. Der allgemeine Zustand der Menschheit wird ihm, selbst in den Epochen der Kultur und in den Mittelpunkten der Zivilisation, immer als ein Zustand des Verfalls und des Untergangs erscheinen. Das ist das Resultat, zu welchem man fast unfehlbar durch ein gründliches Studium der menschlichen Dinge gelangt; das ist auch das Resultat, zu welchem viele der edelsten Menschen durch die bloße Prüfung ihres eignen Herzens und die strenge Analyse ihrer Handlungen gelangt sind. So ist die Lage der Menschheit, so ist ihr Ruhm beschaffen; möge sie sich desselben bemächtigen, aber dass sie nicht die Hand ausstrecke nach einem höheren Ruhm, dem Ruhme, der von Gott kommt. Diesen verweigern wir ihr durchaus.

Schon durch seine eignen Betrachtungen, sei es, dass er sich einen mittelmäßigen Begriff von seinem moralischen Wert mache, sei es, dass er ihn weit überschätze, wird der Mensch notwendiger Weise dahin getrieben, anzuerkennen, dass er nicht auf viel Ruhm vor Gott Anspruch machen kann. Dieser Gott, dessen durchdringende Blicke die Herzen und die Nieren prüfen, kann dort tausend Flecken sehen, welche wir nicht erblicken; und da nichts sein Urteil bestechen kann, so kann uns nichts die Hoffnung geben, dass er sich rücksichtlich unserer die geringste Illusion mache. Ferner ist es ein vollkommen heiliger Gott, dessen Augen, sagt die Schrift, zu rein sind, um das Schlechte zu sehen. Wenn er das Schlechte in einem Herzen findet, so empfängt er davon nicht die schwachen Eindrücke, wie wir sie empfangen. Er hat einen Abscheu vor Allem, welches von der Ordnung abweicht; und dieser Abscheu knüpft sich nicht ausschließlich, wie der unsrige, an gewisse Handlungen, welche unserm Instinkt mehr zuwider sind, als andere, oder welche in höherem Maße die geselligen Beziehungen stören. Hoch erhaben über diesen Unterschieden durch die Majestät seiner Natur, hält sich seine göttliche Unparteilichkeit an das Prinzip der Handlungen; durch ihr Prinzip richtet er sie, und von diesem Gesichtspunkt aus verdammt er die Schandtaten, welche uns erschrecken, nicht immer stärker als die Fehler, welche unser Tadel kaum berührt. Seine ganz himmlische Gerechtigkeit, alle unsere Klassifizierungen umstoßend, erhebt Alles zu derselben Höhe, und erkennt den Namen des Verbrechens Gewohnheiten zu, die uns zuweilen nicht den leisesten Skrupel verursachen. Nicht allein unsere Laster, nein, unsere Fehler, nein, unsere von uns als gleichgültig erachteten Handlungen, oft selbst unsere Tugenden kommen bei seiner Stimme herbei, um die Reihen zu füllen, in denen sich schon so viele augenscheinliche Verbrechen drängen. Bei dem Gericht dieses heiligen und furchtbaren Richters verwandelt sich der gute Mensch in einen Verbrecher, und erscheinen die Muster der Gerechtigkeit wie Muster der Sündhaftigkeit. Wenn uns Gott so richtet (und woher sollten wir glauben, dass es anders geschieht?), so bleibt uns allerdings wenig Grund, uns vor ihm zu rühmen.

Würde es nicht möglich sein, meine teuren Zuhörer, durch Euch selbst ein Urteil darüber zu gewinnen, indem Ihr Euch, bis zu einem gerissen Grade, auf den Standpunkt Eures Schöpfers stelltet? Ihr könnt es sicher, wenn Ihr das vollkommene Gesetz betrachtet, worin sich, wie in einem Spiegel, die Vollkommenheit Gottes selbst abspiegelt. Das vollkommene Gesetz, oder das Gesetz der Vollkommenheit, hat in der Anwendung keine andern Grenzen, als die Möglichkeit. Fasst es nicht einmal ganz ins Auge; nehmt nur einen Artikel davon, denjenigen, welcher Euch vorschreibt, Eurem Nächsten zu tun, was Ihr wollt, dass Euch selbst getan würde. Ich fürchte nicht, dass Ihr diese Vorschrift verwerft; niemand verwirft sie. Selbst diejenigen, welche von dem christlichen Dogma nicht reden hören wollen, nehmen die christliche Moral gern an; sie setzen etwas darein, die Schönheit derselben zu fühlen; sie erheben sie über jede andere. Sonderbare Befangenheit! denn die Moral sollte weit mehr zurückstoßen, als das Dogma; das Dogma ist tröstend, die Moral ist niederschmetternd. Allein, wie dem auch sei, urteilt nach diesem einzigen Artikel; und wenn dieser Artikel wahr ist, wenn er in seiner ganzen Stärke aufrecht erhalten werden soll, wenn es nicht von uns abhängt, ihn zu verstümmeln oder zu schwächen, so gesteht, dass dieser Artikel Euch verdammt. Seinen Nächsten behandeln, wie man von ihm behandelt sein möchte, das ist die Vorschrift; aber, ich bitte Euch, wann habt Ihr sie beobachtet? oder vielmehr, welches ist der Tag, welches die Stunde Eures Lebens, wo Ihr sie nicht verletzt habt? Diese Vorschrift, Ihr wisst es, ist nicht negativ; sie umfasst alle Dienste, alle Sorgfalt, alle Hingebung, alle Wärme der Nächstenliebe; sie setzt voraus, dass der, welcher sie beobachtet, nicht mehr für sich selbst lebe, dass das Glück seiner Brüder der vorzüglichste Hebel seines Lebens werde; und dass er durch die Macht einer großmütigen Liebe die ganze Welt in sein Herz einschließe. Nun wohlan! diese positive Seite der Vorschrift, ich erlasse sie Euch, und ich will, gegen alle philosophische Wahrheit, annehmen, dass der negative Teil unabhängig von dem andern ist, dass die Menschenliebe darauf beschränkt werden kann, sich zu enthalten, zu unterlassen, und dass schon dadurch allein, dass man sich enthält, andern das Unrecht zu tun, was man nicht von ihnen erleiden will, dass man schon dadurch allein, sage ich, menschenfreundlich ist. Nun! habt Ihr, selbst in diesem beschränkten Sinn, das Gesetz erfüllt? Erfüllt Ihr es, wenn Ihr im strengsten Sinne von Eurem Rechte selbst da Gebrauch macht, wo Euch keine Pflicht dazu verbindet? Erfüllt Ihr es, wenn Ihr Eurem Nächsten Beispiele gebt, die, von ihm zu empfangen, Euch schädlich sein würde? Erfüllt Ihr es, wenn Ihr ohne Notwendigkeit seine Eigenliebe verletzt, Ihr, deren Eigenliebe so empfindlich ist? Erfüllt Ihr es, wenn Ihr ihm die Rücksichten verweigert, nach denen Euch selbst so sehr verlangt? Erfüllt Ihr es, wenn Ihr seine Handlungen mit einer Strenge und einer Leichtfertigkeit beurteilt, die Ihr ihm nicht verzeihen würdet, wenn er sie gegen Euch anwendete? Von zwei Verpflichtungen ist wenigstens eine Euch auferlegt: Entweder Ihr müsst Euch aller dieser Dinge enthalten, oder Ihr müsst alle dem entsagen, was Ihr bis zu diesem Augenblick von Andern verlangt habt; Ihr müsst ihnen geben, was Ihr von ihnen verlangt, oder von ihnen nicht verlangen, was Ihr ihnen nicht geben wollt.

