Tholuck, August - 1. Thess. 5, 17 "Was ist der Grund, daß so wenig unter uns gebetet wird?"
Bedenkt man, meine Freunde, wie außerordentlich reich die Verheißungen sind, welche die Schrift an das Gebet knüpft, wie die Ertheilung aller Gaben und Gnaden Gottes davon abhängig gemacht wird, und achtet man alsdann darauf, wie außerordentlich wenig in unserer Zeit gebetet wird, wie über manchem Hause in der Christenheit die Sonne auf- und wieder niedergeht, ohne daß ein einziges Gebet zum Himmel steigt: so ist man wohl zu dem Schlusse genöthigt, daß darum so wenig unter uns christlich geglaubt, geliebt und gehofft werde, weil so wenig christlich gebetet wird. Wie das in früheren Zeiten so anders war! Von einem Luther - und was für Arbeiten auf dessen Schultern lasteten, wißt ihr - erzählt uns einer seiner Freunde, daß er drei der schönsten Tagesstunden alle Tage aufs Gebet und den Umgang mit Gott verwendet habe. Ihr zukünftigen Prediger, wie viel Zeit von jedem eurer Tage gehört Gott und dem Gebet an? - Und wie so dringend die Ermahnungen der Schrift zum Gebet sind! Da ruft das eine Mal der Heiland: „Wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet!“ das andere Mal: „So seid nun allezeit wacker und betet!“ und wiederum: „daß man allezeit beten, und nicht laß werden solle!“ Da ruft Paulus: „Betet stets in allem Anliegen mit Bitten und Flehen im Geist!“ und abermals: „Betet ohne Unterlaß!“ - Ja, „betet ohne Unterlaß!“ - Dies Wort des Apostels, welches er 1 Thessal. 5, 17. ausspricht, möchte ein Prediger jetzt ohne Unterlaß in die ganze Welt hineinpredigen, in jedes Haus in seiner Gemeinde hineinpredigen, in jedes Herz in seiner Versammlung hineinpredigen. Ich will es versuchen, ob Gott es mir giebt, daß ich es heut in die Herzen Etlicher von euch hineinpredigen kann. Eben von diesem Worte soll nämlich unsere Predigt ausgehn, und zwar wollen wir, indem wir sehen, wie, im Widerspruche mit dem apostolischen Worte, statt ohne Unterlaß, nur so gar wenig unter uns gebetet wird, jener dringenden Ermahnung des Apostels gegenüber uns die Frage vorlegen: Was ist der Grund, daß nur so wenig unter uns gebetet wird?
Ich sage: was ist der Grund, daß unter uns nur sowenig gebetet wird? Einen Grund nämlich des mangelnden Gebets giebt es, der zu allen Zeiten derselbe bleibt, und über den daher auch wir zu seufzen haben werden: das ist die Trägheit des Fleisches, die wie ein Gewicht die Seele zum Staube zieht, wenn sie die Schwingen des Gebetes entfalten, und zum Himmel fliegen will. Warum aber in unserer Zeit des Gebetes so wenig geworden ist, davon ist der Grund noch ganz besonders zu suchen erstens in einem Mißverstande, und zweitens im Zweifel.
