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Vinet, Alexandre - Die Freude.

Vinet, Alexandre - Die Freude.

Text: „Seid allezeit fröhlich.“ 1. Thessal. 5,16.

Wann denn die Freude der Gegenstand eines Gebotes, einer ausdrücklichen Aufforderung sein? Man möchte dies anfänglich leugnen. Die Freude ist nicht ein äußeres Werk; sie ist nicht einmal eine das sittliche Leben unmittelbar betreffende Empfindung, ich meine eine solche Seelenbeschaffenheit, für welche die Seele selbst verantwortlich gemacht werden kann. Sie ist ganz einfach ein sehr wünschenswerter Zustand, vorausgesetzt, dass er sich nicht auf Kosten des Gewissens und der Pflicht geltend macht. Der Mensch ist gerecht, aufrichtig, wohltätig, unter der Bedingung, dass er es sein will. Fröhlich aber ist man, wenn man Veranlassung hat, es zu sein. Fröhlich ist man, wenn man es sein kann, und da die Freude im Grunde nichts anderes ist, als das innere Gefühl und der lebendige Ausdruck des Glückes, so scheint es durchaus nicht natürlicher zu sein, uns zur Freude aufzufordern als zum Glück.

Und dennoch, meine Brüder, ist es weder das Evangelium allein noch das Evangelium zuerst, welches uns die Freude gebietet. Die Philosophen haben es nicht weniger getan, und wir machen dabei sogar die Beobachtung, dass sie darin nur das Echo jener Weisheit auf der Gasse gewesen sind, welche zu allen Zeiten der Philosophie ihre wichtigsten Sätze dargereicht hat. „Bleibt immer recht fröhlich!“ so riefen sich oftmals unsre Vorfahren zum Abschied zu. Die Weisen dieser Welt haben dieser allgemeinen Aufforderung nur ihr Siegel aufgedrückt und ihr eine bestimmtere Fassung gegeben, und man muss ihnen, meine Brüder, die Gerechtigkeit widerfahren lassen: von ihrem Gesichtspunkt aus und nach dem Maß ihrer Erkenntnis haben sie Recht gehabt. Kraft ihres Gewissens besitzen sie, das können wir immerhin anerkennen, den Anfang aller Wahrheit, welche Gott freilich allein vollenden und ergänzen kann.

Ja, die Weisen dieser Welt hatten Recht: die Traurigkeit ist der Tod der Seele, die Freude ihr Leben. Die Traurigkeit drückt uns zu Boden und schließt uns in uns selber ein. Die Freude hingegen öffnet uns das Herz und weitet uns die Seele. Sie ist für die Seele dasselbe, was eine milde Wärme für den Körper ist. Jedermann hat es schon empfunden: die Traurigkeit ist die Gemütsstimmung, welche der Anwendung unsrer Kräfte und folglich auch dem tätigen Handeln am meisten zuwider ist. Zum tätigen Handeln wird man nie anders als durch einen gewissen Anreiz oder durch eine bestimmte Hoffnung angetrieben. Die Traurigkeit aber lässt alles farblos erscheinen. Sie beraubt die Gegenstände ihrer Reize und die Zukunft ihrer Ausfichten. Sie nimmt der Seele alle ihre Schwungkraft. Sie fesselt und lähmt uns innerlich. Sie macht uns dadurch für uns selbst und für andere unnütz, und von diesen Gesichtspunkten aus hat sie das Verdammungsurteil der Philosophen erfahren und verdient.

Um so mehr ist ihnen die Freude als die Voraussetzung aller Entwicklung, als das Prinzip des Lebens empfehlenswert erschienen. Und in der Tat, sie müsste empfohlen und angeraten werden, wenn sie es könnte. Allein wer kann denn ernsthafter Weise die Freude gebieten? Wer kann mit der einen Hand uns die Verpflichtung zur Freude zeigen, ohne uns mit der andern die Beweggründe und die Mittel dazu anzugeben? Wer darf uns vor allem eine beständige ununterbrochene Freude vorschreiben? Wer darf uns verpflichten, aus der Freude den Grundton unsres inneren Lebens zu machen, wenn vielleicht der Schmerz den Grundton unseres äußeren Lebens bildet oder wenn vielleicht die Traurigkeit gerade in unserm innern Leben die Übermacht besitzt und sich, sei es auf Grund unsrer Gemütsanlage, sei es auf Grund unsres Nachdenkens, unsrer ganzen Seele bemächtigt hat?

O, die ihr mir gebietet, allezeit fröhlich zu sein, ändert doch, wenn ihr es vermögt, meine angeborene Gemütsbeschaffenheit, die mich unabänderlich zur Traurigkeit geneigt macht, oder zerstört durch Tatsachen, durch zwingende Tatsachen das Resultat, zu dem ich kraft meines Nachdenkens durch andere Tatsachen geführt worden bin. Und wenn ihr mir weder ein neues Temperament schaffen noch die Erwägungen ungültig machen könnt, welche die Traurigkeit zur herrschenden Stimmung meines Lebens gemacht haben, was habt ihr mir alsdann vorzuschlagen außer dem, was ich auch ohne euch ebenso gut finden kann, ja, was ich mir selbst schon oftmals angeraten habe, das, was jeder Mensch mit mehr oder weniger Erfolg jener Hochflut der Traurigkeit entgegenstellt, welche unaufhörlich aus dem Schoß des Lebens wie aus einem tiefen Ozean, emporsteigt und die Seele überströmt und erfüllt: ich meine die Zerstreuung, die Betäubung, das Vergessen seiner selbst?