Habt Ihr dieses Gesetz erfüllt? verletzt Ihr es nicht in jedem Augenblicke? Haltet in derselben Art Heerschau über alle Artikel des Gesetzes; prüft Euch in allen Beziehungen, welche es umfasst; höret sein Urteil, denn es ist so gut, als ob Gott selbst spräche; darauf zählet Eure Verluste; seht, wie der Boden bedeckt ist von Euren niedergeschlagenen Verdiensten, Euren niedergeworfenen Tugenden. Ihr nahtet Euch Gott in glänzendem Aufzuge, mit einem prächtigen Gefolge; da seid ihr vor ihm angekommen, durch die doppelte Reihe der Vorschriften des Gesetzes hindurch; blickt jetzt nach Euren Seiten, blickt hinter Euch! Was bleibt Euch von dieser stolzen Begleitung? Seid Ihr nicht allein und ohne Stütze vor Gott; seid Ihr nicht dahin gebracht, demütig die Gnade Dessen zu erflehen, zu dem Ihr, stolz seine Gerechtigkeit anrufend, kamt?

Ich habe gesagt, die Gnade, meine Brüder; denn, ohne weiter zu gehen, kann ich es schon jetzt sagen. Das Gesetz, in der Tat, verlangte nicht weniger, als seine volle Beobachtung; Euer Gewissen begehrte eben so viel, da es, bei jeder vernachlässigten Pflicht, bei jeder Übertretung, die Ihr nicht vermieden habt, nicht ein einziges Mal unterlassen hat, die Lärmglocke ertönen zu lassen. Wenn Ihr alle seine Vorschriften erfüllt hättet, so hätte man Euch doch noch in die Reihe der unnützen Knechte stellen müssen. Wenn Ihr Euch nicht bis zu der Reihe der unnützen Knechte erhoben habt, was seid Ihr gewesen? und, die Sache genauer genommen, was soll man von diesen häufigen und unaufhörlichen Übertretungen des Gesetzes anders denken, als dass Ihr das Gesetz nicht liebt? dass, wenn Ihr, durch ein glückliches Zusammentreffen, eine oder die andere seiner Vorschriften erfüllt habt, es allerdings geschah, weil Eure Neigung Euch dazu trieb, aber dass das Gesetz an und für sich, das Gesetz als Gesetz, Euch verhasst ist, und dass Ihr einige Mal mit ihm zusammengetroffen seid, Ihr aber dass ihr niemals gehorcht habt? Ihr werdet mit mir den Schluss ziehen, dass Ihr Empörer seid, dass einige Akte eines scheinbaren, zufälligen Gehorsams jene schreckliche Bezeichnung nicht mildern könne, und dass die Barmherzigkeit, und nicht die Gerechtigkeit, Eure einzige Zuflucht bleibt.

Hiermit, scheint es uns, haben wir genug darüber gesagt, um den Zweck jedes christlichen Predigens zu erreichen, welcher darin besteht, den zitternden Sünder zu den Füßen der Barmherzigkeit nieder zu werfen. Aber wir vergessen nicht, welches genau der Gegenstand dieser Betrachtung ist; wir haben bis hierher gezeigt, oder vielmehr, wir haben mit Euch erkannt, dass der Mensch wenige Ansprüche hat, sich vor Gott zu rühmen; doch man muss weiter gehen; man muss beweisen, dass, nach der Erklärung des Apostels, „jeder Anspruch auf Ruhm ausgeschlossen ist.“

Sich vor Gott rühmen! und wessen denn? dessen, dass man ihm, sei es in der Tugend, sei es im Laster, unaufhörlich ungehorsam gewesen ist. Denn das ist das Verbrechen, welches unter den Menschen alle moralischen Zustände gleichmacht. Die andern Missetaten sind individuell, dies ist die große Missetat des Menschengeschlechts. Tugendhaft oder lasterhaft, alle haben wir Gott außerhalb unserer Gedanken gestellt, außerhalb der Beweggründe unserer Handlungen, außerhalb unseres Lebens. Wir haben sämtlich die erste, die größte von allen Pflichten gleich verletzt. Wir sind Alle in demselben Grade Übertreter der ewigen Ordnung.