Ich sage, der Grund, warum so wenig unter uns gebetet wird, ist erstens zu suchen in einem Mißverstande. Was heißt beten? - Zweierlei Mißverständnisse treten uns hier entgegen, von denen das eine einer frühern Zeit angehört, aber auch jetzt noch nicht ausgestorben ist, das andere der gegenwärtigen Zeit angehört, aber auch in der frühern nicht gefehlt hat. Es gab eine Zeit in der christlichen Kirche, wo bei der Masse des Volks beten Nicht viel anders hieß, als eine bestimmte Vorschrift von Formeln mit den Lippen aussprechen. „Wenn ihr betet, hatte der Heiland gesagt, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden!“ - Und gerade in die christliche Kirche selbst ist dieses äußerliche Werk des Gebetes als ein Gesetz eingeführt worden. Hundert und fünfzig Mal haben die irregeleiteten Seelen am Rosenkranze ihr Ave Maria, und fünfzehn Mal hinter einander jenes Vater-Unser hergeplappert, von dem eine einzige Bitte hinreicht, um zu einem stundenlangen Gebete sich auszudehnen. Solch' äußerliches Werk des Gebets ist mehr und mehr in unserer Kirche im Verschwinden begriffen; zum Wenigsten wissen es die Leute, daß das nur beten heißt, aber nicht ist. - Ein anderes Mißverständniß ist das, von dem wir zu reden haben; das Mißverständnis, nach welchem alles Gebet ausschließlich soll ein inneres Werk seyn, nach welchem man schon jeglichen Gedanken, der auf göttliche Dinge gerichtet ist, Gebet nennen will. Auch dieses, meine Freunde, ist ein Mißverständniß, und unter Umständen nicht minder gefährlicher Art, als das vorher erwähnte. - Das Gebet ist seiner innersten Natur nach eine Anrede an Gott. Der, welcher Himmel und Erde erschaffen hat, der ist ein Du, der ist eine Person, die du anreden kannst. Das ist der erste Artikel im christlichen Glauben, wo du sagst: „Ich glaube an Gott, allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde.“ Freilich ist's keine menschliche Person, mit Fleisch und Blut umkleidet, die äußerlich dir entgegentreten könnte. Auch ist dein Gott nicht bloß ein Geist, der außer und über allen Geistern stünde, die er erschaffen hat. Gott ist der Geist, dessen Odem in allen geschaffenen Geistern weht; er ist der Geist unsers Geistes. Darum ist denn auch freilich für sein Ohr kein lautes Wort nothwendig, damit er höre. Sterblicher! Er ist der Geist, der in deinem eigenen Geiste dir zuhört, wenn du betest; ja noch ehe dein Gedanke selber zum Worte geworden, ehe denn der Lichtstrahl des innersten Gefühls sich in die farbige Mannichfaltigkeit der Sprachen gebrochen hat, hat er dich verstanden! Denn Gott verstehet den Menschen ohne Sprache. „Der, welcher die Herzen durchforschet, sagt die Schrift, der weiß, was des Geistes Sinn sei.“ Um seinetwillen brauchst du also gewiß nicht mit lauten Worten zu beten. Daß wir aber laut beten müssen, damit verhält es sich, wie mit jedweder andern Regung des Herzens: leise und ungehört erwacht der Funke der Freude und des Schmerzes im Menschenherzen; aber laß den Sturm des Lebens stärker darauf blasen, und er wird zur Flamme, die ausbrechen muß. Die starke Freude und der starke Schmerz ist stumm, aber die stärkere Freude und der stärkere Schmerz wird laut. Wiederum giebt es einen Grad der Freude und des Schmerzes, wo der lauteste auf's Neue in Schweigen untergeht. Laut hat vielleicht die Klagestimme gerufen, als ängstlich die sterbende Brust des Familienvaters röchelte; - die Lebensflamme erlosch - die röchelnde Brust verstummte, und neben ihr auch der laute Klageruf, und nur mit schweigender Lippe steht die Gattin neben dem Herzen, das ausgeklungen hat. - So geht's auch bei den Gebeten der tiefsten Art, von denen Paulus Römer 8, 26. redet, wo er von den „unaussprechlichen Seufzern“ spricht. Sehet ihr den Heiland, der im Garten von Gethsemane angekommen? - die Jünger läßt er in der Entfernung eines Steinwurfes zurück - und schweigend beginnt er zu beten im blassen Mondenlicht. Es hebt sich die Brust: „Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch vorüber!“ So schallt's laut in die stille Nacht hinein. Dann wird's wieder still, und - schweigend betet er in jenem Tempel fort, wo allein Gottes Ohr zuhört. -