Denn eine jede Seele, daran dürfen wir nicht zweifeln, trägt in sich, wenn sie es sich auch nicht selber eingesteht, einen geheimen Schatz von Traurigkeit. Und es ist ein eigentümliches Gesetz unsrer Natur, dass sich immer in unsre lebhaftesten Freuden ein gewisses trauriges Gefühl mit einschleicht, wie in einen fröhlichen Gesang ein entferntes Murmeln, ein unterdrücktes Seufzen. Man möchte sagen, dass der Ton der Freude in der Tiefe unsrer Seele einen dort schlummernden Schmerz aufweckt. Man möchte sagen, dass die Empfindung unsres Elendes gerade diesen Augenblick erwartet, um uns zu erfassen und um sich unsrer zu bemächtigen. Ja, wir können noch weiter gehen, meine Brüder, ohne den Gedanken vorzugreifen, zu denen wir im Verlauf unsrer Rede werden geführt werden. Wir können sagen, dass die reinste, tiefste und heiligste Freude, so lange das Fleisch und das irdische Leben uns noch in ihren Fesseln halten, niemals von gewissen melancholischen Stimmungen frei ist. Wohl sind diese Stimmungen weit davon entfernt, die Freude zu stören. Sie nähren dieselbe im Gegenteil. Sie geben ihr erst die Veranlassung, recht zum Ausbruch zu kommen. Sie legen in ihren Mund neue Lieder. Trotzdem ist solche Freude wie der Honigseim Simsons. In dem Rachen eines Löwen ist er gefunden worden. Das Süße ist aus dem Bittren hervorgegangen, und wenn dieses Bittre sich nicht mehr schmecken lässt, dann trägt es schon bald Sorge, sich wieder in unsre Gedanken zurückzurufen.

So ist also keine Freude ohne Störung und Trübung. Und wenn ihr darauf ausgeht, meine Brüder, uns zwar nicht eine Tatsache entgegenzuhalten, welche uns widerlegt, aber doch eine Tatsache, welche der Freude in der Welt und im Leben einen größeren Raum zuzugestehen scheint, als wir es tun, wenn ihr mit einem Wort das Beispiel der völligsten und reinsten Freude sucht, welche die Welt nur immer empfinden kann, so wollen wir euch gern bei euren Nachforschungen unterstützen und euch vor allem vergeblichen Umhersuchen bewahren. Kommt nur mit uns zu den Menschen, in denen der edelste Teil der Menschlichkeit gleichsam zerstört ist; kommt mit uns zu denen, welche niemals ein edler Gedanke beseelt, kommt mit uns zu denen, denen die Sprache der Seele völlig fremd und unverständlich ist, zu den in fortwährenden Zerstreuungen dahinlebenden Menschen, zu den unaussprechlich leichtfertigen Herzen, welche niemals die Tiefe ihres Elendes erkennen und welche zu oberflächlich sind, um unglücklich zu sein. Sehet, das sind die auserwählten Menschen der Freude, das sind die, welche die Traurigkeit nicht kennen, welche von ihr nur selten einmal aufgesucht werden und von ihr vergessen zu sein scheinen, bis sie einst mit all ihrem Schwergewicht auf diese haltlosen Seelen sich legt und es für eine leichtere Aufgabe hält, sie zu zerschmettern, als sie zu rühren.

Die Traurigkeit hingegen ist das Geschick der tiefen Seelen und der starken Geister. Mehr leiden ist das Privilegium eines jeden, der mehr empfindet, und die Furchen, welche ein mächtiger Gedanke zieht, werden fast zu Abgründen durch denselben. Zwar ist es sehr seltsam, meine Brüder, dass eine Seele, je mehr Wert sie besitzt, um so weniger Glück besitzen soll und dass die Freude mit Vorliebe in den niedrigsten Seelen zu wohnen scheint. All unsre Vernunft und all unser Gerechtigkeitsgefühl lehnt sich gegen ein so schreiendes Missverhältnis auf. Allein das Missverhältnis besteht tatsächlich. Die Freude ist nicht die Frucht der Vernunft. Welches also ist die Vernunft, welches ist die Philosophie, die uns die Freude gebieten will? Es ist eine Philosophie, welche es vermeidet, die Welt kennen zu lernen und sich ins Leben zu vertiefen, oder welche, nachdem sie die Wahrheit entdeckt hat, uns dieselbe als gefährlich und unheilvoll verbietet; es ist eine Philosophie, welche das entschiedenste Geständnis von dem Elend unseres Zustandes in sich schließt. Denn was ist es doch um unsre Natur, wenn wir es nicht wagen, ihr klar ins Angesicht zu blicken, und was ist es um das Leben, wenn wir den wahren Charakter und den eigentlichen Wert desselben uns verhüllen müssen?

So gibt es also, ihr Menschen, für euch keine andre Wahl als diese: entweder denkt und weint, oder freut euch, aber unter der Bedingung, nicht zu denken. Ich meine: unter der Bedingung, nicht daran zu denken, was für euch das Nächstliegende ist und euch am meisten angeht. Denn ich weiß recht wohl, dass auch das Denken, wenn es sich anderen Gegenständen zuwendet, eine Zerstreuung ist und dass es uns sogar, je tiefer und ernsthafter es scheinbar ist, nur froher und heiterer macht. Unter den Mitteln, uns zu zerstreuen und uns von uns selbst loszureißen, gibt es kein sichereres, als fleißige und ernsthafte Studien. Dieser scheinbare Ernst vertreibt den wahren. Die Vergnügungen der Welt würden es weder sicherer noch schneller dazu bringen.

