Tholuck, August – Drei Predigten - III. Predigt - Am Todtenfest

Tholuck, August – Drei Predigten - III. Predigt - Am Todtenfest

Am Todtenfeste 1850

Evangelische Christen! Warum füllen an diesem Tage mehr als an anderen sich die Kirchen? Weil, wenn in aller andern Noth die Menschen sich selbst zu helfen wissen, sie in der Todesnoth fühlen, daß sie der Kirche bedürfen. O ihr Undankbaren - und der, die an euer und eurer Lieben Sterbelager als Trösterin treten soll, der wollt ihr während eurer Lebenszeit aus dem Wege gehn?! Ich fürchte, wenn ihr da erst mit der Kirche Freundschaft schließen wollt, wo alle andern Freundschaftsbande sich lösen, so wird's zu spät sein, - jetzt, jetzt kann eure noch lebenswarme Hand einschlagen in die Mutterhand, die euch jetzt die Kirche entgegenstreckt, eure kalt gewordene Hand aber wird nicht mehr Kraft dazu haben. Darum greift zu, derweil eure Hand noch warm ist. Doch ihr, die ich hier vor mir sehe, ihr seid ja eben darum Hieher gekommen. Thut auf denn Herz und Hände, die Kirche hat von unserm Herrn große Güter empfangen, die sie euch hineinlegen wird. Daß wir Christen an Sterbebetten und Gräbern eine bessere Hoffnung haben als alle Anderen, davon will ich euch predigen. Dessen soll euch gewiß machen unsers Herrn Wort: Joh. 14, 1-3.

Und er sprach zu seinen Jüngern: Euer Herz erschreckt nicht. Glaubet ihr an Gott, so glaubet ihr auch an mich. In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn es nicht so wäre, so wollte ich zu euch sagen: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten. Und ob ich hinginge, euch die Stätte zu bereiten, will ich doch wiederkommen, und euch zu mir nehmen, auf daß ihr seid, wo ich bin.

Es war das auch ein Wort am Sterbebette, wenigstens vor einem Sterbebette. Nicht viele Stunden, und das Sterbebett des Heilands sollte aufgerichtet werden, - kein weicher Pfuhl, auf dem ihr und die Eurigen sterben, vielmehr das harte Kreuzesholz, von noch ganz andern Schauern umringt, als die eurigen; ein Heiliger, der am Schandpfahl als Missethäter stirbt; ein unschuldiges Lamm, auf dessen Herzen die Sündenlast der Menschheit liegt; ein Todeskampf, über den die Hölle ein Hohnlachen anschlagt. Da galt's einen starken Trost für gebrochene Freundesherzen, für solche Wunden waren die Schulsprüchlein kein Pflaster, womit die Welt sonst ihre Wunden zu heilen sucht. Ich gebe nicht wie die Welt gibt, hat er einst gesprochen. Er hat auch hier nicht gegeben, wie die Welt gibt. Wir Christen haben an Sterbebetten und Gräbern eine bessere Hoffnung als alle Andern. Wenn die Hoffnung der Andern auf Menschenwort ruht, die unsere ruht auf Gotteswort. Wenn die Andern hinunterblicken in ein enges, finsteres Grab, wir blicken hinauf in ein weites lichtes Vaterhaus. Wenn die Andern eines Vaterhauses sich getrösten, zu dem ihnen aber der Schlüssel fehlt, wir haben Pförtner und Schlüssel. Wenn die Andern nur in's Ungewisse malen, unsere Hoffnung hat einen bestimmten, klar ausgesprochenen Mittelpunkt, in dem alles Andere ruht.