So ist denn also das Gebet ein Tempel, und hat gleichsam ein Allerheiligstes, ein Heiliges und einen Vorhof. Ihr, bei denen das Gebet niemals laute Worte gewann, ihr stehet nur im Vorhofe des Gebetes. Es ist aber auch zu fürchten, daß selbst, was ihr stilles Gebet nennt, überhaupt kein Gebet gewesen sei. Ist das, was du dein stilles Beten nennst, stets nur eine fromme Betrachtung gewesen, ist es niemals aufgeflammt in Anrede an den Lebendigen, o Bruder, so hast du überhaupt noch nicht die Natur des Gebetes erkannt, denn das ist ja eben, was das Gebet von der bloßen frommen Betrachtung unterscheidet, daß im Gebet der angeredete Gott auch eine Gestalt für den Menschen gewinnt, und vor die Seele hintritt, und ihr so menschlich nahe kommt. Ihr, die ihr das Gebet ebensowohl, als die fromme Betrachtung kennt, legt Zeugniß ab, ob auch bei den schönsten eurer Betrachtungen der Ewige euch so innerlich nahe geworden sei, wie beim Gebet? Und warum willst du deinen Gott nicht anreden? Giebt es kein göttliches Du für dich? Aber auch wenn wir uns zur Schrift wenden: haben die heiligen Männer Gottes jemals unter Gebet etwas Anderes verstanden, als die laute oder stille Anrede an Gott? - Es kommt fern„ noch Eines dazu. Wie selten vermag es der Mensch, jene frommen, stillen Betrachtungen lange festzuhalten! Wie oft ist das, was ihr so nennet, nur ein träumerisches Sinnen und Ahnen, wo ihr weder des Gegenstandes eures Bedürfnisses, noch auch des Gebers euch klar bewußt werdet - eine Rauchsäule, aus der keine Flamme steigt. Erst derjenige, welcher das laute Gebet übt und kennt, und für den im lauten Gebet sein Gott wirklich eine lebendige Gestalt gewonnen hat: erst für diesen ist es eine freudige, zum Himmel schlagende Opferflamme, erst bei dem wird dann auch jenes stille, innerliche Gebet, von dem der Apostel sagt, daß es ohne Unterlaß geschehen solle, die rechte Beschaffenheit erhalten. Allerdings nämlich weiset uns der Apostel durch jene Aufforderung, ohne Unterlaß zu beten, vorzugsweise auf dieses stille, innere Gebet hin. Wollt ihr es euch klar machen, wie es mit diesem fortwährenden innerlichen Gebet des Christen beschaffen sei, so stellt euch nur vor, wie euch zu Muthe ist, wenn euch ein theurer Anverwandter starb. Klinget nicht da eine ganze Zeit lang sein Gedächtniß in eurem Innern fort, ohne daß es in bestimmten Gedanken hervortritt? Ein solches tief innerliches Klingen der Saiten des Herzens ist es nun auch, das mit diesem innerlichen Gebete gemeint ist, und da der, auf welchen es sich bezieht, der Urquell aller guten Gaben ist, so ist diese Stimmung auch fortwährend eine bittende oder dankende. Es ist dasselbige durch das ganze Leben des Christen still fortklingende Gebet, welches der Apostel meint, wenn er auffordert: „Singet und spielet dem Herrn in euren Herzen!“ Vernehmt ihr es wohl? In den Herzen soll der Gesang tönen und schallen, das ist: im Innern soll er uns begleiten.
Doch laßt die zweite Quelle uns untersuchen, warum des Betens nur so wenig unter uns ist. Es ist der Zweifel an der Kraft des Gebetes. Ich rede hier nicht von jenen Frevelhaften, welchen der erhabenste Anblick unter den Menschen - die Seele, die zu ihrem Gotte betet - ein Gegenstand des Spottes ist. Gott sei gepriesen, daß, wenn auch die nicht selten wären, die solches denken, doch wenigstens die selten sind, die solches sagen. Ich rede nur von jenem Zweifel, für welchen das Gebet allerdings eine Kraft, aber bloß eine Kraft auf Erden, und nicht im Himmel ist. Ich meine jene Ansicht, nach welcher das Gebet keine andere Frucht haben soll, als die, das Bewußtseyn unseres Verhältnisses zu Gott zu beleben, und insofern unsern Glauben und unsere Frömmigkeit zu stärken. Diese Ansicht ist weit verbreitet, und eine andere hängt nothwendig damit zusammen, daß nämlich auch kein anderes Gebet Erhörung finden soll, als das um geistliche Dinge. Und das ist natürlich, denn hat das Gebet keine andere Frucht, als die Belebung unseres eignen Glaubens, so giebt's ja auch keine anderen Erhörungen des Gebetes, als die wir uns selbst bewürfen. Dann giebt es keine Macht des Gebetes, die über uns in das väterliche Herz jenseit der Wolken hineingreift. Gläubige, nur Eines Blickes bedarf es in die biblische Geschichte und in die Geschichte der christlichen Kirche, um euch zunächst zu überzeugen, daß dieses das Gebet nicht ist, welches den kühnsten aller Beter Schwingen anlegte. Das ist nicht das Gebet der frommen Mutter des Augustinus gewesen, als sie so heiße Thränen um die Bekehrung ihres Sohnes vor Gott weinte, daß der Bischof Ambrosius zu ihr sagen konnte: „Weib! der Sohn so vieler Thränen kann nicht verloren gehen.