Brauche ich euch erst zu sagen, meine Brüder, was den Keim der Freude in dem Herzen eines Menschen, welcher denkt, erstickt und ersterben lässt? Ich bin überzeugt, dass ich es euch nur in das Gedächtnis zurückzurufen brauche oder dass ich nur den stummen Empfindungen, von denen eure Seele erfüllt ist, einen Ausdruck zu geben brauche. Euer Leben geht dahin in Lockungen zur Freude, welche immer wieder niedergehalten werden. Der Freude gehören nur flüchtige Augenblicke, die Traurigkeit beherrscht das ganze Leben. Es ist ein Augenblick voll Freude, wenn man eine Hoffnung sich erfüllen sieht. Es ist ein ganzes Leben voll Traurigkeit, wenn man es erkennt, dass die allmähliche Erfüllung aller Hoffnungen keineswegs die unendliche Leere der Seele ausgefüllt hat. Es ist ein Augenblick voll Freude, wenn die Eigenliebe sich im Gefühl eines Triumphes berauscht, den sie davongetragen. Aber es ist ein ganzes Leben voll Traurigkeit, wenn sich vor unsern Augen die Eitelkeit der glänzendsten Erfolge immer deutlicher enthüllt. Es ist ein Augenblick voll Freude, wenn wir eine geliebte Person wiedersehen. Aber ohne von dem entsetzlichen Augenblick des Abschiedes zu sprechen, es ist ein ganzes Leben voll Traurigkeit, wenn man fort und fort die Verluste, die man gehabt hat, sich in die Erinnerung zurückruft oder die künftigen schon voraussieht. Es ist ein Augenblick voll Freude, den uns das Lächeln eines schönen Tags, der milde Sonnenschein, die freie Entwicklung unsrer Kräfte, das frohe Lebensgefühl in der Fülle unsrer Gesundheit gewährt. Aber es ist ein ganzes Leben voll Traurigkeit, wenn wir bedenken, dass unterschiedslos die guten und die schlimmen Augenblicke, Freud und Leid, unser gesamtes Seelenleben dem Abgrund zueilt und dass wir von allem, was uns gehört, von allem, was wir gewesen sind, nichts zurückbehalten können, nicht einmal unsre liebsten Schmerzen. Es ist ein Augenblick voll Freude, wenn wir uns einmal über den Staub, der unsre Wiege ist, über das Fleisch, das unser Gefängnis ist, emporgehoben und uns der Himmelsluft durch einen besonderen Aufschwung der Liebe oder der Tugend genähert fühlen. Aber ach! es ist ein ganzes Leben voll Traurigkeit, wenn es doch im Großen und Ganzen eben dem Staub und dem Fleisch dienstbar ist und uns nur immer enger mit beidem verbindet. Es ist ein Augenblick voll Freude, ein blendender Blitzstrahl, wenn die Seele einmal mit ihrem Gott in Gemeinschaft tritt. Aber es ist ein ganzes Leben voll tiefer und bittrer Traurigkeit, wenn es, wie es bei uns doch zumeist der Fall ist, ein Leben ohne Gott und ohne Zukunft ist, oder um die volle Wahrheit zu sagen, ein Leben mit Gott, aber mit einem zürnenden Gott, mit einer Zukunft, aber mit einer Zukunft des Gerichtes.

Augenblicke der Freude, das mag immer sein; Blitze in dunkler Nacht, flüchtige Erhebungen zum Lande des Friedens und des Lichtes, Sonnenstrahlen durch das Gitter des Gefängnisses, das alles gebe ich zu. Aber eine andauernde und beständige Freude, eine unsrer Lebensbestimmung angemessene und entsprechende Freude, eine Freude, welche wirklich einen Teil von uns ausmacht und unser innerstes Leben bildet, eine Freude, über welche die Traurigkeit nur schnell dahinzieht, wie an einem schönen Tage einige durchsichtige, leichte Wolken über das Himmelsblau dahinziehen, meine Brüder, eine solche Freude, ein solches Leben kann allein das Evangelium schaffen, und da dasselbe allein die Bedingungen und die Voraussetzungen dazu in sich schließt, so hat es auch allein das Recht, diese Freude zu gebieten und uns anzuraten.

Wir werden uns heute nur wenig bei den Beweggründen zu solcher Freude aufhalten, welche das Evangelium geschaffen hat. Wir werden euch nicht ausführlich auseinandersetzen, dass diese von dem Erlöser so teuer erkaufte Freude alle Freuden in sich schließt und alle Schmerzen verzehrt und aufhebt. Wir werden auch nicht darauf hinweisen, dass sie außer dem Vorteil, der mit jeder Freude verbunden ist, und den wir bereits am Anfang unsrer Betrachtung angedeutet haben, alle Eigenschaften besitzt, welche den menschlichen Freuden fehlen, und dass sie frei und rein ist von allem, was dieselben verunehrt, da sie heilig, ernst und still ist und ebenso süß und erquickend für die, welche sie betrachten, wie für die, die sie empfinden. Das alles wäre gewiss gleichfalls unsrer Aufmerksamkeit und Betrachtung wert. Aber andre Erwägungen sind es, welche sich uns heute darbieten. Wir haben heute euch nicht zu zeigen, dass die Gewissheit unsrer Versöhnung mit Gott und das Gefühl der Wiederherstellung der inneren Einheit und Harmonie die Freude in unserem Herzen entstehen lässt, sondern wir haben euch zu zeigen, dass das Evangelium, wie es den Christen diese Freude einflößt, so auch das Recht hat, sie ihnen zu gebieten.

Meine Brüder, wir sehen, wie sich die Welt hinsichtlich der praktischen Unterweisungen des Evangeliums in zwei einander entgegengesetzte Irrtümer scheidet. Die Einen möchten, dass das Evangelium alles gesagt hätte. Die Andern sind erstaunt, dass es nicht weniger gesagt hat. Die Einen, welche nicht wissen, was für eine Macht sittlichen Antriebes Gott in die grundlegenden Glaubenslehren des Neuen Bundes hineingelegt hat, halten eine genaue und bis in das Einzelne gehende Aufzählung aller Anwendungen der obersten Lehrsätze für nötig. Sie fordern in gewissem Sinne, dass man ihnen gleichsam die ganze christliche Wahrheit vorbuchstabiere. Die Andern, von der Klarheit und Fruchtbarkeit derjenigen Lehren ergriffen, welche den Ausgangspunkt der christlichen Wahrheit bilden, sind überzeugt, dass, wenn diese Lehren nur lebendig erfasst werden, alles Übrige alsdann von selbst kommen muss, und gewiss würden sie damit Recht haben, wenn man nicht selbst bei dem Christen fort und fort der menschlichen Schwäche und Inkonsequenz Rechnung tragen müsste. „Liebt Gott und dann tut, was ihr wollt!“ Das ist ein herrlicher Ausruf der Dankbarkeit und der Liebe; das ist der lebendige Ausdruck für das wahre Grundgesetz des menschlichen Lebens. Allein die Losung des Menschen ist es nicht, nicht einmal diejenige des Christen. Es ist viel sicherer, ihm zu sagen: „Liebe Gott und dann tue, was Gott will.“ Und das ist es ja eben, was Gott selbst zu ihm gesagt hat, er, der besser weiß, was im Menschen ist, als der Mensch selbst. Und er hat es ja kundgetan, was sein Wille sei. Er hat es dem Christen wie dem natürlichen Menschen kundgetan. Er hat sich nicht damit begnügt, uns auf den rechten Weg zu stellen und uns nun zu sagen: Vorwärts! Er, der der Weg selber ist, ist mit uns gegangen und hat uns geführt und getragen. Zahlreiche Wegweiser und Handreichungen sind uns zu Hilfe gekommen, und obwohl Gott der Herr eine jede Pflicht an ihre lebendige Quelle anknüpft, damit diese Pflicht selbst eine lebendige Sache werde, so hat er dennoch die Pflicht erklärt und empfohlen durch die nächstliegenden Beweggründe. Er hat sich derselben nicht nur bedient im Hinblick auf solche Pflichten, deren Erfüllung im engeren Sinn eine äußere Tat ist, sondern er hat es auch getan im Hinblick auf andere, welche ganz innerlicher Natur sind und sich in der Seele vollziehen. So finden wir also Gottes lenkende und leitende Hand nicht nur dann und wann wieder, sondern bereits bei unserm Ausgangspunkt und schon bei unserm ersten Schritt, und wir sehen, wie er in seiner väterlichen Fürsorge uns dasjenige, was er uns geben will, schon vorher zeigt, und wie er uns dasjenige gebietet, wozu er selbst uns erst die Kraft gibt.

