Thomas von Kempen - Buch 3 - Kapitel 32
Von der Selbstverleugnung und der Entsagung aller Begierden.
1. Sohn! du kannst die vollkommene Freiheit nimmer besitzen, wofern du dich selbst nicht gänzlich verläugnest.
Fesseln tragen alle Eigenliebigen und Selbstgefälligen, alle Lustgierigen und Neugierigen, die umherschweifen und das, was den Sinnen schmeichelt, aufsuchen, nicht aber das, was Jesu Christi ist; die gewöhnlich nur auf das denken und sinnen, was nicht bestehen wird. – Denn untergehen wird Alles, was nicht aus Gott ist. Halte fest das kurze, aber Alles umfassende Wort: Laß Alles, so findest du Alles! Reiß die Begierde aus, so wirst du Ruhe finden!
Dieß erwäge im Herzen und wenn du es erfüllt hast, wirst du Alles verstehen.
2. Herr! das ist nicht das Werk eines Tages und kein Kinderspiel; ja, in diesem kurzen Worte liegt die Vollkommenheit aller Frommen eingeschlossen.
Sohn, das soll dich nicht abschrecken, noch gleich verzagt machen, wenn du von dem Wege der Vollkommenheit hörest; das soll dich vielmehr spornen, nach dem Höheren zu trachten oder wenigstens ein herzliches Verlangen darnach zu haben.
O möchte es doch so mit dir stehen, und möchtest du dahin gelangt sein, daß du keine Eigenliebe mehr hättest, sondern auf meinen und des Vaters Wink, den ich dir vor Augen gestellt habe, ausschließlich achtest; dann würdest du mir wohlgefallen und dein ganzes Leben würde in Freude und Friede dahin gehen!
Noch hast du Vieles zu verlassen, und wenn du auf dieses, mir zu lieb, nicht ganz Verzicht leistest, so wirst du nie erlangen, was du begehrst.
Ich rathe dir, damit du reich werdest, von mir im Feuer bewährtes Gold zu kaufen, das ist, himmlische Weisheit, neben der alles Irdische Koth ist.
Laß fahren die irdische Weisheit, Menschengunst und Selbstgefälligkeit.
3. Ich sagte, du solltest anstatt dessen, was Menschen hoch und theuer schätzen, das kaufen, was sie gering achten.
Denn sehr gering und klein und fast vergessen scheint die wahre himmlische Weisheit, die nicht hoch von sich denkt, noch ihren Ruhm auf Erden sucht; die zwar Viele mit dem Munde rühmen, von der sie aber in ihrem Leben abweichen; gleichwohl ist sie eine köstliche, Vielen verborgene Perle.