“ Das ist nicht das Gebet Luthers gewesen, als er für seinen schwer erkrankten Philippus zum Himmel schrie: „Herr, gieb der Kirche deinen Philippus wieder, ein so schönes Organon darf der Teufel nicht verderben.“ Das ist nicht das Gebet des sel. August Hermann Franse gewesen, als er einst in seiner Jugendzeit, wo der Glaub“ an Gott selbst ihm geschwunden war, zum Himmel schrie: „Gott, wenn du bist, so offenbare dich mir!“ - Freunde, laßt uns Gott zuvörderst dafür preisen: es steht eine Bitte in dem Gebet, das der Herr selber uns gelehrt hat, die heißt: Unser tägliches Brot gieb uns heutet Das ist der feste Grund, darauf wir uns stützen, wenn wir in irdischer Noth zu Gott schreien; denn sollte er den Schrei nach Brot uns in den Mund gelegt haben, ohne daß er darauf antwortete? Sollte er mit dem schönen Gleichnisse von dem Vater, der dem Kinde, das um Brot bittet, keinen Stein giebt, uns gelockt haben, ihn um Brot zu bitten, und unsere Bitte nicht hören können? - Aber weiter, lieben Freunde, könnte euch denn auch das Gebet um geistliches Gut wahrhaft erquickend bleiben, wenn ihr, während ihr betet, glauben müßtet, daß ihr nur vor eure„ eignen Ohre gebetet habt? O gewiß, jeder Segen des Gebetes ist hin, wenn dir mitten im Ergusse deiner Seele der Gedanke einfällt, daß du die Erhörung dir selbst geben mußt. Aber, Brüder, ich weiß wohl, welcher Gedanke euch quält, welcher Zweifel euch drückt. Es ist der: ob denn nun alle die kleinen Seufzer, die ihr ausschüttet, den ewigen Gotteswillen bestimmen, ob denn eure Gebete Himmel und Erde regieren sollen? Zuvörderst nun, meine Lieben: gesetzt, ihr hättet keine Antwort auf diese Frage, gesetzt, ihr könntet die Größe der Verheißung: „Alles, was ihr bitten werdet in meinem Namen, im Glauben, soll euch widerfahren“ nicht begreifen; wollt ihr diese trostreiche Verheißung bloß darum, weil euer Geist ihre Größe nicht umspannen kann, euch wieder aus den Händen winden lassen? -
Aber, Geliebte, glaubet ihr nicht mit der Schrift an einen Heilsplan Gottes, in welchem jeder Gedanke und jeder Pulsschlag seiner Kinder vorherversehen ist? Glaubet ihr daran, daß alle eure freien Handlungen und Entschlüsse von göttlicher Hand mit eingeordnet sind in die unermeßliche Ordnung der Welt: warum soll jene Weisheit nicht auch alle eure Seufzer und alle eure Gebete mit aufgenommen, und die Ereignisse eures Lebens mit Beziehung darauf geordnet haben? Die Schwierigkeit für euren denkenden Geist, welche euch hier entgegentritt, ist in der That keine andere, als die, welche es uns schwierig macht, überhaupt freies menschliches Thun mit göttlichem Vorherwissen zu vereinigen.
Doch warum, fraget ihr, soll denn nur an die Bedingung des Stammelns meiner Gebete die ewige Liebe sich gebunden haben? warum soll sie gerade davon abhängig machen die Fülle ihrer Gaben? Kann ich ihn nicht als Fin Kind lieben, ohne zu beten? Nein, meine Geliebten, das ist es eben, daß jedes wahrhaft kindliche Verhältnis) zu Gott auch nothwendigerweise im Gebet offenbar werden muß. Oder wäre das in menschlichen Verhältnissen ein wahrhaft kindliches Kind, das mit seinen Sorgen und seinen Nöthen neben der Mutter hinginge, ohne ihr davon zu sagen? Wohl weiß die Kindesseele: die Mutter sorgt, die Mutter ängstet sich. Aber kann darum das Kind aufhören, das Herz vor der Mutter auszuschütten? Liegt nicht in diesem Ausschütten selbst ein Himmel der Seligkeit?
Also, meine Geliebten, auch die kindliche Seele im Verhältnisse zu Gott; in ihrer Freude und in ihrem Leide wird ihr nur wohl wenn sie sich ausschütten kann vor Gott. Und so muß denn auch die ewige Liebe den Segen ihrer Gaben davon abhängig machen, ob wir uns als rechte Kinder gegen sie zeigen.