Wenn die Hoffnung der Andern ruht auf Menschenwort, die unsere ruht auf Gotteswort. „Euer Herz erschrecke nicht,“ ruft Jesus über die Gräber hin. „Euer Herz erschrecke nicht,“ geht durch die Ruhe der leidtragenden Christen von den ersten Christen an. Vom Sterbebette geht der Zug nach dem Grabe; seliges Ende: fröhlicher Leichenzug trostloses Ende: trostloser Leichenzug. Bei Nacht trugen sie ihre Todten hinaus in der Heidenwelt, Klagelieder zerreißen die Lüfte, der wilde Schmerz zerreißt Haar und Brust. „Blick umher, Wanderer.“ - umher und nicht hinauf! - das war die einzige Inschrift, die einzige Mahnung, die sie unter ihren Gräbern aufzurichten wußten. Beim aufgehenden Morgenlichte dagegen ziehen die alten Christen hinaus, ihre Todten zu begraben, in Psalmen ergießt sich der Mund, nicht verbrannt wird die Hülle des unsterblichen Geistes, hineingesät wird sie in die mütterliche Erde als ein Samenkörnlein, das auferstehen soll, wenn der Frühling kommt. „Christus hat dem Tode die Macht genommen, und das Leben an's Licht gebracht“, das ist die Inschrift, die in tausend Variationen triumphirend über den Gräbern steht. An Wegen und Landstraßen stehen die einsamen Aschenurnen der Andern zerstreut - gleichsam im Tode noch können sie von der Gemeinschaft der Welt nicht lassen. Auf den Höfen der Kirchen herum, ja in denselben werden die Christen zur Ruhe bestattet - auch gestorben noch wollen sie von der Gemeinschaft und dem Gebete der Kirche nicht lassen. Sehet ihr, wie's durch die Christenwelt von Anfang an hindurchgetönt ist: „Euer Herz erschrecke nicht!“? - Und doch wär's erschrocken, wie das aller Andern, war's nur ein Menschenwort gewesen. Wie unzureichend ist solches bloß menschliche Zureden, wenn einen sterbenden Menschen der Tod schüttelt! - wie wenn einer die gähnende Kluft, in die Roß und Reuter versank, mit der flachen Hand zudecken wollte? So das, was man am häufigsten hört - die gedankenlose Tautologie: „ erschrecket nur nicht, es ist doch einmal nicht anders, das ist einmal der Lauf der Natur.“ Ja, aber wenn ich nun gerade darüber erschrecke, daß es nicht anders ist, wenn ich darüber in mir selbst ergrimme, daß das eben der Lauf der Natur ist, daß sie, ach, so selten dem durstenden Menschen einmal den Wonnetrunk im Leben reicht, und gerade dann, wenn er den ersten Zug gethan, mißgünstig den Becher wieder von seiner Lippe reißt und vor seinen Augen zertrümmert? Andere machen's besser, und kommen mit ihrem bunten Bildersaal ewiger Genüsse; aber wenn man diesen Genüssen nun ansieht, daß sie nichts Anderes sind, als die mit dem Vergrößerungsglase angesehenen Erdenfreuden, wer soll sie für etwas anderes halten, als für Schäume einer endlichen Phantasie? Da kommen die andern mit ihren vernünftigen Beweisen für die Unsterblichkeit - trockene Kräuter aus dem Herbarium statt grüner Blumen von der Wiese. - Kann Einer auf dem Sterbebette, wenn der Todesschweiß auf der Stirne steht, daran seine Hoffnung festketten, dem ist gewiß schon von wo anders her die Gewißheit gekommen, die er nur in die Beweise hinein legt. Nein, was auch Menschen aus eigener Kunst und Kraft zum Trost erdenken, - wo Wunden so heiß brennen, wie die auf Sterbebetten und an Sterbebetten, da zerflattern die Schulsprüchlein, mit denen Menschen uns trösten wollen im Winde. O, wohl uns, daß wir Einen haben, der da sprechen kann: „glaubet ihr an Gott, so glaubet auch an mich, denn mein Wort ist Gottes Wort.“ Glaubt ihr das, ihr Leidtragenden? O! und wenn nun Gott selber es ist, der euch zuruft: „Ja. ihr Lieben, das Grab ist bitter und das Grab ist kalt; - dennoch spricht euer Heiland: euer Herz erschrecke nicht? Fühlt ihr's nicht gleich, wie wenn eine heilende Hand sich über eure brennenden Wunden legt und über euer pochendes Herz?

