Krummacher, Gottfried Daniel - Die wunderliche Güte Gottes - 1. Predigt

Krummacher, Gottfried Daniel - Die wunderliche Güte Gottes - 1. Predigt

Das Hohelied Salomos ist ein wundervoller Teil der heiligen Schrift, und es ist mir wohl merkwürdig vorgekommen, daß dies Büchlein in der hebräischen Bibel auf das Buch Hiob folgt und dem Büchlein Ruth vorhergeht. Und folgen nicht häufig im Reiche Gottes die höchsten Freuden auf die tiefsten Trübsale? Wunderbar in diesem Büchlein kommt mir namentlich die Stelle im 1. Kapitel 5.6 vor, wo die Freundin von sich selbst sagt: Ich bin schwarz, aber gar lieblich. Sehet mich nicht an, daß ich so schwarz bin, denn die Sonne hat mich so verbrannt. Die Schwärze und Lieblichkeit scheinen sich bei einer und derselben Person zu gleicher Zeit nicht wohl zu reimen. Auch scheint es sonderbar, daß sie nicht darauf angesehen sein will, daß sie nicht nur schwarz, sondern so schwarz, es in solchem Grade sei, denn die Sonne hat mich so verbrannt. Die Heiligen der Schrift reden oft auf eine scheinbar widersprechende Weise von sich und überhaupt von Kindern Gottes, bald zu hoch, bald zu niedrig. Hört einmal Paulum. Jetzt sagt er: Ich vermag alles, freilich mit dem Zusatz: Durch den, der mich mächtig macht; dann sagt er wieder: Nicht daß ich tüchtig wäre, etwas zu denken aus mir selber, und redet in dem Ton des Hoheliedes, wenn er sagt: Wenn ich schwach bin, so bin ich stark. Er sagt: Ich habe mehr gearbeitet denn sie alle, und wiederum: Nicht ich, sondern die Gnade, die mit mir ist. Er nennt sich einen Lästerer, einen Verfolger und Schmäher und fragt doch: Wer will verdammen? Abraham nennt sich Staub und Asche. Johannes aber überbietet ihn noch, wenn er sich für unwert erklärt, Christo die Schuhe zu tragen. Dies lassen wir als Demut gelten. Aber was sagt Assaph Ps. 73, 22 von sich? Buchstäblich heißt es: Ich bin wie ein dummes Vieh vor dir. Und wie redet Agur von sich Spr. 30? ich bin der Allernärrischste, und Menschenverstand ist nicht bei mir, Weisheit habe ich nicht gelernet, und was heilig ist, weiß ich nicht. So schwarz brannte sie die Sonne und verbrannte bei ihnen alle Kraft, alle eigene Weisheit, alle eigene Würdigkeit. Eine solche Selbsterkenntnis wurde ihnen zu teil. Durch den Propheten Maleachi (Kap. 1,2) sagt Gott zu den Juden: Ich habe euch lieb. Sie antworteten aber: Womit hast du uns lieb? als wollten sie sagen: Das können wir doch nicht merken, wie auch Paulus sagt: Wir werden geachtet für Schlachtschafe. Und die Erfahrung bestätigt häufig sein Wort: Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christum, so wären wir die elendesten unter allen Kreaturen. Die Sonne der Trübsal brennt sie so schwarz. Das sind Rätsel in den Wegen Gottes. Laßt uns etwas zur Auflösung derselben versuchen.

Psalm 17,7

Beweise deine wunderliche Güte, du Heiland derer, die dir vertrauen, wider die, so sich wider deine rechte Hand setzen.

Unserm Texte folgend, betrachten wir die Bitte Davids wegen der Güte Gottes, und zwar:

  1. Die Güte Gottes,
  2. Davids Begehren in Absicht derselben.

David redet von etwas höchst köstlichem, tröstlichem, lieblichem, nämlich von der Güte Gottes, von seiner Milde und Gnade. Und wovon könnten wir lieber hören, als davon, wovon David redet, von der Güte Gottes.