Ich will für einen Augenblick das Unmögliche voraussetzen, nämlich, dass ein Mensch vortrete, welcher sagen kann: Ich habe seit meiner Jugend alle Gebote des Gesetzes beobachtet, nur habe ich mich nicht um Gott bekümmert; ich habe alle meine Pflichten erfüllt, nur habe ich die wesentlichste vernachlässigt; ich bin in allen Stücken tugendhaft gewesen, nur habe ich die größte von allen Sünden begangen. Mit wie viel Recht werden wir ihm nicht sagen: Du bist nicht tugendhaft gewesen, es ist unmöglich; dieselbe Quelle kann nicht süßes und bitteres Wasser zugleich geben; dieselbe Seele kann nicht so widersprechende Elemente in sich schließen; der Geist weigert sich, eine so monströse Verbindung zu begreifen; und wenn du darauf bestehest, Handlungen Tugend zu nennen, welche, wir gestehen es zu, die Achtung der Menschen genießen, so sind wir unsererseits gezwungen, zu erklären, dass diese Handlungen nicht die wahre Tugend bestimmen können; dass, getrennt von dem wahren Prinzip alles Guten, sie eben so notwendig vergehen müssen, wie eine Blume, welche von ihrer Wurzel getrennt ist, und dass der eifersüchtige Gott niemals eine Tugend ehren kann, welche ihn nicht geehrt hat.

Und Niemand sage, dass dieses nur ein Streit um Worte ist; dass es auf den Gehorsam allein ankommt, und dass der, welcher dem Gesetz und seinem Gewissen gehorcht, Gott gehorcht. Wenn das Eine mit dem Andern identisch ist, wenn das Eine nicht mehr Mühe kostet, wie das Andere, woher kommt dieser allgemeine Widerwille, von dem Einen zu dem Anderen überzugehen, von dem Gesetz zu dem Gesetzgeber, von dem Gewissen zu Gott? Woher kommt dieses unbegreifliche Vorziehen der Sache vor der Person, der Idee vor ihrer Quelle, des Abstrakten vor dem Lebendigen? Warum will der Mensch die Stimme Gottes nur auf Umwegen hören, und warum weigert er sich hartnäckig gegen eine unmittelbare Berührung mit seinem himmlischen Vater? Wenn er das Gesetz, als von Gott kommend, hochachtet, wenn er das Gewissen als die Stimme Gottes ehrt, woher kommt es, dass Gott nicht unmittelbar der Zweck und der Gegenstand seiner Huldigungen ist? Es geschieht, meine lieben Zuhörer, darum, weil er in dem Gesetz und in dem Gewissen nicht Gott, sondern sich selbst verehrt; es geschieht, weil er sich diese beiden Autoritäten aneignet, sie in sein eignes Wesen umwandelt, und so, sie als einen Teil von sich anbetend, in der Tat sich selbst anbetet.

Was schadet's, sagt Ihr, dass ich den Gesetzgeber vernachlässige, vorausgesetzt, dass ich das Gesetz beobachte? Diese Idee kann, bis zu einem gewissen Punkte, in Euern Beziehungen zu den Gesetzgebern dieser Welt Platz finden. Sie sind nur Menschen, Eures Gleichen, einfache Repräsentanten der Gesellschaft, zu der Ihr gehört, einfache Organe der Ideen von Ordnung und Gerechtigkeit, welche eine höhere Macht in der Gesellschaft niedergelegt hat. Es ist in ihnen keine Würde, deren Quelle in ihnen selbst läge. Mit Gott verhält es sich nicht so. Er stellt Niemanden vor. Er ist nicht das Organ des Gesetzes, er ist das lebendige Gesetz. Das Gesetz selbst ist nur Gesetz, weil es von ihm kommt. Er ist selbst die höchste und letzte Ursache von Allem, was er tut, die höchste und letzte Ursache aller Ideen. Während, auf der Erde, es das Gesetz ist, welches wir in der Person des Gesetzgebers ehren, so ist es hier der Gesetzgeber, welchen wir in dem Gesetz ehren müssen. Das Gesetz beobachten, ohne Rücksicht auf den Gesetzgeber, heißt das Gesetz selbst verletzen; denn unsere erste Pflicht gilt dem Gesetzgeber. Achtung hegen für Ideen und Den vernachlässigen, welcher der Urheber und die Quelle derselben, Den, welcher die Ursache ihrer Wahrheit ist, Den, von welchem diese Ideen nur der Schatten oder der Wiederschein sind, ist der schreiendste Widerspruch. Das Gewissen und die Pflicht, das Recht und das Unrecht als Realitäten zugestehen, und, von dem Wesen abstrahierend, welches allein die Sanktion dieser Ideen ist, ihnen allein eine Basis gibt, allein die Kette derselben an einen unbeweglichen Punkt befestigt, welches allein, man kann es sagen, das Vorhandensein derselben im menschlichen Geiste erklärt und sie verständlich macht, das ist ein tiefer Unverstand.