Doch des Heilands Spruch geht weiter und sagt uns auch, warum hier kein Erschrecken ist. Wenn Andere nur hinabstarren in das enge kalte Grab, so blicken wir, auf des Herrn Wort gestützt, hinauf nach dem weiten, hellen Vaterhause. Hinunter, hinunter in die Grube gerichtet, in die sie die letzte Handvoll Erde geworfen, bleibt ach! bei wie Vielen, nachdem sie vom Kirchhofe heimgekehrt, zeitlebens ihr Blick. Und wenn wirklich, was ein Menschenherz im Leben gelitten und gelebt, erstritten und erzielt, dort mit begraben wäre, wo sie den Staub hingelegt haben, in die enge kalte Kammer - o, dann sind sie die leichtsinnigsten aller Menschen, die dann auch nur noch eine harmlos fröhliche Stunde auf Erden haben können. Wer in diesem Leben jemals fröhlich werden kann, ohne seiner Seligkeit im zukünftigen gewiß zu sein, der gehört zu den leichtsinnigsten der Menschenkinder. Ich weiß nun wohl, daß so weit - ein zukünftiges Leben zu läugnen, nur Wenige gekommen sind. Die meine ich aber hier nicht bloß, von denen hat sich noch wohl keiner hierher verloren. Ich meine solche, von denen vielleicht mehr als einer da ist, die die Kraft nicht haben, ein zukünftiges Leben zu läugnen, die aber auch die Kraft nicht haben, daran zu glauben, wenigstens die Kraft nicht haben, für sich selbst daran zu glauben. Die unterscheiden sich von den entschiedenen Läugnern wenigstens insofern nicht, als doch auch sie nur hinunter blicken, hinunter, wohin sie den Staub eingesenkt haben. Wir Christen aber, wir blicken hinauf. Denn der vom Himmel herabgekommen, der hat sein Wort dafür eingesetzt, daß es ein Vaterhaus gibt, wo die Seinen aus der Unruhe des Lebens zur Ruhe kommen, und ein Vaterhaus licht wie der Himmel über uns und weit und unermeßlich wie er. An Raum fehlt's da nicht, wenn's nur an Gästen nicht fehlte! Von mannichfaltigen Wohnungen spricht der Herr; mannichfaltig nämlich ist ja der Stand des Glaubens, des Lichtes und des Lebens, in dem die Gläubigen sich befinden, wenn sie aus diesem Leben heraustreten. So ist's begreiflich, daß zunächst nach dem Austritt aus diesem Leben auch noch eine Mannichfaltigkeit von Zuständen ihrer wartet. Denn nicht von der Zeit der Reichsvollendung spricht der Herr hier, er spricht ja von dem Zustande, der auf unser Erdenleben folgt. Einst wird's ja anders sein, einst, wenn das Ende kommt, wenn jene neue Erde kommt, auf der Gerechtigkeit wohnt, da werden nicht mehr mannichfaltige Wohnungen sein, da werden sie alle beisammen sein in einem Gottesreich, von welchem das in Israel das Abbild war. Bis dahin aber, da werden die Wohnungen, darin wir vollbereitet werden auf die Vollendung hin, noch mannichfaltig sein, so mannichfaltig als das Maaß des Lichts und des Lebens, mit dem wir aus dieser Welt geschieden. Da werden die Thränen auch noch nicht alle getrocknet sein, da wird's noch Schmerz und Reue geben über verfehlte Stunden, über nicht auf Wucher gelegte Pfunde, über Untreue im Kleinen, und Stillstehen, wo wir hätten laufen sollen. Da wird es noch eine Zeit des Wachsens und des Zunehmens geben, aber in Vaterwohnungen, so hell und weit wie der Himmel über uns, werden wir uns doch befinden, und das Abba werden wir als versöhnte Kinder doch beten, und das Wachsen wird doch schneller gehen als unter dieser Sonne, denn wenn sie erst gefallen sein werden die Banden der Sinnlichkeit, und von uns genommen die Zerstreuungen und Versuchungen der Welt, o wie so durstig werden die Seelen, die das Wasser, das allen Durst auf ewig stillt, schon hier gekostet, - o, wie so durstig werden sie es in sich trinken einen Strom um den andern! Obwohl der Vollendung noch nicht theilhaftig, werden sie sich doch daheim fühlen bei ihrem Herrn, und obwohl noch in viele Wohnungen vertheilt, wird doch Ein Vaterhaus sie umschließen und auf alle seine Kinder Segen ausbreiten.

Von dem Vaterhause mit den weiten lichten Wohnungen sprechen nun heut zu Tage allerdings auch Viele unter uns, die der Herr nicht zu den Seinigen zählen würde, wie denn auch sie, was sie davon wissen, nicht auf sein Wort als Gottes Wort gründen, und nicht ihm verdanken wollen, sondern ihrer eigenen Vernunft. Bei wem aber die Gewißheit seiner eigenen ewigen Seligkeit nicht auf Christi Wort als Gottes Wort ruht, dem wird gerade dann, wo er die Zuversicht am meisten braucht, auf dem Sterbebette, zweifelhaft, ob dies Vaterhaus auch für ihn offen stehen wird.

Wenn die Andern sich eines Vaterhauses getrösten, zu dem ihnen aber der Schlüssel fehlt. Wir haben Pförtner und Schlüssel.