Gott ist gut und ist das höchste Gut. Es gibt nichts besseres wie ihn, nichts, das eben so gut wäre wie er, nichts, das ihn ersetzen und uns schadlos halten könnte. Alles Gute kommt von ihm und nirgends anders her, sei es unmittelbar, sei es, daß seine Güte sich hinter Mittel versteckte, wie gewöhnlich. Öffnet er seine Segenshand, so sammeln wir, schließt er sie, so sind alle unsere Bestrebungen, Witz und Kunst vergeblich. Niemand ist gut, als er allein. Alle guten und vollkommenen Gaben kommen von oben herab, vom Vater des Lichts, alle. Eigentlich redet David in seiner Sprache in der Mehrzahl, von Gütigkeiten. Dazu bewog ihn die Vortrefflichkeit derselben. Sie ist besser denn Leben. Ohne dieselbe ist nichts vortrefflich. Ein Stück trocken Brot mit dieser Güte gewürzt ist besser als ein gemästeter Ochse ohne dieselbe. Lazarus voll Schwären ist durch die Güte draußen vor dem Palast besser gebettet, als der reiche Mann drinnen, trotz seines Purpurs. Lazarus ist ohne Geld reicher als dieser mit allen sein Kapitalien, bei welchen er blutarm ist. Denn jener hat ein Erbgut im Himmel, auf diesen wartet eine gräßliche Behausung in der Hölle. Nichts habe für uns Wert als des Herrn Güte! Sie sei uns das höchste, wie sie es verdient! David spricht von der Güte in der Mehrzahl, Gütigkeiten, wegen ihres Umfangs. Wer über diese Gütigkeiten predigen will, begibt sich wie auf ein uferloses Meer. Er könnte Bücher darüber schreiben, ohne diesen Gegenstand zu erschöpfen, und je mehr er darüber dächte, redete, schrieb, desto mehr bliebe noch übrig. Wie köstlich sind vor mir deine Gedanken, o Gott! Wollte ich sie zählen, so ist ihrer mehr denn Sand am Meer (Psalm 139). Sie erstreckt sich über alle, auch die vernunftlosen Geschöpfe, und das Geschrei hungriger Raben wird von seiner Gütigkeit für ein Gebet geachtet, und er sollte seine Auserwählten nicht retten, die zum ihm schreien Tag du Nacht und sollte Geduld darüber haben? Auch die Gottlosen genießen die Früchte seiner Gütigkeit. Auch über sie läßt er seine Sonne scheinen und gibt ihnen Regen und fruchtbare Zeiten. Weißt du aber nicht, daß dich Gottes Güte zur Buße leite? Du aber nach deinem verstockten, unbußfertigen Herzen häufest dir selbst den Zorn, auf den Tag des Zorns. Was will's werden, wenn die Güte Gottes über dir zu Ende läuft und dem Zorn Bahn macht! Das zeitliche und irdische ist ihr Gebiet, und die Gütigkeiten sind es, denen wir Odem, Leben, Gedeihen verdanken. Aber sie hat noch bessere Gaben. Sie verteilt geistliche, himmlische Güter und Gaben von dem allerhöchsten Wert. Darnach trachte vor allem! Besitze in der Welt, was es immer sei, Gott hat noch besseres denn das, was er dir geben kann. Suche es! Die Vergebung der Sünden, ein neues Herz, das ewige Leben, das sind Gaben, deren Wert unermeßlich, deren Dauer ewig ist. Wer ist glücklicher als derjenige, der sie besitzt, wer unglückseliger, als der sie nicht hat? Gütigkeiten sagt David in der Mehrzahl und deutet damit auf ihre unerreichbare Größe. Sie übersteigt jedes Maß und alle unsere Vorstellungen. Wer kann's ergründen, was der Sohn Gottes selbst mit heiligem Erstaunen und anbetender Bewunderung spricht, wenn er sagt: Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn dahingab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben! Wer verstände dies also? Der wäre im Himmel. Wer ist der Geber, welches ist die Gabe, wer ist der Empfänger, was ist der Zweck, was ist die Ursache? O des gottlose Teufels, der uns dies verdeckt! O des gottlosen Unglaubens, der uns wehrt! O der abscheulichen Eigenliebe, die sich selbst vergöttert! Also, also preiset und rühmt Gott seine Güte, seine Liebe gegen uns. Und wir? Haben wir geglaubt und erkannt die Liebe, die Gott zu uns hat? Sie treibt alle Furcht aus. Tut sie das bei dir? Wollen wir die Größe der Liebe weiter beschauen, ist es nicht, als wollten wir in die Mittagssonne hineinschauen? Sehet den ewigen Sohn Gottes, welcher ist Gott hochgelobet in Ewigkeit, sehet ihn im Stall und in der Krippe zu Bethlehem, sehet ihn in der Werkstatt zu Nazareth, sehet ihn im Staube mit dem Tode ringend in Gethsemane, sehet ihn unter der Geißel, sehet ihn mit Dornen gekrönt, ja seht ihn als einen wirklich Verfluchten, tot am Kreuze! Denkt euch dabei: Für uns, dabei: Es ist Gott, dieser Mensch, dabei: Dies alles hat er uns getan, sein' große Lieb' zu zeigen an; müßt ihr nicht bekennen: Die Liebe Christi übersteigt allen Verstand? Bedenken und erwägen wir die großen Wohltaten, die wir dieser Liebe verdanken, die unermeßlichen Übel, wovon sie uns erlöset, erwäge ich, daß ich dadurch gerecht und zwar so gerecht worden bin, als hätte ich nie keine Sünde begangen noch gehabt und selbst alle den Gehorsam vollbracht, den Christus für mich geleistet, erwäge ich, daß aus dieser blutigen Quelle meine Heiligung, daß das ewige Leben daraus herfließet, so merke ich, wie viel Ursache vorhanden sei, die Güte Gottes groß zu nennen.

