Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Das große Geschichtsbuch von den Richtern bis zu den Königen.

Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Das große Geschichtsbuch von den Richtern bis zu den Königen.

Die Bücher: Richter, Samuel und Könige bilden ein großes, zusammenhängendes Geschichtswerk, das von der Eroberung des Landes bis zu dessen Verheerung durch die Babylonier reicht. Nachdem die langen Kämpfe um den Besitz Kanaans zu ihrem Ende gekommen waren, folgten die geschichtlichen Aufzeichnungen einander in so beträchtlicher Zahl, daß sie eine für die ältere Zeit zwar nicht lückenlose, aber doch fortlaufende Reihe bildeten. Schaute man hernach auf größere Perioden zurück, so wurden diese Berichte zusammengestellt, gekürzt und in ein Ganzes zusammengefügt.

Mit diesem anhaltenden Interesse für die Geschichte hat es in Israel eine besondere Bewandtnis. Bei den übrigen Völkern kam es auf zwei Wegen zur Geschichtsschreibung. Dort haben die Könige und ihre Diener Geschichte geschrieben, z. B. in Babylon, Ninive und Ägypten. Auf der Höhe der Macht strebt der Mensch sich zu verewigen und gräbt deshalb zu seinem Ruhm seine Thaten in die Felsenwände. Für eine andre Art der Geschichtschreibung geben aus der alten Zeit die Griechen das schönste Beispiel. Das ist die Geschichtschreibung des welterfahrnen, beobachtenden Verstands, der den engen Zusammenhang entdeckt, mit dem die Geschicke der Menschen und Völker in einander greifen, und wahrnimmt, wie im bunten Wechsel der Ereignisse Gesetze hervortreten, Ursachen und Wirkungen in fest geregeltem Ebenmaß einander folgen und alles sich an einen einzigen Faden gebunden zeigt - eine Entdeckung, die das menschliche Nachdenken mit Fug und Recht nicht weniger zu reizen vermag als die wunderbare Ordnung und Regel der Natur.

Die Geschichtsbücher der Bibel wachsen aus einer andern Wurzel. Auch jene beiden Formen der Geschichtsschreibung sind auf sie von einigem Einfluß gewesen. Es gab seit David und Salomo auch in Israel eine königliche Geschichtsschreibung. Wir finden schon bei David unter den ersten Würdeträgern des Hofs den „Erinnerer“, der das Gedächtnis an das, was der König that und erlebte, zu bewahren hat. Die Geschichte der Könige Juda's wie die der Könige Israels wurde regelmäßig weitergeführt und manche Notizen, Zeitangaben, Listen u. dgl. weisen in unsern Büchern auf diese Quelle hin. Sodann ist auch in Israel die nachdenkliche Überlegung erwacht, wie fest und gesetzmäßig die Ereignisse an einander geknüpft seien. Man weiß, wie unverbrüchlich die Regel gilt, daß der Mensch erntet, was er sät, und sucht zur Frucht die Wurzel, zur Wurzel die Frucht, und überschaut den langen Weg der Geschlechter nach seinem einheitlichen Verlauf. Aber diese beiden Zweige geschichtlicher Erinnerung und Aufzeichnung haben für die Geschichtsbücher der Bibel nur nebensächliche Bedeutung. Die Hauptkraft, welche sie gestaltet, ist andrer Art.

Die Ausbildung der Geschichtsschreibung stand mit dem Hervortreten des Gesetzes in engem Zusammenhang. Die Erkenntnis Gottes machte das Auge offen für sein Gebot und zugleich offen für das, was im Volke vor sich ging. Warum konnte man in Israel nicht mehr dahin leben, wie in den Nachbarstämmen, unbekümmert um Vergangenheit und Zukunft, einzig mit den natürlichen Interessen des Tages beschäftigt? Die großen Dinge, die das Volk in der mosaischen Zeit erlebt hatte, gaben ihm einen Beruf und steckten ihm ein Ziel, und ein Beruf nötigt zur Selbstbesinnung und Selbstprüfung. Man mußte Einkehr bei sich selbst halten und sich Rechenschaft geben, was des Volkes Sinn und Streben, Thun und Lassen sei. Jene großen Erlebnisse waren ein Anfang, und dies trieb zur Achtsamkeit auf den ferneren Gang der Dinge, wie derselbe zu jenem Anfang sich verhalte, ob er auch dessen rechte Fortsetzung sei. Mit den Geschichtsbüchern erinnert sich Israel immer wieder daran, daß es das Volk des Herrn ist, und hat acht auf das, was sein Gott ihm thut und wie es ihm dankt und dient.

