Spitta, Carl Johann Philipp - Wir lieben die Brüder!
Unser Heiland sagt Joh. 13, 34. 35: „Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch unter einander liebet, wie ich euch geliebet habe, auf daß auch ihr einander lieb habet. Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe unter einander habt.“ Der das Gebot der Bruderliebe giebt, giebt auch in seiner Liebe zu uns das Vermögen, sein Gebot zu erfüllen. Er hat uns geliebet, auf daß wir uns lieb haben können, und hat uns geboten, daß wir uns lieb haben sollen. Wenn wir die Brüder lieben nach seinem Gebot, so beweisen wir, daß wir geglaubt und erkannt und erfahren haben die Liebe, damit uns Christus geliebt hat; und an der Bruderliebe soll man uns als seine Jünger erkennen. O wohl uns, wenn wir mit Johannes sagen können „Wir wissen, daß wir aus dem Tode in das Leben gekommen sind, denn wir lieben die Brüder“ (1 Joh. 3, 14.). Wie sollten wir doch darnach jedes Bleiben in der Lieblosigkeit gegen irgend einen Bruder als ein Bleiben im Tode der Sünden betrachten, und uns befleißigen, von solchem Tode zum Leben hindurch zu dringen! Das thut's freilich noch nicht, daß man mit äußerlichen Geberden und schönen Worten sich liebreich stellt, während man doch im Herzen gar anders gesinnet ist. Sondern um deßwillen, der uns geliebt hat, sollen wir den Bruder lieben lernen mit aufrichtiger und herzlicher Liebe, die sich in Geberden, Worten und Werken abspiegelt. Auch ist nicht jene schwächliche und unlautere Liebe gemeint, da man aus Furcht, dem Bruder zu mißfallen und von ihm verkannt zu werden, auch das Tadelnswerthe an ihm gut heißt. Sondern die starke und lautere Liebe, die den fehlenden Bruder mit sanftmüthigem Sinn und Weisheit zurecht hilft, der es anliegt, daß der Bruder nicht Schaden an seiner Seele leide, die für sich selbst aber gern trägt und verträgt, gern giebt, nachgiebt und vergiebt, die sich selbst und all' das Ihre vergißt - das ist rechte Bruderliebe. Das ist auch wirklich so etwas Großes, daß du es nicht leisten kannst ohne Wiedergeburt. Darum sagt Johannes: „Wir wissen, daß wir aus dem Tode in das Leben gekommen sind, denn wir lieben die Brüder.“ Sagst du auch also? Wenn du den liebst, der dich geboren hat, so mußt du auch diejenigen lieben, die von ihm geboren sind, die mit dir Kinder eines Vaters, Jünger eines Herrn, Tempel eines Geistes sind, die mit dir denselben theuern Glauben überkommen haben, und mit denen du dermaleinst zu gleichem Kindestheil gelangen sollst. Hast du für ihre Leiden kein Mitleid, für ihre Freuden keine Mitfreude, für ihre Kämpfe und Verlegenheiten keine Hülfe mit Gebet, Rat und That; stellest du dich, wenn Trübsal und Verfolgung sich über sie erheben, als kenntest du sie nicht, als hättest du nichts mit ihnen gemein; suchst du nur das Deine, und liebst du also nur dich selbst - wo bleibt da die Bruderliebe, und das Zeugniß, daß du aus dem Tode in das Leben gekommen bist? Prüfe, prüfe doch deine Liebe!