Nun betet David: Beweise deine wunderliche Güte, oder mache deine Güte wunderlich! So zeigt sich die Güte, wenn sie unerwartet und plötzlich sich erweiset, z.B. an David, da er so gut als in Sauls Händen war und durch einen plötzlichen Einfall der Philister ins Land errettet wurde, weil Saul ihn lassen mußte. Wunderlich ist eine Sache, wenn sie mit sonderlichen Umständen verknüpft ist, z.B. die Erlösung Josefs vermittels des Traumes Pharaos; wunderlich, wenn sie über, ja wider die Vernunft ist. David befand sich in großen Nöten, umringt von vielen boshaften, gottlosen und mächtigen Feinden, die ihm überlegen waren. Bei sich selbst fand er keine Hilfe und fand überhaupt keine Hilfe, wo er sich auch umsah. Er glaubte seine Errettung sei wie ein Wunder und betet deswegen: Erweise deine wunderbare Güte! Lasset uns denn die Güte Gottes in einigen Beziehungen als wunderlich betrachten! In einigen Beziehungen sage ich, denn wollte man es erschöpfen, so möchte man mit Johannes sagen: Ich achte, die Welt würde die Bücher nicht begreifen, die zu schreiben wären, weder ihrem Inhalt noch ihrer Zahl nach. Die Gütigkeiten Gottes erscheinen als wunderlich, wenn wir erwägen, wie böse wir sind. Je mehr uns unsere Bosheit einleuchtet, desto wunderlicher wird uns die Gutheit Gottes vorkommen, so wie sie in unserm Urteil geringer werden wird, je nachdem wir selbst eine Würdigkeit und ein Recht zu haben meinen. Daß Gott sich gütig erweiset gegen seine guten und heiligen Geschöpfe, wie die Engel sind, ist nicht zu verwundern. Auch ist es nicht zu verwundern, wenn er gütig ist gegen Bekehrte und Fromme. Aber er ist gegen Undankbare gütig. Glichen wir dem Sohne Luk. 15, der da sagen durfte: Ich habe dein Gebot noch nie übertreten, so möchten wir wie dieser glauben, ein Recht an seine Wohltaten zu haben. Da wir aber des Vaters Haus und Gebot verlassen haben, und dennoch, in Gnaden zurückgerufen, wenn wir kommen, mit Freuden aufgenommen und indessen mit so vieler Güte, Schutz, Bewachung und Errettung, ohne alle Dankerwiderung überschüttet werden, das ist eine wunderliche Güte. Ja gewiß, je herzlicher wir bekennen können, daß wir von Natur geneigt sind, Gott und unsern Nächsten zu hassen, je unumwundener wir mit David gestehen, daß meiner Sünden mehr sind als Haare auf meinem Haupte und Sandes am Meer, und mit unserm Katechismus, daß ich wider alle Gebote Gottes schwerlich gesündiget und derselben keines nie gehalten habe, auch noch immerdar zu allem Bösem geneigt bin, desto mehr werden wir ausrufen: O Wunder der Güte! als wunderlich erweiset sich die Güte Gottes, wenn sie sich solchen erweiset, die vor andern her derselben unwürdig und sogar für dieselbe unempfänglich zu sein scheinen, und an solchen vorbeigeht, die würdiger und empfänglicher erscheinen. Es ist gewiß, daß Gott gegenüber von keiner Würdigkeit die Rede sein kann. Aber wenn seine Güte sich an solchen verherrlicht, die bisher als offenbar Gottlose da standen, so erscheint sie wunderbarlicher, als wenn sie sich wohlgesitteten, ehrbaren Jünglingen und Jungfrauen, Männern und Weibern erweiset. Wer schien für die Gnade Gottes nicht nur unwürdiger, sondern auch unempfänglicher als Saulus, dieser blutdürstige Lästerer, Schmäher, Verfolger und Feind Christi und seiner Anhänger? Wer hätte es denken sollen, daß aus einem solchen so plötzlich ein so vollständiger Freund Christi werden würde, ja, ein Apostel? Er verwundert sich auch selbst über das Exempel der Gnade, das Gott an ihm statuiert habe. Und an jenem achtbaren Jüngling, einem Jüngling, den Jesus selbst lieb hatte, einem Jüngling, der so empfänglich fürs Gute zu sein schien, der kniend fragte: Guter Meister, was muß ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe? geht sie vorbei! O wunderliche Güte! wird einer der gottlosesten Könige wie Manasse, wenn auch durch die schärfsten Mittel, bekehrt, findet ein Schächer noch in seinen letzten Stunden, und vielleicht noch kurz nachher, als er Jesum gelästert hatte, Gnade; wird den Juden, die den Herrn der Herrlichkeit verleugnet, gekreuzigt und getötet hatten, Gnade angetragen und sie ihrer guten Teils teilhaftig, was erweiset sich da anders, als eine wunderliche Güte? Was ist es anders, als sie, die einen schwachen Nikodemus und Josef von Arimathia, bei dem Tode Jesu so stark und mächtig machte, sie, die während seines Lebens sich's nicht merken ließen, daß sie es mit ihm hielten! In der Tat, je weniger Würdigkeit und je größere Unwürdigkeit wir bei uns selbst finden, je mehr wir erkennen, daß wir nichts dazu beigetragen haben, noch beitragen können und sollen, desto wunderlicher erscheint uns die Güte Gottes. O wunderliche Güte! Die Juden, dieses alte Bundesvolk, diese Blutsverwandte Jesu, liegen nun schon seit mehr als anderthalb Tausend Jahren unter dem Fluche, und die Güte Gottes wendet sich zu uns Heiden. O Wunder!