Endlich, meine Brüder, suchen wir unsere Gedanken ein wenig auszudehnen und zu erheben; dringen wir mit ihnen empor, so weit es unsere Schwachheit erträgt, bis zu dem Begriff von dem Gotte des Moses, von Dem, welcher sich genannt hat: Ich bin, der ich bin; von dem notwendigen Wesen, von dem universalen Wesen, sagen wir besser, von dem Wesen, von diesem Gott, welcher nicht eine Idee, eine Form, eine Abstraktion, sondern das Wesen ist; von dieser lebendigen, unendlichen, wesentlich einzigen Persönlichkeit, von diesem ewigen Ich, wovon das ich eines Jeden von uns nur eine geheimnisvolle Ausströmung ist; von diesem Wesen, welches die Ursache aller Dinge und die unsrige ist, unsere Kraft, unser Atem, unser Leben, alles Positive und Wahre in uns .. .. hiernach wage es noch Jemand unter uns, zu sagen, dass es das Gesetz ist, worauf es ankommt, und nicht der Gesetzgeber!

Ihr stellt Euren Schöpfer auf dieselbe Linie, wie einen menschlichen Gesetzgeber; und weil ein menschlicher Gesetzgeber nur Gehorsam fordert, so meint Ihr, dass Gott nicht mehr verlangen wird. Aber erkennt Ihr in dem göttlichen Gesetzgeber denn nur einen Gesetzgeber? und gibt es nur das Gesetz zwischen Gott und Euch? Ist es das Gesetz, welches Euch mit so vielen Mitteln des Genusses und des Glückes begabt hat? Ist es das Gesetz, welches Euch das Reich der Natur übertragen hat? Ist es das Gesetz, welches zwischen Euch und denen Eures Blutes die geheimnisvolle und süße Verbindung der Herzen gebildet hat? Nein! in diesen unermesslichen Segnungen, von denen eine einzige zu dem Glücke der weniger bevorzugten Kreaturen hinreicht, verbirgt sich der Gesetzgeber und zeigt sich der Vater, ein Vater, dessen Güte jeden Gedanken übersteigt. Und Ihr könntet denken, dass Ihr mit einem kalten und knechtischen Gehorsam Eure Schuld abzutragen vermögt?! Ihr könntet glauben, dass von dieser Kraft zu lieben, welche er in Euren Busen gelegt hat, nichts wieder zu ihm emporsteigen soll?! Euer ganzer Gehorsam sollte nicht Liebe sein? Euer Herz sollte nicht über dem Gesetze, über dem Gesetzgeber, den Vater, die Güte, die Liebe suchen, aus der Euer Leben, Eure Liebe selbst und Eure Glückseligkeit entspringt? Und Ihr könntet kalt sagen, entartete Kreaturen: Ich gehorche, und das genügt! Habe ich nicht meine Schuld abgetragen? Und Ihr solltet nicht begreifen, dass Ihr von dem Gesetz, welches Ihr zu erfüllen meint, das erste und das größte Gebot verletzt habt, indem Ihr Gott Liebe um Liebe verweigert?! Nein, sagt nicht, dass Ihr in dem Gesetz den Gesetzgeber ehrt, es sei denn vielleicht, dass er durch die Furcht geehrt werde; sagt nicht, dass diese Huldigung Eure Zukunft sichere, es sei denn, dass ein Gefühl, welches in seiner ganzen Kraft nicht einen Dämon aus der Hölle ziehen könnte, allein genüge, Euch in den Himmel einzuführen. Das Gesetz, in diesem Geiste ausgeübt, tötet Euch und macht Euch nicht selig.

Man ehrt das Gewissen! In der Tat, ich glaube es. Es würde schwierig sein, es nicht bis zu einem gewissen Grade zu ehren. Das Gewissen würde es nicht vergeben, denn es ist ein unsichtbarer, der Seele zur Seite gepflanzter Stachel, gegen dessen verborgene Spitze die geringste unregelmäßige Bewegung die Seele treibt und schmerzlich verwundet. Aber wenn das Gewissen, nach der Verbannung Gottes aus der Tiefe der menschlichen Seele, dort noch blieb, so geschah es, um sie unaufhörlich an Gott zu erinnern; und wer ist es, der diese Erinnerung empfängt? Man erkennt die Autorität des Gewissens an; man sagt oft, dass man es gehört hat; aber man steigt nicht höher hinauf. Eine wirklich unbegreifliche Sache! Getrennt von dem Gedanken an Gott, ist das Gewissen in unserer Natur nur eine Grille, ein Rätsel, ein Unsinn. Nun wohlan! diese Stellung weisen ihm die meisten Menschen an; Ihr werdet selbst solche sehen, denen der Gedanke an die Gerichte Gottes und an eine letzte Verantwortlichkeit gänzlich fremd ist, welche denselben wenigstens zurückstoßen, und welche dennoch geläufig von dem Gewissen wie von ihrem inneren Führer sprechen, ganz vergessend, dass, wenn das Gewissen sich auf Niemand berufen, an Niemand appellieren kann, wenn es nicht der Lehnsträger Gottes ist, es nichts zu sagen, nichts zu befehlen hat. Warum hört man auf dasselbe? warum erkennt man es an? Darum, weil dies nicht eine Sache der eignen Wahl ist; das Gewissen ist da, und es hängt nicht von uns ab, dass es nicht da sei; wäre es abwesend, so würde man es nicht herbeirufen; da es gegenwärtig ist, so kann man ihm seine Gegenwart nicht ableugnen. Aber seine, übrigens oft beschwerliche und ungern gesehene, Gegenwart ist nicht die Gegenwart Gottes; das Gewissen ist nur der bestehende und unauslöschliche Abdruck einer mächtigen Hand, welche sich, nachdem sie uns fest umfasst, von uns zurückgezogen hat, oder vielmehr, aus welcher wir von einer feindlichen Macht gerissen worden sind; die Hand ist abwesend, der Abdruck bleibt; dieser geheimnisvolle Eindruck, den wir uns nicht selbst gemacht haben, führt jeden Menschen, der nachdenkt, zu einer dunklen Vorstellung von Gott zurück; er kann es bewirken, dass der Mensch Schlüsse zieht und die abwesende Hand sucht; aber er allein kann es nicht bewirken, dass er diese Hand findet.