Die Freude ist aber keineswegs nur ein Vorrecht des Christen. Die Freude ist seine Kraft und Stärke, wie ja alle Freude eine Kraft ist. In solches Gartenland hinein hat Gott den neuen Menschen gepflanzt. Dies ist so wahr, dass man ohne Übertreibung sagen könnte: Christ sein heißt fröhlich sein. Aber diese Freude, welche Jesus Christus im Christenherzen entzündet hat, droht der Wind der Traurigkeit immer wieder auszulöschen. Die Nahrung, welche diese Flammen unterhält, muss unaufhörlich erneuert werden. Man darf sich nicht nur auf den ersten Vorrat an Freudenöl verlassen, womit die Lampe gefüllt war. Man muss von Tag zu Tag, von einer Nachtwache zur andern das schon verbrauchte Del ersehen. Man muss die Notwendigkeit erkennen, dieselben Empfindungen, welche uns gegeben worden sind, damit wir leben können, immer in uns zu unterhalten. Man muss mit dem tiefsten Ernst und als eine dringende Mahnung des Herrn diese Worte seines Apostels ins Herz aufnehmen: Seid allezeit fröhlich!

Ich habe gesagt, dass der Wind der Traurigkeit und folglich des Todes beständig die Flamme der Freude bedroht. Ich hätte sagen sollen, meine Brüder, der Wind der Traurigkeiten. Denn die Traurigkeit, welche über die Freude des Christen so oft dahinweht, ist nicht nur von einer einzigen Art.

Da gibt es zuerst die Traurigkeit der Natur. Denn die Natur ist bei dem Christen nicht zerstört. Sie besteht bei ihm noch völlig fort; und obwohl die Hoheit seiner Grundsätze und besonders seiner neuen Liebesempfindungen, welche der Glaube in ihm geweckt hat, ihn über viele Anwandlungen der Schwäche hinaushebt, so bleiben bei ihm doch immer noch genug empfindliche und verwundbare Punkte zurück. Das Privilegium des Christen besteht nicht darin, diese Schwächen zu übersehen, sondern sie zu überwinden. Er leidet ebenso sehr, als ein andrer, ja, vielleicht noch mehr als ein andrer, und es würde nicht schwer sein, den Beweis zu liefern, dass dasjenige, was seine Freude vermehrt, auch seinen Schmerz vermehrt. Das Christentum ist weit davon entfernt, die natürliche Empfindlichkeit zu zerstören. Es übt und entwickelt sie vielmehr. Aber welches auch ihr Grad sein mag, es ist doch immer eine menschliche Empfindlichkeit. Der Christ hat wie ein jeder Mensch das Bedürfnis der Achtung und Zuneigung, und er leidet darunter, wenn er sich derselben beraubt sieht. Wie jeder Mensch hat er Neigungen, Gewohnheiten, denen er nicht zu entsagen vermag, ohne eine beängstigende und tiefe Leere und Öde in seinem Innern zu empfinden. Er steht in natürlichen und geheiligten Verbindungen und Gemeinschaftsverhältnissen, deren Gegenstände ihm der Tod vor der Zeit entreißt, ach! nach seiner Meinung stets vor der Zeit! Er hat Meinungen, Überzeugungen, Hoffnungen, deren Sieg ihm am Herzen liegt und welche er, ohne Bitterkeit, nicht in Schwanken geraten oder unterliegen sehen kann. Was soll ich ferner sagen? er hat einen Körper, dessen Schmerzen so leicht zu Seelenschmerzen werden, eine Gesundheit, deren Störungen so leicht in seinen Augen den Anblick des ganzen Lebens verändern. Es bedarf oft nur einer einzigen dieser Ursachen, um ihn in Traurigkeit zu versenken. Wie erst dann, wenn mehrere sich vereinigen? und fast immer ist es ja so, dass ein Abgrund den andern öffnet. Ich will annehmen, dass alsdann sein Glaube Bestand behalten wird. Allein auf welche Weise? Was ist denn ein Glaube ohne Freude? was ist ein Schiff ohne Segel? Wir wollen uns nicht fürchten, es auszusprechen, meine Brüder: ein Christ muss aus diesen verschiedenen Prüfungen fröhlicher als zuvor herausgehen. Die Prüfungen dieser Zeit müssen ihn auf die Herrlichkeit der zukünftigen Welt hinweisen. Das Dunkel seines Unglücks muss wie das Dunkel der Nacht nur um so heller die Sterne seines Himmels leuchten lassen. Seiner falschen Reichtümer beraubt, muss er mit vollen Händen aus den Schätzen seines himmlischen Vaters schöpfen. Aus seiner Ergebung in Gottes Willen muss er zur vollkommenen inneren Beruhigung sich erheben und seine Seufzer voll Resignation müssen sich in Loblieder voll Dankbarkeit wandeln.

