Tersteegen, Gerhard - Gottesfürchtige und erbauende Briefe - Dritter Brief.
Von der immerwährenden Tätigkeit der göttlichen Liebe und Gnade, um das Reich Gottes, welches uns in Jesus wie der nahe gekommen ist, in unseren Herzen zu offenbaren. Stille und Einfalt werden, da es zwei Haupteigenschaften Gottes sind, auch uns nötig sein, um mit Gott vereinigt werden zu können. Wie man am besten zu dieser Stille und Einfalt gelangt.
Von Herzen geliebte Brüder in dem Herrn!
Ich wünsche, dass Euch dieser Brief noch treu bei dem Herrn finden möge. Es war mir, Geliebteste, erquickend, dass wir diesen Sommer noch einmal in Liebe auf unsrer Pilgerreise aus der Zeit in die süße Ewigkeit zusammenkommen konnten. Wie oft habe ich mich seitdem in meiner Kränklichkeit nicht bewogen gefühlt, Euch Beiden, meine lieben Reisegefährten, die ich, ungesucht, fand, alle Stärkung, allen Trost und Fortgang auf dem verborgenen Wege des Herzens zu wünschen, wiewohl ich dies nicht immer, wegen vielerlei Abhaltungen, mit der Feder tun konnte.
Ach! dass doch das teure Evangelium vom Reiche. Gottes, das uns vorzugsweise vor vielen Tausenden verkündigt worden, tief in unseren Herzen eingegraben bleiben möge! Wie weit ist nicht, in dem teuren Namen Jesus, das selige Gottes Reich in unserm Seelengrunde geöffnet; wie nah ist es nicht gekommen, um auch in unserm Innern wirklich offenbart zu werden, wenn wir nur wie einfältige, stille Schäfchen auf die Stimme unsers guten Hirten, der so gern das Suchen und Sammeln will, was noch zerstreut in unserm Innern liegt, hören und ihr folgen wollen. Wir würden diese lockende Stimme des Hirten, diese Wirkungen seiner Liebe und Gnade zu jeder Zeit, in unserm Herzensgrunde, deutlich hören und kräftig spüren, wenn wir nur zu jeder Zeit dazu hinlänglich gestimmt wären; denn Gott ist unaufhörlich tätig und uns nah, wir aber leider nicht immer Ihm.
Ich weiß nicht, ob wir (um so zu reden) Gott nicht am meisten dadurch entgegen wirken, dass wir nicht hinlänglich still und einfältig sind: denn da diese Gaben mit zu den wesentlichen Eigenschaften Gottes gehören, so sind sie auch uns durchaus erforderlich, wenn wir mit Ihm vereinigt werden wollen.
Ich bin überzeugt, meine Vielgeliebten, dass Ihr Euch mit mir wohl dabei befinden werdet, wenn wir, um die rechte Stille vor dem Herrn zu erlangen, die Tätigkeit unsrer Sinne, Gedanken und Überlegungen so viel mäßigen, als möglich ist, uns gegen Gott bei unsern innersten Andachten ganz leidend verhalten, und uns vor eigenem Wirken und eigener Sorge zu hüten suchen, der Wirkung des Herrn in uns allen Raum gebend; wenn wir alle Sachen, die außer Gott sind, auch außer uns lassen, und alles in Abgeschiedenheit, als tot (um so zu sprechen), anzusehen und zu behandeln trachten; wenn wir endlich die nötige Zeit zum Sammeln für uns nehmen, damit alle unordentlichen Vorstellungen und Bewegungen verschwinden und wir stille werden vor dem Herrn, der die einzige Ruhe unsers Geistes ist, und der durch seine Gegenwart uns allein die wahre Stille geben kann. Nicht weniger ersprießlich habe ich es für die Erlangung und Bewahrung der Einfalt des Gemüts gefunden, wenn man nie Sachen menschlicherweise untersucht, beurteilt und bespricht, ohne zugleich ein wenig ins Heiligtum zurückzutreten, um eines höheren Richters (nämlich aus Gottes Gegenwart, mit dem einfachen Auge des Glaubens beschauet) Urteil zu vernehmen. Müssen wir nun schon hinsichtlich natürlicher Dinge übernatürlich zu Werke gehen, wie viel mehr also bei geistigen und innern Dingen, die von ganz anderer Art sind, als die menschliche Vernunft, und in einem Licht betrachtet werden sollen, das auch ganz anderer Art ist, nämlich im Lichte des Glaubens. Das Glaubenslicht aber ist die Überzeugung, der Eindruck oder das Sehnen, von Gott im Herzen bewirkt, ohne Einmischung der Sinne (Joh. 3,8.); ein Licht, das Kinder und Blinde erleuchtet und Sehende blendet; ich will damit sagen: so lange und in so fern wir kindlich und im Innern gesammelt bei diesem Licht bleiben, immer nachgeben, Raum machen und loslassen, so lange und in so fern geht es gut; man fühlt sich behaglich und ruhig: will man aber kein Kindlein mehr bleiben, nicht mit einer so allgemeinen Ruhe und diesem Licht zufrieden, sondern zu klug, zu vorsichtig sein, Gewissheit suchen durch eignes Nachdenken und Forschen: augenblicklich wird man verwirrt, unruhig, zweifelhaft und unbeständig in Allem; denn man wandelt nicht mehr im Glauben, der allein festen Boden und hinlänglichen Beweis gibt, dass man hofft, und nicht zweifelt an dem, was man nicht sieht. (Hebr. 11,1.) Lasst uns also, Vielgeliebte, unschuldige Kindlein des Glaubens werden, und wie Toren in den Augen der Vernunft; und wir werden die Kraft und das Reich Gottes empfangen, das allein für Kinder offen steht. Das einfache Herz will nur dem Herrn ganz und ungeteilt genügen, und dies ist der sichere Pilgerweg, der uns zum ewigen Leben führt, wie Euch durch Gottes Belehrungen wohl bekannt sein muss.
Geliebte in dem Herrn! Ich grüße und herze Euch Alle in dem Geiste seiner Liebe, die Euch innig und immer reiner bearbeiten und beleben möge, um ein vollkommenes Opfer zu werden, das dem Herrn wohlgefällig ist. Ich bleibe durch die Gnade
Euer
in dem Herrn verbundener Bruder.
Mülheim, den 8. Oktober 1733.