Es ist aber noch ein anderer, die Gebete in unserer Zeit hemmender Zweifel, verwandt mit dem erwähnten, über den ich noch ein Wort zu euch reden muß. Weil das Gebet für euch nicht eine Macht ist, die in den Himmel an das väterliche Herz Gottes reicht, weil ihr es nur als eine Macht kennt, durch welche der Mensch selbstthätig seine Frömmigkeit steigert, so zweifelt ihr auch daran, ob ihr beten dürft, wenn es nicht schon im Herzen glüht. Ihr wollt von keinem Gebet wissen, wenn es nicht eine Flamme ist, die sich Luft macht, ein Strom, der durch die Schranken bricht. Ihr harret auf die Stunden, wo die Wellen des Gebets unüberwindlich an das Ufer der Brust anschlagen werden. Ein Tag nach dem andern geht hin - jene ersehnte Stunde kommt nicht, und ihr werdet immer kälter. Ich weiß es, daß ich hiermit die Geschichte des innern Lebens so Manches unter euch beschrieben habe. Und allerdings, meine Brüder, die wahre Herrlichkeit des Gebets wird nur in jenem Gebete klar, das nicht du treibst, sondern von dem du getrieben wirst. Aber erinnert ihr euch nicht jenes Gebetes des weinenden Vaters: „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ erinnert ihr euch nicht des Gebets der Apostel: „Herr, vermehre unfern Glauben!“? Ihr glaubet daran, daß da droben der Quell aller guten und aller vollkommnen Gabe ist, ihr glaubet an das kindlich lockende Wort des Herrn: „So ihr, die ihr arg seid, wisset euren Kindern gute Gaben zu geben, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten;“ ihr wagt aber nicht zu beten, weil - ihr kein warmes Herz habt. Aber, lieber Bruder, giebt es eine schönere und vollkommnere Gabe, als ein liebewarmes Herz? Und wenn du alle andere Gabe von ihm erbittest, willst du nicht auch diese von ihm erbitten? Du sprichst: wie? wenn nun aber nur meine Lippen beten, soll ich als ein Heuchler hintreten vor meinen Gott? Lieber Bruder, ich frage nur das Eine: Ist es dein wahrhafter Ernst, möchtest du gern ein warmes Herz haben? Kannst du die Frage in Wahrheit bejahen, ach Bruder, dann beten wahrlich nicht bloß deine Lippen, dann betet die Sehnsucht deines Herzens mit. Dann ist ja auch der Funke schon in deinem Herzen, und Gottes Gnade braucht ihn nur zur Flamme anzufachen. Ich erwähnte vor euch jenes Gebetes Aug. Herrmann Francke's, welches er in seiner Jugendzeit in der Stunde der Anfechtung that, wo er rief: „Gott, wenn du bist, so offenbare dich mir!“ - wahrlich Brüder, der Gott, den er einst in diesem Gebete ergreifen wollte, von dem war er schon ergriffen, als er es sprach; es war der Gottesfunke da im Herzen, der nur zur Flamme werden wollte. O so zweifle denn auch du nicht, mein schüchterner Bruder! Jeder einzelne Seufzer nach einem warmen Herzen, das ist schon der Vorläufer des großen Königes, der den Einzug bei dir halten will. Es ist wahr, theure Erlösete, unser Herz, unser Geist soll nicht matt seyn, er soll brennen, und nicht bloß beim Gebet soll er brennen: „Seid brünstig, d. h. brennend im Geist,“ ruft Paulus Rom. 12, 11. den Christen entgegen in Bezug auf alle Zeiten. Statt uns nun aber zurückzuschrecken vom Gebet, sollte ja gerade diese Forderung uns nur antreiben, so oft wir den Blick auf uns werfen und uns matt und kalt finden, im Innern zu rufen: O Herr, gieb mir ein warmes Herz! gieb mir einen brennenden Geist!
So gehet denn hin, Geliebte Gottes, lasset fahren Mißverstand und Zweifel und betet ohne Unterlaß! Nehmet mit euch hinaus aus dieser Versammlung ein stilles, fortwährendes Beten eures Herzens, das begleite euch, so lange ihr unter Menschen seid, und sobald als ihr's könnt, suchet das einsame Kämmerlein, und lasset das Gebet eures Herzens zum lauten Worte kommen. O Christen, so viel am Gebete unter euch fehlt, so viel fehlt am Geiste Gottes! So viel Gebet unter euch ist, so viel wird des Geistes Gottes unter euch seyn! -
Tholuck, August - Predigten über Hauptstücke des christlichen Glaubens und Lebens, Band II.