Das ist das Gesetz des Evangeliums und das Gesetz unsrer Natur. Wenn wir schwach sind, dann sind wir stark. Wenn der äußere Mensch verwest, so wird der innere Mensch von Tag zu Tag erneuert. Wo soll denn die Freude ihren Überfluss zeigen, wenn nicht da, wo der Schmerz überschwänglich gewesen ist? Aber während des Kampfes, während dieser wichtigen Entscheidung muss die christliche Freude für die Natur, die zu unterliegen droht, zu Hilfe gerufen werden. Man muss sich, wenn ich so sagen darf, schon zuvor auf die Freude eingeübt haben; man muss sie zu seiner Lebensgewohnheit und zu seiner dauernden Gemütsstimmung gemacht haben; man muss sie jeden Tag aufs neue frisch im Herzen tragen, damit sie in der Stunde der Gefahr nicht zu schwach sei, damit sie nicht vor der Traurigkeit, welche uns zu überwältigen droht, zurückweiche und damit die Traurigkeit nicht als einzige Herrscherin in der Seele zurückbleibe angesichts eines Glaubens, der ebenso kalt ist als sie selbst, eines Glaubens, der nur seufzt und nicht mehr dankt, eines Glaubens, welcher weder Tätigkeit noch Liebe erzeugt.

Darum seid allezeit fröhlich, sagt der Apostel. Eure Freude sei ununterbrochen und beständig. Sie lasse keine Lücke offen, wo die Traurigkeit eindringen könne. Denn die Traurigkeit ist der Tod unter dem Schein des Lebens. Die Freude ist eure tägliche Pflicht, eure erste Pflicht. Sie bindet euch an alle übrigen Pflichten. Sie hütet alle eure Schätze. Seid stets bereit, sie der Traurigkeit der Welt entgegenzustellen, und ich füge sogar hinzu, auch der göttlichen Traurigkeit. Denn hier ist die Gefahr noch größer, weil man sie hier noch weniger vermutet. Warum sollte man auch die göttliche Traurigkeit, von der es in der Schrift heißt, dass sie zur Seligkeit wirkt eine Reue, welche niemand gereut, fürchten? oder warum sie fliehen? Sie fliehen? nein, gewiss nicht; denn das hieße die Sendboten Gottes fliehen. Das, was man fliehen und fürchten muss, ist der Mensch, der Mensch, welcher sich in jedes Gotteswerk einmischt, um es zu entstellen und zu stören. Darum müssen wir, meine Freunde, auch in den heiligsten Schmerzen das darin verborgene Menschliche zu entdecken suchen, welches nicht säumen würde, auch sie zu verderben. Lasst uns zeigen, welche Möglichkeit zu schaden selbst solche heilige Schmerzen dem sündhaften Menschen darbieten, und lasst uns auf diese Weise zu beweisen suchen, dass die beste Traurigkeit durch die beste der Freuden gemäßigt und gemildert werden muss. Nichts ist dem Willen Gottes gemäßer als die Traurigkeit des Christen, wenn er gesündigt hat. Man kann sogar in einem gewissen Sinn sagen, dass dieselbe niemals zu groß sein könne. Die Sünde, welche von Gottes Seiten ein Übermaß von Barmherzigkeit nötig gemacht hat, kann gar wohl von Seiten des Menschen ein Übermaß von Schmerz verdienen. Aber wir können in unsrer Schwäche nicht den ganzen Schmerz ertragen, so gerechtfertigt er auch an sich wäre; wir können nicht, ohne zu Grunde zu gehen, unserm Schmerz uns völlig hingeben; unsre Seele würde selbst schon erschöpft sein, bevor sie all ihr Leid erschöpft hätte. Damit es nicht dahin kommt, muss uns die Freude zu Hilfe kommen und zwar eine solche Freude, wie es die des Evangeliums ist, eine Freude ebenso heilig wie unser Schmerz, eine Freude, die uns ebenso, ja noch weit mehr bessert als unser Schmerz es getan hätte, eine Freude, welche ebenso gut wie die Traurigkeit im Stande ist, in uns zur Seligkeit eine Reue zu wirken, welche niemand gereut.

Ach, ich weiß es wohl, die Trauer über die Sünde wird uns nicht sterben lassen. Andere Schmerzen, nicht diese, sind es, welche töten. Aber ist es nicht genug, dass jene Trauer uns mutlos und niedergeschlagen macht, dass sie uns einen Widerwillen gegen uns selbst erweckt und dass sie uns all unsrer Tatkraft beraubt? In jenen für immer geweihten Stunden, in denen der Heiland in Gethsemane mit dem Tode rang und sein Schweiß wie Blutstropfen zur Erde niederrann, schliefen die Jünger vor Traurigkeit ein, und Jesus, der auch diese Bitterkeit noch erfahren musste, richtete an sie diesen zarten und doch so schmerzlichen Vorwurf: „Wie? könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?“ Aber es kam daher, dass sie traurig waren. Es kam daher, dass keine Freude, nicht einmal die Freude der Liebe ihre müden Glieder und ihren matten Geist aufrecht hielt. Was war denn ihre Trauer? war es die Trauer der Reue? Warfen sie sich, wenn auch vergeblich, ihre geringe Liebe und ihren geringen Eifer vor? Verglichen sie in einer unfruchtbaren Melancholie ihre Selbstsucht mit der Selbstverleugnung ihres Meisters? Waren sie traurig über seinen Tod, den sie nicht zu verhindern vermocht hatten? waren sie traurig über ihre erstorbenen Hoffnungen, welche nun mit ihm in das Grab hinabsteigen sollten? Ich weiß es nicht, und ich brauche es auch nicht zu wissen. Ich sehe nur, dass die Traurigkeit ihre Seelen eingeschläfert hatte. Ich weiß, dass die Trauer über die Sünde dieselben Folgen haben kann, und dass sie, selbst aus der Sünde geboren, auch ihrerseits die Sünde erzeugen kann. Dieser Anblick beunruhigt mich. Ich suche das Heilmittel und unter der Leitung des Apostels suche ich es nicht lange. Ich sage nicht: ihr müsst eurem Schmerz Grenzen ziehen. Denn wo sind diese Grenzen? Ich sage nicht: ihr müsst eurem Schmerz gerechte Grenzen ziehen. Denn im Grunde wäre es gerecht, überhaupt keine zu ziehen. Ich sage mit dem Apostel: überwindet das Böse mit Gutem, die Traurigkeit mit der Freude. Die Freude ist das wahre Heilmittel der Traurigkeit; die Traurigkeit hatte niemals ein anderes und kann niemals ein anderes haben. Man wird immer der Seele, die da weint, eine Veranlassung schaffen müssen, sich zu freuen. Jeder andere Trost ist eitel wie das Nichts.