Wollt Ihr eine deutliche Vorstellung von dem Gewissen im Menschen haben? Ein undankbares Kind, welches der Taumel des Stolzes fortreißt und welches treulose Ratschläge verführen, entflieht aus dem elterlichen Hause, um eine Unabhängigkeit zu genießen, die man ihm als das höchste Glück geschildert hat. Es wagt sich in die Welt, wie ohne Einwilligung, so ohne Stütze. Seine Sittenlosigkeit und seine Ausschweifungen lassen in ihm überall, selbst da, wo sie nicht die Strenge der gesellschaftlichen Gerechtigkeit hervorrufen, das aufrührerische und entartete Kind in seiner wahren Gestalt erblicken. Aber mitten in seinen Verirrungen erinnert etwas an seine gute Herkunft; in seiner Sprache eine glückliche Wahl des Ausdrucks; in seinen Manieren etwas Hervorstechendes; in seinem Lebenswandel selbst edle Regungen, welche einen Kontrast mit seinem übrigen Leben bilden; mit einem Wort, eine Spur, welche schwer von den ersten Gewohnheiten eines Menschen von guter Geburt zu verwischen ist, begleitet ihn bis an die Orte und in die Gesellschaften, wo dieses Verdienst am wenigsten gewürdigt wird. Es scheint, dass alles nur mögliche Schlechte von einem Wesen zu erwarten ist, welches mit Vorsatz das Herz eines Vaters hat brechen können; und dennoch sehr oft, wenn die Verführung des Beispiels ihn auffordert, die letzten Grenzen der Rechtschaffenheit zu überschreiten, zaudert er, tritt er zurück, scheint es, als ob die Achtung vor sich selbst ihn noch zurückhielte. Wider seinen Willen; an ihn gefesselt, folgen ihm die Erinnerungen seines ersten Zustandes, umgeben sie ihn, fangen sie auf dem Wege zu seinem Herzen wenigstens einen Teil der pestilenzialischen Luftströme auf, welche die Welt aushaucht, und verhindern ihn so, von Ausschweifung zu Ausschweifung, von Fall zu Fall, alle möglichen Konsequenzen seines ersten Verbrechens zu durchlaufen.

Treues Bild des Menschen in seinem Zustande des Abfalls! Das Gewissen spricht noch zu ihm: Er folgt ihm zuweilen, aber Den, im Namen dessen es spricht, aber Den, welcher es im Busen des Menschen als eine immerwährende Mahnung zurückließ, als einen anhaltenden Ruf zur Rückkehr .. Den hört man nicht, Dem dient man nicht, Den schwört man ab, sich immer wieder damit beruhigend, dass man doch hie und da in etwas dem beschwerlichen Angstgeschrei des Gewissens nachgegeben hat! Ach, hätte man es immer gehört und wäre man ihm immer gefolgt, auch dann wäre es noch nicht so, wie Gott seine Rechte und unsere Pflicht versteht! Wie hoch wir auch die Würde des Gewissens anschlagen, eine Würde, die es von Gott erborgt, Gott will nicht durch dasselbe verdrängt sein. Weit entfernt, für dasselbe von einem seiner Rechte abzustehen, weit entfernt, zu seinen Gunsten abzudanken, wie man es vorauszusetzen scheint, hat Gott, der nicht will, dass die Verjährung sich gegen seine Ansprüche erhebe, zuweilen dem Gewissen selbst ihm gegenüber Stillschweigen geboten. Auf diesem Begriffe seines unmittelbaren Rechtsanspruchs auf Gehorsam beruhen viele der Verheißungen und Vorschriften des alttestamentlichen Haushaltes. Allerdings, wenn Ihr den Zusammenhang dieser Geschichte nehmt; seht Ihr wohl, dass Gott im Allgemeinen sein eignes Werk ehrt, indem er das Gesetz der Moral, welches er von Anbeginn in das menschliche Herz geprägt hat, anerkennt, und sogar sanktioniert; aber eben so wie er, ohne etwas an der Verbindung der Kräfte zu ändern, aus denen er das System der Natur zusammengesetzt hat, dort, in Zwischenräumen, seine eigne Kraft in dem Werke der Wunder einschreiten lässt, eben so gebietet er in der moralischen Ordnung unserm natürlichen Gefühle, unserm moralischen Sinne ein momentanes Stillschweigen, und befiehlt ausdrücklich, was diese nicht einmal erlaubt haben würden. Als Abraham gelobt wird, seinen Sohn, trotz des Sträubens der väterlichen Liebe, zum Scheiterhaufen geführt zu haben, als Saul bestraft wird, weil er einer Regung des Mitleids gehorcht und nicht getan hat, was man bei jeder andern Gelegenheit einen Missbrauch des Sieges genannt haben würde, wie soll man in diesen beiden schrecklichen Tatsachen nicht ein schlagendes Symbol der Wahrheit erkennen, von welcher ich rede, nämlich: dass Gott über dem Gewissen steht, dass unser Gehorsam ihm gelten soll, und dass seine göttliche Eifersucht sich nicht mit einem geringeren Preise begnügt?

Zur Unterstützung dieser Prinzipien lässt sich noch ein wichtiger Grund anführen. Es ist der, dass der Gehorsam gegen Gott, ich sage, gegen Gott unmittelbar, allein fähig ist, die Jugend hervorzubringen. Wenn man, indem man sich alles dessen erinnert, was wir in unserer vorhergehenden Rede eingeräumt haben, in dieser Behauptung zugleich einen Widerspruch und ein Paradox findet, so wolle man geneigt sein, dem, was uns noch zu sagen bleibt, einige Aufmerksamkeit zu schenken.