Wunderlich erscheint uns die Güte Gottes, wenn wir sehen, wie sie sich wohl an denen zeiget, denen Zorn und Unglück gebühret, und hingegen denen Zorn und Züchtigung widerfährt, welche nähere Ansprüche an seine Güte haben, die er ihnen verheißen hat. Die Erfahrung lehrt, daß es dem Gottlosen in dieser Welt oft sehr wohl, dem Frommen aber oft sehr übel geht. Lot war der einzige Gerechte, aber auch der gequälteste in Sodom. Moses nennt sich selbst den geplagtesten Menschen auf Erden. Nebukadnezar, dieser gottlose und abgöttische König, triumphiert über unzählige Völker und über das Volk Gottes selbst. Aber die Gottesmänner Hesekiel, Daniel und andere mußten sich von ihm in schnöde Dienstbarkeit wegschleppen lassen. Der reiche Schlemmer lebte alle Tage herrlich und in Freuden, und der fromme Lazarus lag arm und krank in seiner Tür. Hiob, von dem Gott selbst bezeugte, es sei an Frömmigkeit seines Gleichen im Lande nicht, mußte das Äußerste an seinem Leibe und noch Schwereres an seine Seele erdulden, und sich dabei von seinen Freunden als einen Gottlosen verurteilen lassen, während seine Räuber wohllebten. Paulus, dies auserwählte Rüstzeug Gottes, führt ein ganzes Register seiner Trübsale an, an deren Spitze ohne Zweifel die Faustschläge des Satans standen, die falschen und trüglichen Apostel aber wurden mit dem Kreuze Christi nicht verfolgt, wie denn die heiligen Apostel als die allerniedrigsten gehalten wurden. Der fromme David klagt auch in unserm Text-Psalm über die Leiden, welche ihm die Gottlosen antaten, die er Vers 14 Leute dieser Welt nennt, denen Gott den Bauch füllt mit seinem Schatz. Sein Sohn Salomo sagt: Allerlei habe ich gesehen die Zeit über meiner Eitelkeit. Da ist ein Gerechter und geht unter in seiner Gerechtigkeit; da ist ein Gottloser und lebt lange in seiner Bosheit. Es sind Gerechte, denen geht es, als hätten sie Werke der Gottlosen, da sind Gottlose, denen geht es, als hätten sie Werke der Gerechten; das ist auch eitel. Das übte auch den heiligen Assaph so im Nachdenken, daß seine Füße beinahe darüber gestrauchelt wären. Ich dachte darüber nach, daß ich's begreifen möchte, aber es war mir zu schwer, sagt er. Jakob habe ich geliebet, sagt Gott, er selbst aber sagt: Es geht alles über mich. Esau habe ich gehasset, sagt Gott, und seine Söhne waren schon Fürsten. Solch' Erkenntnis ist mir zu wunderlich und zu hoch. Die Güte versteckt sich hier wie di Saat unterm Schnee, wie die Sonne hinter Wolken. Sie gleicht dem verfinsterten Monde. O wunderliche Güte, die es den Gottlosen oft so wohl und den Gerechten so übel gehen läßt! Das höchste Wunder dieser Art sehen wir mit Erstaunen an dem einigen Gerechten Jesu Christo selbst, dem Sohn des Allerhöchsten, da die Sonne sich verhüllte, weil den Zorn ihr Schöpfer stillte. O wunderliche Güte, die den zur Sünde machte, der von keiner Sünde wußte, die ihn unter die Übeltäter rechnete, um Übeltäter unter die Gerechten zu rechnen. O wunderliche Güte!