Wir können diesen Gegenstand nicht verlassen, ohne eine sehr versteckte List des menschlichen Herzens aufgedeckt zu haben. Dasselbe verteidigt nämlich seine Traurigkeit gern oder entschuldigt sie wenigstens als ein Zeichen und Unterpfand der Demut. Allein das ist sie keineswegs immer. Man muss der Ursache der Traurigkeit tiefer nachspüren. Man muss untersuchen, was sie veranlasst. Man muss unterscheiden, ob sie zur Ursache das Bedauern hat, Gott beleidigt, sein Bild entehrt, seinen Geist betrübt zu haben, oder die Beschämung, von der Höhe, zu der man sich erhoben zu haben meinte, herabgefallen und in seiner eigenen Meinung gesunken zu sein. Aber unser Maßstab und unsere Regel ist keineswegs irgend eine Vorstellung von Vollkommenheit, welche wir uns selbst gemacht haben und welche nur ein Ausdruck unseres Stolzes ist; der einzige Maßstab und die einzige Richtschnur ist Gott; der Gegenstand all unsrer Pflichten ist Gott; der Richter all unsrer Handlungen ist Gott, und uns niederwerfen, und wäre es in den Staub und in den Schmutz, aber vor einem anderen als vor ihm, das hieße doch, uns niederwerfen vor einem Götzenbild.

O, welch ein geschickter Sophist ist der Stolz! Um jeden Preis will er uns groß sehen, und wenn es möglich wäre, selbst auf Kosten Gottes. Und da wir sehr wohl wissen, dass wir durch die Sünde nicht groß werden können, so suchen wir eine andere Größe in der Trauer über die Sünde. Eine Größe, welche uns ganz angehört, ist schwer zu finden auf Erden. Weder Reichtum noch Ehren noch Begabung genügen, um unser ganzes Elend zu verhüllen. Alles wohl betrachtet, gibt es eigentlich nur unsre Schmerzen, die uns ganz gehören. Nur unser Elend kann uns nicht abgestritten werden. Nun wohl, so werden wir aus unserm Elend und aus unsern Schmerzen unsre Größe bauen. So werden wir versuchen, uns einzureden, dass wir wenigstens von dieser Seite her etwas wert sind. Wenn dies auch nicht die Wirkung eines ausdrücklichen Entschlusses ist (denn ein absichtlich hervorgerufener Schmerz ist nicht mehr ein Schmerz), so ist es doch ein Mittel, unsrer Traurigkeit zu schmeicheln, ein Beweggrund, um uns mit der Heilung derselben nicht zu beeilen. Wenn der Schmerz oftmals einschläfert, so berauscht er auch bisweilen. Er gibt uns eine geheime Empfindung unsrer Wichtigkeit. Er beschäftigt uns mit uns selbst; er versenkt uns in die Betrachtung von uns selbst und entbindet uns von der Freude, deren Tröstungen uns demütigen.

Denn das ist, o christliche Freude, das ist dein anbetungswürdiger Charakter und das Siegel deiner göttlichen Herkunft. Du tröstest, aber du demütigst zugleich. Du lässt unsre Blicke sich teilen zwischen uns selbst und deiner anbetungswürdigen Quelle. Du weist uns auf eine ganz andre Größe hin als auf die unsre. Je größer du uns die Wohltat erscheinen lässt, welche uns rettet, desto kleiner müssen wir uns selbst erscheinen. Die Güte Gottes, die uns hilft, beugt uns darnieder. Wir sind glücklich, einen so gütigen Gott so groß zu sehen. Wir sind glücklich, uns einem solchen Gott gegenüber als klein zu erkennen. Wir freuen uns, vor einer solchen Liebe gedemütigt dazustehen. Wir freuen uns, die Last unsrer Selbstsucht leichter zu fühlen, weniger mit uns selbst und mehr mit Gott beschäftigt zu sein. Wir loben und preisen Gott, dass wir uns endlich selbst vergessen können, um mehr an ihn zu denken.

Es gibt noch andere Schmerzen, deren Veranlassung eine reinere ist, obwohl die Quelle es nicht eben in höherem Grade ist, wirklich christliche Schmerzen, deren Übermaß aber uns doch misstrauisch machen muss. Deren Übermaß? habe ich gesagt; nein, das sagt noch nicht genug. Wir müssen diese Schmerzen selbst misstrauisch ansehen, oder wenigstens das, was sich mit hineinmischen kann und sich nur allzu oft wirklich mit hineinmischt. Ich will mich noch deutlicher erklären.

Du bist ein Christ. Du musst auf Grund der Gnade, die dich zu einem Christen gemacht hat, in einer gewissen Gemeinschaft stehen mit dem, dessen Augen allzu rein sind, um das Böse zu sehen. Du aber siehst dies Böse, wie es in der Welt so weit verbreitet ist, wie es unter deinen Augen alles überschwemmt, wie es seinen unreinen Schaum bis unter deine Füße schleudert, und du weinst darüber. Die Feindschaft der Welt nimmt mehr und mehr zu. Sie wird immer leidenschaftlicher. Von Worten geht sie zu Taten über. Die hässlichsten Vorkommnisse in deiner Umgebung lassen sie offen zu Tage treten. Du siehst dies alles und du weinst immer bitterlicher. Und damit noch nicht genug. Die Christen selbst machen sich zu Feinden des Christentums. Ihre Lebensführung entehrt dasselbe. Ihre Streitigkeiten machen einen Schauplatz von Ärgernissen und einen Gegenstand des Gelächters daraus. Die Torheit des Kreuzes, welche allmächtig ist, macht ihrer eigenen Torheit Platz, welche die Ohnmacht selber ist. Du siehst alle diese Dinge und du hast nicht genug Tränen mehr. Denn das Übel kommt ja gerade daher, wo sich das Heilmittel finden sollte, und der Schmerz entspringt aus den Quellen des Trostes.