Das macht nun freilich, daß die biblischen Geschichtsbücher in gewisser Hinsicht hinter den beiden andern Formen der Geschichtsschreibung zurückbleiben. An Genauigkeit der Angaben werden sie von der amtlichen Geschichtsschreibung der Könige mit ihren Urkunden und Registern übertroffen, wie sie z. B. mit großem Fleiß auf den Ziegeln Ninive's oder den Tempelwänden Ägyptens angebracht sind. Auch Israels Geschichtsbücher suchen zwar eine Jahresrechnung herzustellen und von David an werden die Zahlen genau. Aber für die ältere Zeit beruht die Chronologie mehr auf abschätzender Kombination. Ähnlich verhält es sich mit manchen andern Zahlen über die Größe des Volks, die Stärke der Heere, die Menge der in den Schlachten Gefallenen rc. Ebensowenig entstehen hier historische Kunstwerke wie z. B. bei den Griechen, die sich um eine möglichst vollständige Übersicht über die Ereignisse und eine erschöpfende Aufklärung ihrer Ursachen bemühen. Der Blick richtet sich hier vorwiegend auf Einzelheiten. Diese geben Beispiele im guten und schlimmen, welche die Zeit beleuchten und den spätern Geschlechtern als Wegzeichen dienen können. Die Erzählung hat immer in einzelnen Persönlichkeiten ihren Mittelpunkt; nebenan bleibt alles dunkel. Und zwar sucht sie die Männer und Frauen, bei denen sie verweilt, nicht nur oben auf der Höhe der Macht und des Ruhms. Hier wird im Gegenteil oft gerade das kleine hervorgestellt, weil es mit seiner Kleinheit das göttliche Walten nur um so deutlicher hervortreten läßt. Und einen Hauptgegenstand der Betrachtung bilden hier die Versündigungen und Fehltritte. Die Selbstprüfung wird zum Selbstgericht und zur Buße. Die Geschichte wird als die Mahnung zur Demütigung und Beugung vor Gott geschrieben.

Aber der Zusammenhang dieser Geschichten mit Israels Beruf gibt ihnen andrerseits einen unvergleichlichen Gehalt. Man hat in Israel mit Gott und für Gott gelebt und darum mehr erlebt, als der siegreichste Pharao oder der weltkundigste Grieche zu erleben und zu erzählen vermochte. In diesen Geschichten wird mehr erkennbar und deutlich, als irgendwo sonst, nämlich dies, wie Gott seine Gemeinde baut und leitet, und in Güte und Ernst seinen Namen in ihrer Mitte heilig macht.

Schon die Bücher Mose haben gezeigt, daß verschiedene geistige Kräfte im Volke neben einander wirksam sind. Dieselben zeigen sich auch in den Geschichtsbüchern in ihrem Unterschied. Sie haben Erzählungen mit volkstümlichem Ton. Der Naturlaut wird nicht unterdrückt, die freudige Bewunderung für die starke, mutige That und das trauernde Mitgefühl mit der Schuld und dem Tod der Helden. Dazu tritt der mit der Prophetie verwandte Blick in's Inwendige der Menschen und Ereignisse, welcher Gottes Zorn und Gottes Gnade in denselben sucht und sieht, und das menschliche Herz in seinen verschiedenen Stellungen zu Gott durchschaut. Wieder eine andere Färbung und Richtung erhalten die Geschichten durch das Gesetz. Dasselbe wurde mit Notwendigkeit auch zum gestaltenden Mittelpunkt für die Geschichtsschreibung. Es bildet den Vergleichungspunkt, an dem man die frühern Geschlechter und ihre Thaten maß und aus dem man das Urteil über sie gewann. Während die einzelnen Erzählungen zum Teil die ungebundene Volkssitte wiederspiegeln, hat die das Ganze ordnende und abschließende Hand kräftig den Maßstab des Gesetzes an die ganze Geschichte gelegt, und namentlich die gottesdienstliche Sitte überall verurteilt, wo immer sie vom einzigen Heiligtum und einzigen Priestertum abgewichen ist.

Manche Erzählungsgruppen, wie z. B. diejenigen über die Richter, über die Jugendgeschichte Davids, über Elia und Elisa, sind jedenfalls einige Zeit durch mündliche Überlieferung erhalten worden, ehe sie aufgezeichnet wurden. Beim mündlichen Erzählen werden stets einzelne hervorstechende Züge und besonders ergreifende Ereignisse hervorgehoben, während die Dinge, die ihre Umgebung bildeten, und der Zusammenhang, in dem sie standen, der Erinnerung nicht gegenwärtig bleibt. Das macht, daß später die Ordnung und Zusammenfügung solcher Geschichten auf Schwierigkeiten stößt und nicht mehr ohne Lücken und Risse möglich ist.

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