Die Tugend, ist sie ein Wort oder ein Etwas, eine Fiktion oder eine Realität? Wenn sie ein Etwas ist, eine bestimmte Realität, so muss sie eine sein in ihrem Prinzip, eine in ihrem Ursprunge. Wenn sie mehrere Prinzipien hat, so ist sie mehrere Dinge auf einmal, so ist sie die künstliche Vereinigung von mehreren Phänomenen, denen man einen Kollektiv-Namen aufgedrungen hat, und deren innere Natur, eben dadurch, unerklärlich bleibt. Man muss notwendiger Weise zugestehen, dass über der kindlichen Pietät, über der Gerechtigkeit, dem Wohlwollen, der Keuschheit, Etwas steht, welches keines dieser Dinge ins Besondere ist und welches sie alle mit einem Male umfasst; ein Prinzip, nach welchem wir nicht bloß ehrfurchtsvolle Söhne, oder gerechte Menschen, oder wohlwollende, oder aufrichtige, oder keusche Menschen sind, sondern alles dies mit einem Mal, sondern alles, was man sein muss; eine allgemeine Kraft, welche unsere Seele für die moralische Ordnung in ihrer ganzen Ausdehnung empfänglich machen, und uns dieselbe in allen ihren Anwendungen, lieben lassen soll; mit einem Wort, welche in uns nicht Tugenden erzeugt, sondern die Tugend. Dieses Wort Tugend, in seinem allgemeinen oder abstrakten Sinn, bedeutet es etwas, meine Brüder? Gibt es eine Hauptquelle, von welcher die besonderen Tugenden die Ausflüsse, einen Stamm, von welchem die besonderen Tugenden die Weste sind? Wenn Ihr es verneint, so neigt Ihr Euch zum Materialismus; denn er allein kann über Eure Theorie Auskunft geben. Wenn Ihr es im Gegenteil bejaht, so zeigt uns diesen Stamm und diese Quelle. Die Entdeckung dieses schaffenden Prinzips bildet seit langer Zeit die Aufgabe und die Verzweiflung der Moral-Philosophie. Werdet Ihr es im Gewissen suchen? Aus dem Gewissen, in seinem gegenwärtigen Zustande, könnt Ihr einige besondere Tugenden herleiten, aber ihr aufwärts verfolgter Lauf wird Euch nicht zu dem Urbette, aus welchem sie sich ergießen, nicht zu dem gemeinsamen Schatz ihrer Wasser hinführen. Was gibt es Allgemeineres in dem menschlichen Gewissen, als diesen Grundsatz, welchen wir schon angeführt haben: „Tue Andern Alles, was Du wünschst, dass Dir getan würde?“ Wie weit ist er entfernt, die ganze Ausdehnung des moralischen Wesens zu umfassen! Wie sollte dieser Grundsatz die Verpflichtung enthalten, sein Inneres zu reinigen? Wie solltet Ihr daraus die Verpflichtung folgern, Gott die Huldigungen darzubringen, welche ihm zukommen? So ausgedehnt der Grundsatz ist, so umfasst er nicht die Hälfte unserer Pflichten. Und in der Ausübung? welche Lücken, welche Unterbrechungen lässt er nicht bestehen! Was für ein unzusammenhängendes und bruchstückiges Ding ist also die menschliche Moralität selbst bei dem durch seinen Charakter am meisten ausgezeichneten Menschen! Vergebens sucht Ihr in ihm das gemeinsame Prinzip aller Moralität; noch einmal, er zieht aus seinem Gewissen nur Tugenden, er zieht die Tugend nicht daraus.

Es ist dem so, weil die Tugend nicht weniger hoch gesucht werden kann, als in Gott, welcher ihre höchste und einzige Quelle ist. Es ist dem so; weil die Liebe Gottes die Tugend ist, weil die Kraft, welche im Menschen, parallel und mit einem Wurf, alle Tugenden hervorbringt, nur in diesem Gefühl ihren Sitz hat. Auch ist es das Erwachen dieses Gefühls im Innern der menschlichen Seele, worin das Evangelium die Wiedergebart bestehen lässt. Es lehrt uns nicht tugendhaft sein durch allmähliges Hinzufügen, indem wir, so zu sagen, eine Tugend an die andere anreihen. Es vereinigt uns mit Gott durch den Glauben, und dieser Glaube, welcher die Liebe erzeugt, entwickelt gleichzeitig in der erneuerten Seele alle die Eigenschaften und alle die Gewohnheiten, welche, zusammengenommen, die Tugend bilden. Und weil es in dem Mittelpunkte selbst der Seele ist, und nicht an verschiedenen Punkten ihrer Oberfläche, wo es den einzigen Keim niederlegt, so sind es auch die inneren Gesinnungen, welchen es eine uns umschränkte Wichtigkeit beilegt. Die Bibel allein hat mit einer vollständigen Sachkenntnis gesagt, dass „die Quellen des Lebens aus dem Herzen entspringen.“ Die sozialen Tugenden, durch den gewöhnlichen Moralisten als Zweck verfolgt, sind in den Augen des christlichen Moralisten nur das Erkalten der inneren Tugend, das Zeichen und die Kundgebung ihres Vorhandenseins in der Seele. Die menschliche Moral, in ihrem vollkommensten Zustande, ist eine sinnige Mosaikarbeit, aus welcher der geringste Stoß einen Haufen von bunten Trümmern macht; die christliche Moral ist die mächtige Pyramide, bei der jeder Teil dieselbe Stütze in ihrer unermesslichen Basis findet, welche unerschütterlich ist, wie der Boden, der sie trägt.