Nachdem Christus, wie er's vom Vater gehört, uns gepredigt: es gibt für die, welche durch den Glauben Gottes Kinder geworden, ein Vaterhaus, da gibt's nun auch unter denen, die nicht zu den Seinigen gehören, Viele, die von diesem Vaterhause vieles sagen und setzen, und ihre Phantasie damit letzen und ergötzen. Sie denken aber nicht daran, daß ein Vaterhaus nur den Kindern offen steht. Mit welchem Rechte sie nun als Kinder Gottes sich betrachten dürfen, fragen sie nicht, oder lassen's genug sein mit dem leicht hingeworfenen: sind wir nicht alle Kinder Gottes? Geht's nun zum Sterben, so fahren etliche hinüber, und nehmen ihre Träume mit, und erst dann, wenn sie stehen werden und anklopfen, und von drinnen es heraushallen wird: „ich habe euch noch nie gekannt.“ werden sie erwachen mit Schrecken. Sie werden vor dem Vaterhause stehen, aber - ohne Pförtner und ohne Schlüssel. Etliche, und wohl die meisten, werden's schon auf dem Sterbebette, wo ja so viele Trugbilder zerrinnen, inne, daß, wenn es auch ein solches Vaterhaus gibt, es doch für die Kinder nur bereitet ist. sie also den Schlüssel nicht besitzen. Von denen fangen Etliche noch auf dem Sterbebette ihn zu suchen an. finden ihn wohl auch. Andere scheiden von dannen, die Verdammniß in ihrem Herzen und die Verzweiflung in ihrem Blicke. Auch die Jünger des Herrn in unserm Texte sehen wir in Verlegenheit darüber da stehen, woher sie den Schlüssel zu dem Vaterhause bekommen sollen, zweifelhaft darüber, ob auch ihnen eine Stätte darin bereitet sei. Da spricht der Herr so herablassend, wie ein Vater seine kleinen Kinder tröstet, zu ihnen: „Ihr Lieben, getrost! eure Stätte im Vaterhause ist euch schon bereitet von Ewigkeit her, wäre es nicht so, so wollte ich euch sagen: ich gehe hin, sie euch zu bereiten.“ Das klingt nun freilich so, als bedürfte es keines Heilandes, um sie zu bereiten, als wäre sie auch vor ihm schon von Ewigkeit bereitet: und dem ist auch so - vor ihm, vor seiner Erscheinung auf Erden allerdings, nur nicht ohne ihn. Nennt nicht der Apostel unsere Erlösung ein ewiges Liebesgeheimniß, das schon vor der Welt, also auch vor unserer Erschaffung, in Gott vorherversehen von Ewigkeit? Singen wir nicht: „Ich habe nun den Grund gefunden, der meinen Anker ewig hält, wo anders als in Jesu Wunden, da lag er vor der Zeit der Welt?“ Darauf deutet er nun auch hier hin, wenn er in Herablassung wie zu kleinen Kindern spricht: „gäb's nicht für euch eine Stätte im Vaterhause, so wollte ich euch sagen - ich gehe bin, sie zu bereiten.“ Daß er in gewissem Sinne doch hingeht, die Stätte zu bereiten, deutet er auch selbst im Folgenden an. wenn er spricht: „und ob ich hinginge, euch die Stätte zu bereiten.“ Unsere Erlösung ist ein von der Weltschöpfung her in Gott verschwiegenes Geheimniß - insofern ist denen, die sich erlösen lassen wollen, von Ewigkeit die Stätte bereitet; wiederum hat dies Liebesgeheimniß in der Zeit sich offenbaren, hat unser Heiland für uns leben, leiden, sterben und auferstehen müssen, um die Stätte uns zu bereiten. Jetzt daher, nachdem sie bereitet ist, ihr gläubigen Christen alle, jetzt, nachdem er todt war, und wieder lebendig geworden, tritt er vor euch und spricht: „Ich bin der Erste und der Letzte. Ich war todt, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit, und habe die Schlüssel der Hölle und des Todes.“ Seht ihr mit diesem Worte seine erhabene Gestalt über allen Christengräbern stehn? ja, und mit diesem Worte wird er einst auch an euer Sterbebette treten. So gewiß Ihn selbst. das Gotteskind von Natur, das Grab nicht hat halten können, so gewiß kann es nun auch, ihr Gotteskinder aus Gnaden, euch nicht halten. Ihn hat es nicht halten können: so gewiß wie irgend Etwas, so gewiß ist dies dem, der mit den Augen des Geistes Christi Herrlichkeit geschaut hat als die Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater. Den Stein wollt ihr vor seiner Grabeshöhle wälzen, ihn drinnen zu verschließen? O, eher schiebt beim Morgenröthe der Sonne den Stein entgegen, daß sie nicht wieder aus ihrer Kammer hervorgehe! So gewiß ist's uns, daß Ihn das Grab nicht zu halten vermochte, so gewiß wird's uns aber auch von uns selbst, nachdem wir das Evangelium empfangen und angenommen, daß wir durch ihn aus Gnaden Kinder Gottes geworden. Ihr, die ihr, wenn auch nur dem Anfange nach sprechen könnt: „so lebe nun nicht mehr ich, sondern Christus lebet in mir,“ ich frage euch: tragt ihr den stärksten aller Beweise für die Unsterblichkeit nicht eben in dieser Lebensgemeinschaft mit ihm? Ist's euch nicht im Innersten gewiß, daß ihr euch hier in diesem Leben nicht auslebt?

