Spitta, Carl Johann Philipp - Wenn ich gelegene Zeit habe

Spitta, Carl Johann Philipp - Wenn ich gelegene Zeit habe

Als der Landpfleger Felix den Apostel Paulus von der Gerechtigkeit, der Keuschheit und dem zukünftigen Gericht reden hörte, erschrak er. Er bekam einen Eindruck von der Wahrheit, sein Gewissen wachte auf, und sagte: ja! zu der Apostels Predigt. Das war ein Augenblick, da er Leben oder Tod, Segen oder Fluch, Himmel oder Hölle wählen konnte. Aber er störte das Werk Gottes an seiner Seele, das ja mit der Furcht Gottes beginnt; er widerstrebte dem heiligen Geist, der ihn strafte, und sprach zum Apostel: „Gehe hin auf dies Mal; wenn ich gelegene Zeit habe, will ich dich her rufen lassen“ (Apost. Gesch. 24, 25.). Wie viele seiner Art hat dieser Felix, die, sobald die Wahrheit einmal einen Eindruck auf ihr Herz macht, daß sie ernst und nachdenkende werden, sogleich für das Mal genug haben; die geflissentlich alles anwenden, die auf das Eine, was noth ist, gesammelten Gedanken wieder zu zerstreuen, und sich auch wohl einreden: das sei Uebertreibung, man mache es doch auch zu arg, daß man sie so unsanft berühre. Arme Menschen, macht es auch der Arzt zu arg, wenn er in das tödtliche Geschwür schneidet und die Unreinigkeit ausdrückt, ehe er den Balsam hineinträufelt und die Wunde verbindet? Saget ihr auch zu dem Arzt, wenn er den Schaden eben berührt hat, daß es euch schmerzt: „Gehe hin auf dies Mal?“ Und was ist das für eine Rede: „Wenn ich gelegnere Zeit habe, will ich dich her lassen rufen!“ Ist denn die Errettung der Seele eine Sache, die man auf gelegnere Zeit verschieben kann? Es heißt ja: Trachtet am Ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit! Jetzt ist der Tag des Heils, jetzt ist die angenehme Zeit! Heute, so ihr seine Stimme höret, verstocket euer Herz nicht!„ Was giebt es denn Wichtigeres und Dringenderes für Menschen, deren Leben dahineilt, als flögen sie davon, die heute noch über dem Staube der vorangegangenen Geschlechter wandeln, und morgen selbst in des Todes Staub dahinsinken - als ihre Seligkeit zu schaffen mit Furcht und Zittern? Ist die Zeit der Jugend etwa nicht die gelegene Zeit - wo habt ihr eine Anweisung auf hohes Lebensalter? Sind die gesunden Tage euch nicht gelegen und wollt ihr warten, bis ihr krank werdet und die Noth des Leibes den Geist ganz in das Fleisch hinunterzieht? Und ist denn das „wenn ich gelegnere Zeit habe, will ich dich her lassen rufen“ - so ganz in unserer Macht? Ist denn das, was wir jetzt verschmähen, weil es uns ungelegen ist, dann so nur herbeizurufen, wenn es uns gelegen ist? Liegt es denn an jemandes Wollen und Laufen, und nicht vielmehr an Gottes Erbarmen? Wann fand denn Felix die gelegnere Zeit? Er ließ zwar den Apostel noch oft herrufen und besprach sich mit ihm. Aber nicht, um von dem Glauben an Christum zu hören; er suchte bei dem Lehrer der himmlischen Gerechtigkeit nur zeitlichen Gewinn; - der unsaubere Geist war zu ihm zurückgekehrt, und hatte sieben andere Geister mit sich genommen, und war mit ihm ärger geworden als zuvor. Und nach zwei Jahren kam Portius Festus als Landpfleger an Felix Statt. Da war es für ihn mit dem „Herrufen lassen“ gar aus und vorbei. Er mag wohl an die gelegene Zeit in Cäsarien zurückgedacht haben. Wenn ihn sein Gewissen späterhin von der Gerechtigkeit und der Keuschheit und dem zukünftigen Gericht predigte und endlich der Tod ihm den Stachel der Sünde ihns Herz stieß - da mag er geseufzt haben: „Jetzt wäre mir's gelegen; wenn ich dich doch jetzt könnte her lassen rufen!“

Quelle: Spitta, Carl Johann Philipp - Biblische Andachten

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