Gewiss, wehe dem, der sich einen Christen nennt und darüber nicht an seine Brust schlagen wollte! Aber überwache deinen Schmerz. Kaum ist er in deinen Tränen zu Tage getreten, so erblicke ich schon die Quelle dieser Tränen vom Feind vergiftet. Woraus sind denn deine Tränen hervorgegangen? aus dem Schmerz oder aus dem Zorn? ach, darauf kommt es ja an. Worüber weinst du denn? über die Gefahren der Wahrheit oder über die Niederlage einer Partei? mit was für einem Blick betrachtest du diejenigen, die dich kränken? mit dem Blick des Mitleids oder des Hasses? seht ihr denn nicht, o ihr armen Christen, dass sich eure Blicke selbst getrübt haben, indem sie sich auf getrübte und entstellte Bilder hefteten? und dass sie euch selbst einen Teil des Übels, über welches ihr seufzt, mitgeteilt und angeeignet haben? Denn nichts ist verderblicher als der Stolz, nichts ist schlimmer als der Hass.

Aber, so wird man sagen, wenn das die Wirkungen der Traurigkeit sind, warum wird sie uns dann geboten und anbefohlen? warum? um uns zur Freude zu führen, zu welcher sie der einzige Weg ist. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. So spricht der Heiland und zeigt uns damit, dass man zum Glück nur durch Tränen kommt und dass die wahre Seligkeit nicht darin besteht, überhaupt nicht zu weinen, sondern getröstet zu werden, wie ja auch das wahre Unglück nicht darin besteht, zu weinen, sondern keinen Trost zu finden. Aber wie dürften wir auch hiernach zweifeln, dass dieser Trost ein vortrefflicher sei, dass er eine Freude, ja, die vollkommenste aller Freuden sei? wie dürften wir zweifeln, dass er der wahre Name für unser wahres höchstes Wohl sei und dass er alles in sich schließe, was wir an wahrem Glück bedürfen? wie dürften wir zweifeln, dass er der Zweck unseres ganzen Daseins sein müsse und dass, wenn das Christentum der Traurigkeit etliche Augenblicke einräumt, es unser ganzes Leben der Freude widmet? Alle diese Wahrheiten gehen aus jener Seligpreisung unseres Herrn hervor, aber mit einer noch viel größeren Überzeugungskraft aus der Natur der Freude selbst, die er uns gebracht hat. Denn diese Freude ist diejenige der Sündenvergebung; es ist die, uns auf ewig mit dem Quell unsres Lebens und mit dem höchsten Gut vereint zu wissen; es ist die, uns zu gleicher Zeit von den Fesseln der Sterblichkeit und von den Fesseln der Sünde befreit zu sehen; es ist die, einen Vorschmack der Heiligkeit zu haben, Gott zu lieben und in ihm das ganze Weltall; es ist diejenige, mit dem zärtlichen Vaternamen den zu nennen, welchen aller Himmel Himmel nicht fassen können und welcher es selbst in seinem Wort und im Lauf seiner Weltregierung bezeugt hat, dass er ein verzehrendes Feuer ist und dass kein Mensch vor ihm bestehen kann; es ist die, zu erkennen, dass nichts uns jemals aus seiner Hand reißen könne und dass, mag kommen, was wolle, mögen die Himmel untergehen und die ganze Schöpfung einen Schrei des Schreckens und des Todes ausstoßen, seine Güte gegen uns ewiglich bleibt. Sie bleibt ewig, und unsre Freude sollte nicht bleiben? und wir sollten nicht beständig fröhlich sein? und wir sollten für eine Güte, die sich nie erschöpft und sich nie vermindert, nur kurze Augenblicke der Dankbarkeit haben, welche durch lange Zeiten der Undankbarkeit von einander getrennt sind? Denn kann man wohl eine Dankbarkeit ohne Freude verstehen? und ist die Traurigkeit nicht im Grunde Undankbarkeit? Fern sei es von mir, aus einer Gnadengabe des Evangeliums eine Frucht des Temperamentes zu machen und der christlichen Freude eine bestimmte Physiognomie und bestimmte Charakterzüge aufzuzwingen. Wir wollen es dem Temperament, den Umständen zugestehen, dass sie den Glanz dieser Freude immerhin etwas abschwächen. Aber das können wir ihnen nicht zugestehen, dass sie dieselbe völlig auslöschen. Wohl kann der Glaube ohne laute Ausbrüche der Heiterkeit sein. Aber ein Glaube ohne Freude ist kein Glaube. Was bleibt ihm denn ohne diesen Charakterzug? Er hat alsdann sein eigentliches Wesen verloren. Stellt euch nur, wenn ihr es vermögt, einen Gläubigen vor mit trübsinnigem Herzen, mit niedergeschlagener Seele, einen Gläubigen, der sich mühsam durch den Glauben bis zum Throne des Lammes hinschleppt und der die Worte stammelt: „O Lamm Gottes, du mein Sühnopfer und mein Gott, deine Liebe hat die Feinde meiner Seele überwunden; deine Tränen und dein Blut sind für mein Leben geflossen und haben es der Macht der Finsternis entrissen. Du hast mir den freien Zugang zu Gott erschlossen; du hast mich mit deinem Vater versöhnt, mit der ganzen Natur, mit mir selbst. Du hast mir in dem Himmel eine Ewigkeit von Glück und Wonne zugesichert; du hast mir schon hienieden durch deinen heiligen Geist die Unterpfänder meines Heils gegeben. Ich glaube an dich, o Herr; ich bete dich an, o mein Meister; ich liebe dich, o mein Heiland, aber ich kann mich doch nicht darüber freuen, was du an mir getan hast; meine Freude kommt meinen Schmerzen nicht gleich, meine Freude versinkt in dem Abgrund meiner Traurigkeit. Sie hat nicht die Übermacht. Es lebt nichts von ihr in meinem Herzen, und es scheint, als hätte ich mich nicht darum von deinen Armen umfangen lassen, um an deinem Herzen zu erwachen, sondern um noch in einen tieferen Schlaf zu versinken.“

