Spurgeon, Charles Haddon - Ährenlese - Christus, „ganz lieblich“
Die Brautgemeinde, die ihren himmlischen Bräutigam „ganz lieblich“ nennt, bezeugt damit, dass nichts an ihm ist, was sie nicht bewundern müsste. Mag die Welt über Sein Kreuz spotten und es eine Schmach nennen - für die Braut ist es der Kern und der Stern ihrer Herrlichkeit. Ein stolzes und hochmütiges Volk mochte seinen König verschmähen um Seiner Krippe willen, und Seiner Armut sich schämen; aber in ihren Augen ist der Fürst unter den Fürsten über alles herrlich in Seiner Niedrigkeit. Für sie ist Er allezeit voller Schönheit, Sein Gesicht nie entstellt, Seine Herrlichkeit nie befleckt. Sie drückt Seine durchgrabenen Füße an ihr Herz und schaut auf Seine Wunden als auf edles Geschmeide. Die Rotte der Gottlosen umsteht Sein Kreuz und kann nur höhnen und spotten; die Braut aber empfindet nichts als ehrfurchtsvolle Anbetung und unermesslichen Grund der Liebe. Mag sie Ihn betrachten nach Amt oder Stellung oder Verwandtschaft, nirgends vermag sie einen Flecken zu entdecken; der leiseste Gedanke an Unvollkommenheit ist in Wahrheit gänzlich verbannt. Sie erkennt Seine vollkommene Göttlichkeit und Seine unbefleckte Menschheit allzu gut, um den Gedanken an den geringsten Tadel Seiner makellos reinen Person auch nur einen Augenblick Raum zu geben; sie verabscheut jede Lehre, die Ihn erniedrigt; sie verabscheut das prunkvolle Gewand welches die edlen Züge Seiner seligen Gestalt verdunkeln könnte; ja sie eifert so sehr um Seine Ehre, dass sie nichts hören mag von irgendeinem Geist, der nicht mit in Sein Lob einstimmt. Die leiseste Andeutung, dass Seine Menschwerdung nicht unbefleckt, Seine Heiligkeit nicht makellos sein könnte, bringt eine heilige Entrüstung über ihr Gemüt und augenblicklich würde sie solche Irrlehre verdammen und rücksichtslos verurteilen. Nichts hat ja die Entrüstung der Brautgemeinde so heftig erregt, als ein Wort gegen ihr geliebtes Haupt. In den Augen aller wahren Gläubigen ist dies Hochverrat und eine schwer zu ahnende Beleidigung. Jesus ist untadelig und fleckenlos, „ganz lieblich ist Er.“ Und doch ist dies bloß verteidigende Lob, diese kräftige Zurückweisung jedes Tadels weit davon entfernt, die ganze Fülle der liebenden Bewunderung Seiner Gemeinde ans Licht zu stellen. Der Herr Jesus ist ganz Lieblichkeit in ihren Augen. Nicht nur angenehm, nicht nur schön, sondern Seine Schönheit und Liebenswürdigkeit zieht die Liebenswürdigkeiten unwiderstehlich zu sich, und Seine Herrlichkeit entzückt das Herz aufs Höchste. Es blickt die Liebe aus diesen „Taubenaugen an den Wasserbächen, mit Milch gewaschen und stehen in der Fülle,“ sie strömt von diesen „Lippen, wie Rosen, die von fließenden Myrrhen triefen,“ sie funkelt von diesen „Händen, wie goldene Ringe voll Türkisen.“ Aber obgleich diese Äußerungen der Brautgemeinde der höchstmögliche Ausdruck alles Lobes sind, und das Unmögliche und Köstliche schildern sollten, was je dem menschlichen Worte auszusprechen möglich wäre, so ist es doch unmöglich, dass dieser Ausdruck - und würde er noch so tief erfasst und noch so herrlich ausgelegt - mehr auszudrücken vermöchte, als einen unbedeutenden Teil der empfundenen Bewunderung. Dieser Ausspruch überragt wie ein Enaks-Kind alle anderen, aber seine Größe reicht noch lange nicht an die gewaltige Höhe der himmelgeborenen Liebe. Er ist nur ein schwaches Gleichnis unaussprechlicher Liebesseligkeit; eine auserlesene Perle, die aus dem tiefen Meer der Liebe ans Ufer gespült ward.
(sprachlich bearbeitet durch Ute)