Ich lebe mich nicht aus -
Ein Schlücklein von dem Leben,
Das Christus mir gegeben,
Und fest für alle Zeiten,
Fest steht's für Ewigkeiten:
Ich lebe mich nicht aus!

Die Handschrift, die wider uns zeugt, ist zerrissen, das verlorene Kinderrecht ist uns wieder erworben, der Schlüssel zum Vaterhause ist wiedergefunden, und das Leben, das er selbst in uns durch sein Evangelium geweckt hat, gibt uns Zeugniß, daß die Stätte im Vaterhause uns bereitet ist, und drückt das Siegel auf sein Wort: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“

Seitdem sind wir nun auch nicht mehr wie die Andern, die, wenn sie von der Ewigkeit sprechen, in's Ungewisse malen, unsere Hoffnung hat einen bestimmten, klar ausgesprochenen Mittelpunkt, in dem alles Andere ruht. Wie gesagt: gar Manche von denen, die Christus nicht als die Seinigen erkennen würde, weil sie nur aus eigener Vernunft und Kraft selig werden wollen, bringen ein ganzes Bilderbuch von Freuden der Ewigkeit her. Wenn man nun aber nachweisen kann, daß das meistens nur eben die Güter sind, die euch hier die liebsten waren, und wenn euer Herz hier doch an keinen andern, als an den Gütern gehangen hat, die nicht ewig dauern; - müßt ihr es nicht gestehen, daß diese Bilder, welche eure eigene Phantasie sich selbst gemalt hat, kaum etwas mehr als ein leerer Traum sind, an dem ihr selbst nicht recht glaubt, und daß euch also das Jenseits nur ein leerer Rahmen ist, wozu ihr gar kein Bild habt? Wie anders steht's mit den Christenhoffnungen! Von unsern Hoffnungen spricht zwar ebenfalls die Schrift in Bildern, denn sie redet von dem. was höher und weiter ist als unser irdischer Begriff, aber diese Bilder sind von Gott gegeben; Bilder, in denen ein christliches Gemüth die Sache selbst ergreift; denn wenn wir von den Seligen hören, daß die reinen Herzen Gott schauen werden, daß sie eingehen werden und mit ihrem Heilande ein ewiges Abendmahl halten, daß sie stehen werden in den weißgewaschenen Kleidern mit den goldenen Harfen zu einem ewigen Hallelujah dem Lamme, das geschlachtet ward. - welch' christliches Gemüth wäre, das nicht unter diesen zeitlichen Bildern ewige Realitäten ergriffe! Es ist aber auch nicht Alles Bild, was wir empfangen haben. Was den Mittelpunkt unserer Seligkeit bildet darin alles Andere liegt, das ist uns vollkommen durchsichtig. Das ist die Verheißung des Herrn an seine Jünger: „Und ich will wiederkommen, und will euch zu mir nehmen, auf daß ihr seid, wo ich bin.“ Das Eine wissen wir in unmißdeutbarer Klarheit und Bestimmtheit: Ihn, den unsere Seele liebt, obwohl wir ihn nicht gesehen - mit zarterer als Kindes- und Gattenliebe liebt, ihn werden wir dann ewig sehen, und werden sein wo er ist und wie er ist. O, wie erstaune ich über den Unterschied, den die neue Geburt aus dem Geist gemacht hat zwischen einem Christenherzen und allen Andern! Was ist das für alle Anderen, daß sie Christum sehen werden wie er ist! Gar nichts ist's, oder vielleicht gar nur ein beängstigender Gedanke. Und wir, denen schon hier auf Erden der Geist Gottes den neuen Sinn gegeben hat, daß wir erkennen den Wahrhaftigen, - was unsere Seele nur kennt von Schmerzstillendem, von Beseligendem, von Erhebendem, liegt es nicht Alles in dem einen Gedanken: Wir werden ihn sehen, wie er ist, und werden sein, wo er ist und wie er ist? Das hat der Herr nun auch gewußt, daß er für die Seinigen nichts Größeres hat aussprechen können, darum hat er in dem einen Worte hier die gesammte