Der Widerspruch, der in solchen Worten liegt, ist so stark, dass eine solche Sprache, ein solcher Zustand als unmöglich erscheinen muss; aber wenn er unmöglich wäre, worauf würde dann diese ganze Rede hinzielen? wozu würden all die in der heiligen Schrift so häufig sich findenden Aufforderungen zur Freude dienen? Man kann in der Tat Glauben besitzen und zwar einen aufrichtigen Glauben und doch nicht die ganze aus dem Glauben hervorgehende Freude haben. Man kann, wenn man nicht über diesen Schatz wacht, ihn allmählich durch die Schmerzen der Welt und durch die christliche Traurigkeit geplündert und immer kleiner werden sehen. Das Schwergewicht des natürlichen Menschen, seiner Selbstsucht und seines Stolzes zieht uns unaufhörlich nach den dunklen Abgründen der Traurigkeit. Um nach dem feierlichen Ausdruck der alten Kirche „die Herzen in die Höhe zu heben“, muss man zuvor die Augen in die Höhe gehoben haben. Der christliche Glaube, welcher in der Erkenntnis des Elendes und der Sünde wie in einer schmerzensreichen Wiege beginnt, darf nur so lange darin verweilen, als nötig ist, um seinen Aufschwung mit doppelter Kraft zu dem zu nehmen, welcher sein Haupt und sein Vollender ist. Selbst zum Zweck frommer Demütigung darf der Mensch nicht allzu anhaltend mit sich allein bleiben und auf sich allein beschränkt sein. Nicht wenn er sich selbst anschaut, sondern wenn er den Heiland anschaut, wird er ihm ähnlich. Die Sicherheit, die Kraft, das Heil besteht in dem Anblick der Sonne der Gerechtigkeit, welche in ihren Strahlen die Gesundheit bringt. Darum die Augen in die Höhe, ihr Jünger Jesu Christi! Stellt allen Übeln der Natur, allen traurigen Stimmungen der Seele, aller Niedergeschlagenheit des Gewissens die unaussprechliche Schönheit der ewigen Güter entgegen! Damit mögen sich eure Blicke völlig durchdringen, dass sie schließlich nichts anderes mehr sehen wollen. Erfüllt eure Gedanken und Gespräche beständig mit dem Gott des Neuen Bundes. Betrachtet in ihm gern alle die Züge, deren Anblick der Seele mit der Demut die Freude und mit der Freude die Demut bringt. Betrachtet beständig sein Erbarmen, welches euch in der Tiefe des Elendes aufgesucht hat und welches euch festumschlungen hält, seine Treue, die euch die Fortdauer seiner Liebe und die Beständigkeit seiner Verheißungen zusichert, seine unbegrenzte Macht, welche völlig im Dienst einer unbegrenzten Güte steht, seine Ewigkeit, welche allen Absichten seines Erbarmens, allen Zusagen seiner Treue, allen Entwicklungen seiner Macht eine unbegrenzte Bahn erschließt. Sagt es euch, dass dieser völlig gute, dieser durchaus treue, dieser allmächtige Gott euer Vater ist, dass er euch mehr liebt als ein Vater, und dass eure irdischen Eltern euch hundertmal eher verlassen können, als dass euer himmlischer Vater euch verlässt; kurz, lebt im beständigen Umgang mit dem Gedanken an diesen Gott, zu dessen Rechten es für immer völlig befriedigende Freuden gibt, und ihr werdet es erfahren, dass schon in dem Gedanken an ihn eine befriedigende Freude liegt, dass schon ihn zu betrachten süß ist, wie seine Gegenwart, dass ihn zu betrachten schon heißt ihn besitzen und dass selbst im Himmel derjenige ihn am völligsten besitzen wird, der ihn am innigsten betrachten wird. Ja, das müsst ihr tun, meine Brüder. Versteht das Wort des Apostels buchstäblich, macht euch die heilige Freude des Christen zu einer wirklichen und beständigen Lebenspflicht, und euer Glaube, eure Dankbarkeit, euer Gehorsam werden durch euer Glück behütet und beschützt werden,

wie süß ist es, eine Freude zu besitzen, von welcher es schon so süß ist, zu sprechen! o wie peinlich ist es, sich so tief unter seinen eignen Worten und Gedanken stehend zu fühlen! wer wird in unser Herz alles das hineinpflanzen, was wir auf unsern Lippen und in unsern Gedanken haben? wer wird uns die Freude verleihen, deren Herrlichkeit und Schönheit wir rühmen? wer wird uns ebenso empfänglich, ja, noch empfänglicher machen für die Regungen dieser Freude als wir es von Natur für die Regungen der Traurigkeit sind? Wer wird in unserm Herzen jene krankhafte Reizbarkeit ertöten und in uns jenen göttlichen Sinn erwecken, durch den wir den Eindruck der himmlischen Welt empfangen? Gott der Freude und des Glücks, du allein vermagst es, du allein bist stark genug gegen unsre gottwidrige Traurigkeit. So komm und befreie uns von dieser Traurigkeit, welche uns auch noch an diese Welt fesselt. Mache unsre Seele fröhlich in dir! Offenbare dich in dem ganzen Glanz deiner Güte an allen Orten des Universums und in allen Augenblicken des Lebens. Stelle dich selbst, o höchste Güte, zwischen alle Gegenstände und unsre Blicke. Unsre Augen müssen dir überall begegnen; alles muss uns von deiner Liebe und von unsern Hoffnungen sprechen; alles muss sich in Verheißungen und in Segen wandeln, und auch unsre Stimme, o Gott unser Heiland, soll sich dem allgemeinen Lobpreis beimischen, soll dich auch ihrerseits rühmen und preisen und um uns her die Freude und die Dankbarkeit verbreiten, welche du in unsern Herzen entzünden wirst. Amen.

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autoren/v/vinet/vinet_freude.txt · Zuletzt geändert: von aj
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