Tersteegen, Gerhard - Gottesfürchtige und erbauende Briefe - Sechster Brief.
Wie billig und gut es ist, in Gottes inniger Gegenwart alles Eigene schweigen zu machen, damit Gott ungestört zu uns reden könne.
In unserm gesegneten Heiland Jesus Christus vielgeliebter Bruder!
In äußerer und innerer Stille, nach dem Maße meines Zustandes bei und vor dem Herrn sitzend, befinde ich mich im Geiste auch Dir nahe, lieber Bruder, und fühle Neigung, Dich im Namen des Herrn zu begrüßen und Dir seinen Frieden zu wünschen. Ich weiß indessen Dir nichts zu schreiben, und noch weniger Dir mitzuteilen, weil ich selbst nichts habe und weiß, auch nichts zu haben und zu wissen begehre, indem es unsre einzige Stütze und Freude ausmacht, dass der Herr uns so innig und wesentlich gegenwärtig ist, der durchaus Alles in uns sein will. Wo wir nicht sind, da ist der Herr; höchst billig ist es daher, dass wir dieser liebenswürdigen Majestät in uns Platz machen, um so zu sprechen, und ihr Alles hingeben und überlassen, um damit nach ihrem Wohlgefallen zu schalten. Unsre Gedanken und Worte sind alle viel zu klein und zu schwach, um das Innige seiner Gegenwart im Innern unsers Wesens ausdrücken und fassen zu können. Er ist uns so nahe wie ein Freund, der in unserm Hause mit einwohnen, Umgang mit uns pflegen, und sich mit uns auf eine unaussprechliche Weise zu unsrer Glückseligkeit vereinigen will. Er ist uns näher als wir uns selbst, und doch dem Eigenwillen unerreichbar. Es ist, als ob Er gleichsam in einem großen Landstrich in uns wohnte, von woher er unserm Geist zuruft: Komm ohne dich selbst! aber das Sprechen des Herrn ist Handeln. Diese wahre Nacktheit und Einfalt muss und will Er selbst in uns hervorbringen, darum durchkreuzt Er unsre eigenen Wege und Handlungen. Er ruft und führt uns zu einer innigen Duldsamkeit, d. h. zum Einhalten des Unsrigen und Platzmachen und Erwarten des Seinigen. Er reinigt nach und nach den Geist vom Eigenen und Groben, das ihn fesselt und drückt, und führt ihn endlich so zur Freiheit der Kinder Gottes in des Vaters Haus, wo das verlorene Kind, wiedergefunden wird und Überfluss von Speise bekommt.
Hilf uns daher, anbetungswürdiger Gott! uns, die wir ganz in uns selbst verstrickt sind, so dass wir mehr uns und das Unsrige beschauen und fühlen, als dich. Du aber, der du uns doch so innig nahe bist, mache Raum in uns für dich selbst. Gib, dass wir uns vergessen lernen und uns fahren lassen, um einzugehen in die einfältige Abgeschiedenheit des Geistes, in der du dich und dein Werk reiner in uns kannst offenbaren. Amen zu deiner Verherrlichung!
Geliebter Bruder, sei doch wie ich nur ganz getrost und zufrieden mit dem Herrn und allen seinen Wegen. Er wird es gewiss gut machen; wir wollen ihn herzlich lieben, denn Er ist gut, und ist auch uns gut, und will es noch mehr und wirksamer werden.
Ich grüße Dich und Deine Ehefrau recht herzlich; gedenkt in Euren Gebeten dessen, der bleibt Euer
in Liebe verbundener Bruder.
Mülheim, den 30. März 1733.