Mit welchen Ansprüchen sich also auch der Mensch seinem göttlichen Richter zu nahen vermag, er kann nicht mit der Tugend vor ihn hintreten; er hat sie nicht, denn er hat nicht die Liebe Gottes; welchen Ruhm könnte er also bei Gott finden? Gestehen wir, dass jeder Anspruch sich zu rühmen ausgeschlossen ist; ausgeschlossen für den Menschen, den die Welt verachtet; ausgeschlossen für den, welchen die Welt hochachtet. „Es ist kein Unterschied,“ sagt der Apostel, „sie sind allzumal Sünder.“ Bis hierher lässt sich die Möglichkeit eines Unterschiedes begreifen, aber er fügt hinzu: „und Alle mangeln jedes Anspruchs auf Ruhm vor Gott.“ Hier schwinden die Unterschiede; denn diese Sünde, welche die Sünde im eigentlichen Sinne ist, ist dieselbe bei Allen. Von diesem Gesichtspunkte aus ist der gutmütigste Mensch harten Herzens, der gerechteste ungerecht, der redlichste untreu, der ergebenste aufrührerisch und der reinste unkeusch; denn Alles, womit er die Menschen verschont, tut er Gott.

Glaubt nicht, dass uns unbekannt ist, in welchem Grade sich ein natürliches Gefühl oder Vorurteil gegen diese Erklärung empören kann. Wir könnten uns begnügen, zu antworten, dass dieselbe nichts desto weniger wahr ist, und zwar mit einer größeren Gewissheit, als alle Vorurteile. Aber die Betrachtung einer interessanten Tatsache würde, wenn es notwendig wäre, die schon so große Gewissheit noch verdoppeln.

Es wäre natürlich, anzunehmen, dass, je tugendhafter ein Mensch ist, je weniger wird er sich geneigt finden, die Lehre unsers Textes zu unterschreiben, oder wenigstens dass er sich, in dieser Beziehung, nicht mit dem entschieden lasterhaften Menschen in dieselbe Linie stellen lassen wird. Ich leugne nicht, meine Brüder, dass man unter den rechtschaffenen Leuten leicht einige Beispiele dieses natürlichen Pharisäismus finden könnte. Aber was man auch bei den auserlesenen Seelen antrifft, und mehr bei ihnen, als anderswo, ist die Bereitschaft, sich über sich selbst zu beklagen, und sich freiwillig weit unter die Seelen zu stellen, welche in der allgemeinen Meinung ihnen sehr untergeordnet werden. Sollte es nicht sein, dass diese auserlesenen Seelen, für welche ihre Überlegenheit selbst vielleicht eine Offenbarung ist, dunkel fühlen, dass ihnen mitten in ihren liebenswürdigen Tugenden die eigentliche Tugend fehlt? Gehen wir weiter: solche Seelen treffen mit dem Christentum zusammen. Wer bedarf es, nach den gewöhnlichen Begriffen, weniger als sie? Haben sie nicht schon durch den Vorzug ihres Charakters den größten Teil dessen, was es ihnen geben kann? Ach! mehrere bilden es sich in der Tat ein! aber es gibt Andere, und dies genügt uns, welche ganz entgegengesetzt darüber urteilen. Mitten in ihren so gerühmten Tugenden bemächtigt sich ihrer mit aller Gewalt ein Bedürfnis, nicht bloß der Vervollkommnung, sondern der Vergebung, der Gnade; sie bekennen frei, dass sie nichts in sich haben, womit sie sich vor Gott rühmen können. Spricht man mit ihnen von ihren Tugenden, so fragen sie, ob diese Tugenden verhindern, dass nicht ihr Leben eine lange Reihe von Übertretungen des göttlichen Gesetzes sei? Spricht man mit ihnen von dem inneren Wert dieser Tugenden, so steht man sie traurig lächeln, denn sie kennen den Mangel dieser rein menschlichen Tugenden, welche jedem Prinzip des religiösen Gehorsams fremd sind. Ihr Zeugnis zu verwerfen, meine Brüder, ist keine leichte Sache; das hieße, gegen jedes richtige Verfahren, denjenigen eher Glauben schenken, welche sich rühmen, als denen, welche sich anklagen; das hieße der Wahrheit grade in dem Falle misstrauen, wo sie am wenigsten verdächtig ist, und die Weisheit des Verstandes derjenigen leugnen, denen man sie bis dahin nicht hat absprechen können; das hieße annehmen, als sei es unmöglich, dass eine aufmerksame Prüfung seiner selbst und des göttlichen Gesetzes einen vernünftigen Menschen zu andern Ansichten über Moral führen könne, als sie die besitzen, welche diese Prüfung nicht vorgenommen haben; das hieße, mit einem Wort, eine Leichtfertigkeit an den Tag legen, welche man sich bei keinem andern Gegenstande verzeihen würde. Ich glaube, dass eine Erscheinung wie die, welche wir bezeichnen, zum wenigsten der ernstlichsten Aufmerksamkeit würdig ist, und dass man sich nicht ihrer Betrachtung entziehen soll, bevor man sie sich nicht erklärt hat.