Christenhoffnung der Ewigkeit zusammengefaßt. So ist auch seinen Aposteln zu Sinne gewesen. „Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein,“ spricht Paulus, und faßt seine ganze Hoffnung der Ewigkeit darin zusammen. „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, wenn es aber erscheinen wird, werden wir ihn sehen wie er ist, und werden ihm gleich sein“, ruft Johannes. Ihr Leidtragenden, ihr Sterbenden, die ihr mit den Hoffnungen der Christen auf's Vaterhaus euch schmeichelt, ohne doch den Glauben der Christen zu haben, das ist die Probe, ob ihr rechte Christen seid, wenn das Seligste, was ihr hoffen könnt, auch für euch in dem Gedanken liegt, daß ihr ihn sehen sollt, und sein sollt wo er ist, und wie er ist. Wie ist diese Ewigkeitshoffnung die Probe darauf, ob einer schon in der Zeit ein lebendiges Glied an seinem Leibe gewesen ist oder ein todtes. In dieser einen Hoffnung liegt nun aber auch für ein Christenherz alles Andere. Zuerst, daß wenn wir ihn wiedersehen werden, wir nicht Ihn allein wiedersehen werden, sondern mit ihm auch alle Anderen, mit denen wir in ihm verbunden waren. „Dann, wenn er kommen wird, schreibt Paulus, daß er herrlich erscheine mit seinen Heiligen, und wunderbar in allen Gläubigen.“ „Ich werde vom Gewächse dieses Weinstocks“, spricht er selbst, „nicht mehr mit euch trinken, bis ich es neu mit euch trinken werde in meines Vaters Reich“. Sodann, das Alles, was unsren innersten Menschen gefesselt und gebunden hat auf Erden, so daß er dienen mußte dem, was unter ihm war, statt zu herrschen, wird fallen, denn „sterben wir mit, so werden wir mit leben, dulden wir mit, so werden wir mit herrschen“. Weiter, dies Leben, das dann hinter uns liegen wird, und das jetzt für uns ach, wie viel Fragezeichen und ungelöste Räthsel in sich schließt! es wird ein aufgeschlossnes Buch, denn von dem Lamme, das überwunden hat, bei dem und mit dem wir dann sein werden, steht geschrieben, daß es ward würdig gefunden aufzuthun das Buch und zu brechen seine sieben Siegel. Endlich, kein Tod und keine Vergänglichkeit wird uns mehr berühren, sondern nur Ewiges unsere Seele füllen, denn „was er gestorben ist, ist er der Sünde gestorben zu einem Male, das er aber lebet, das lebet er allein Gott“.

Wer das weiß, der weiß genug, um durch die Thränen der Zeitlichkeit hindurch mit klarem Auge in die Ewigkeit zu blicken, um das zeitliche Leben einzusetzen für den Preis der Ewigkeit. Und wenn die Weltkinder die wahren Christen um ihr Leben nicht beneiden, von jeher haben sie sie um ihr Sterbebette beneidet. Ihr habt's ja aber eben jetzt gehört, daß das, was unser höchstes Glück für jene Ewigkeit ist, nichts Anderes ist, als was schon hier uns labte in der Zeit. Denn wem sein Heiland nicht sein schönstes Glück schon hier auf Erden, was kann dem Schönres noch im Himmel werden? O in dieser Zeit, wo unser Todtenfest in Tage fällt, da viele von euch ihr Jünglinge, die sich noch durch Menschenalter von dem Augenblicke geschieden meinten, wo es gelten wird mit unverrücktem Blicke dem Tode ins Angesicht zu sehen, wo viele von euch vielleicht in kürzester Frist dem Tode gegenüberstehen werden: sollen wir nicht an diesem Todtenfeste noch ernster wie sonst nach der bessern Hoffnung trachten, die wir Christen vor allen Andern an den Gräbern und auf dem Sterbebette haben? Aber selig leben mit Christo muß, wer mit ihm selig sterben und selig auferstehen will. Amen.

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