Wir unsererseits, wenn man nach unserer Meinung fragt, wir gestehen, dass der Wahnwitz des menschlichen Stolzes uns mit Staunen erfüllt. Die Menschheit beugt sich unter der Last ihrer Missetaten; die Schandtaten drängen sich in ihrer blutigen Geschichte; ein Todesatem entströmt dem Innersten der Gesellschaft; das Leben eines jeden Menschen ist, nach seinem eignen Geständnis, ein Gewebe von Übertretungen, und, in Bezug auf die Rechte Gottes betrachtet, eine lange und beständige Untreue; von diesen schrecklichen Behauptungen kann der Mensch keine in Abrede stellen. Der Sohn Gottes kommt und sucht ihn in der Tiefe dieser Verworfenheit auf; von so weit, als diese entehrte Kreatur ihn hören kann, ruft er ihr das Wort der Gnade entgegen; er fordert sie auf, sich an ihn anzuschließen, und verspricht ihr, dass sie unter seiner Führung ohne Furcht vor ihrem Richter wird erscheinen können. Halt, sagt der stolze Verbrecher, halt! wer hat denn gesagt, dass ich der Gnade bedürfe? und mit welchem Rechte will man mir diese demütigende Wohltat anbieten? Und meine Tugenden, hat man sie gezählt? meint man, dass sie auch um Gnade bitten müssen? werde ich sie, die edlen Gefährten meines Lebens, als Flehende an die Stufen eines Richterstuhls schleppen, vor welchem das Verbrechen allein erscheinen soll? Wenn meine Sünden der Nachsicht bedürfen, meine Tugenden machen nur Anspruch auf Gerechtigkeit; und man meint sie von der Strafe loszusprechen? Ja, man meint sie loszusprechen, Unglücklicher, den der Stolz verwirrt; aber was kommt übrigens darauf an? mit ihnen oder ohne sie bist du verdammt; die zwölfte Stunde wird gleich schlagen; der Bräutigam ist an der Türe; ist deine Lampe angezündet? ist deine Seele mit Gott vereinigt? gehörst du ihm an durch die Neigungen deines Herzens? kannst du glücklich sein in der Gesellschaft der Heiligen, Christi und Gottes selbst? das ist die wahre Frage, die Lebensfrage; und in dieser feierlichen Stunde, wo deine irdische Wohnung über deinem Haupte zusammenstürzen will, wo dir nur ein Augenblick gegeben ist, um zu entkommen, verlierst du ihn damit, einige eitle Trümmer zusammen zu raffen, mit welchen du nicht leben kannst, und durch welche du im Gegenteil untergehen wirst.

Tugendhafte Sünder, lasterhafte Sünder, hört noch einmal das Wort des Apostels : „Es ist kein Unterschied; ihr mangelt, die Einen wie die Andern, alles Anspruchs auf Ruhm vor Gott.“

Aber den Sündern jeder Art, uns Allen, der ganzen Welt, ruft der Mann Gottes in der Schrift zu: „Gott hat Euch Alle in die Empörung eingeschlossen, auf dass er sich Aller erbarme.“ Es gilt vor ihm weder das Ansehen der Person, noch das Ansehen der Sünden; er gibt nichts auf einige geringe Unterschiede; er wendet nicht unsern eitlen Maßstab auf uns an; denn die Erbsünde ist gleich bei allen; und wie er uns Alle in die Empörung eingeschlossen hat, so schließt er uns Alle in die Barmherzigkeit ein. Arbeiter der ersten, der zweiten, der elften Stunde, was sage ich? Ihr, die Ihr gar keine Arbeiter gewesen seid, und die Ihr, angelangt bei der verhängnisvollen zwölften Stunde, nur Verwirrung und Tränen zu bieten habt, es ist Platz für Euch Alle in seinen Armen; aber man muss sich in sie hineinwerfen; aber man muss seine Hilfe nicht anderswo suchen; aber man muss nicht dem so oft in dem Propheten verkündigten Fluche Trotz bieten: Wehe denen, die hinabziehen in Ägypten um Hilfe! das heißt, wehe denen, welche im Widerstreben, aus reiner Gnade selig zu werden, sich in die Erinnerung an ihre guten Werke, an ihren guten Willen, ihre guten Absichten flüchten, oder in den trügerischen Vorwand, dass sie ihre Schwäche nicht haben besiegen können, oder in den gottlosen Gedanken, dass Gott ihnen auf Unkosten seiner Gerechtigkeit verzeihen werde! Die Amnestie ist da für Alle, ohne Zweifel, für Alle in gleicher Art; aber man muss sie so annehmen, wie sie dargeboten wird, nicht als ein Recht, sondern als eine Gnade, nicht als ein Aufgeben der Prinzipien des göttlichen Regiments, sondern als den Preis der Fleischwerdung Jesu Christi, als eine Vergeltung des Opfers, welches er vollbracht, und der Bürgschaft, welche er geleistet hat.

Das sind die Gesinnungen, mit welchen man vor diesem beleidigten Herrn erscheinen muss, welcher allein das Recht hat, die Grundlagen des Vertrages zu legen und zu regeln, den er sich herablässt, mit uns zu schließen. Das hieße die erste Empörung feierlich bestätigen und durch eine zweite erschweren, wollte man über die Bestimmungen dieses Vertrags streiten, Änderungen darin vorschlagen, über diese oder jene Klausel rechten; was sage ich wollte man ihn nicht mit der ganzen Inbrunst der Dankbarkeit und der ganzen Hingebung der Liebe annehmen!

Erwägt alle diese Dinge, meine teuren Brüder! und mögen die von Euch, welche innerlich fühlen, dass sie nicht mit Gott ausgesöhnt sind, sich ohne Aufschub fragen: Was zögern wir, uns mit der göttlichen Gerechtigkeit zu vergleichen? Wollen wir, ohne einen Schatten von Hoffnung, dabei beharren, mit den Empörern gemeinschaftliche Sache zu machen? Wollen wir, dass der Tod uns, eingeschlossen in der Empörung, überrasche? Lassen wir die Welt unsere Schwachheit verhöhnen; es liegt keine Feigheit darin, mit Gott zu kapitulieren. Wahnwitzig ist, wer für den eitlen Ruf des Mutes die Hoffnungen der Ewigkeit hingeben kann! unglücklich, wer ein ganzes Leben hat hinbringen können, ohne Gott zu dienen und ohne Gott zu lieben!

Da sind wir also, Herr, nimm uns zu dir, nimm uns ganz und gar; wir wollen nicht mehr uns selbst angehören, wir wollen Dem angehören, der uns zuerst, der uns mit einer ewigen Liebe geliebt hat!

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