Als wunderlich tritt die Güte Gottes hervor, wenn sie oft da zu zürnen scheint, wo sie nichts als Liebe übt. Diese Rose zu Saron versteckt sich oft unter scharfen Dornen. Dieser Arzt gibt oft die bittersten Arzneien und nimmt wohl die schmerzhaftesten Verwundungen vor in der Absicht, das Leben vom Verderben zu retten. Jesus will zu Kana seine Herrlichkeit offenbaren. Aber welch' einen Weg schlägt er ein? Es entsteht ein bitterer, schimpflicher Mangel. Er wird darauf aufmerksam gemacht durch seine liebe Mutter. Er scheint's übel zu nehmen und fährt seine Mutter an: Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? meine Stunde ist noch nicht gekommen. Statt des mangelnden Weins läßt er gleichsam höhnend Wasser in Menge herein bringen und befiehlt gleichsam spottend: Schöpfet nun und bringet es dem Speisemeister; da offenbarte Jesus seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn. Welch' eine wunderliche Güte bewies sich an Lazarus und seinen Schwestern. Zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch geehrte werde, muß Lazarus erkranken. Als Jesus von seiner Krankheit hört, bleibt er gleichsam teilnahmslos und unbekümmert noch zwei Tage da, wo er ist, wie eilig auch die geängsteten Schwestern sein mögen. Lazarus wird indessen kränker und kränker. Ja, er stirbt. Er wird begraben, vier Tage nachher kommt Jesus, also viel zu spät. Er weint, wie er die Maria weinend zu seinen Füßen sieht, als ob er nicht mehr könnte als andere Leute auch. Wie aber alles aus und vorbei zu sein scheint, da hilft er durch ein Wort. Aber warum den Lazarus aufwecken, der so sanft schlief und ruhete, da er nun noch einmal sterben mußte, und der hohe Rat gar darnach trachtete, ihn ums Leben zu bringen, er auch das unerträgliche Herzeleid erleben mußte, daß sie seinen Jesus nahmen, kreuzigten und töteten? O Güte! O wunderliche Güte! Wer hat des Herrn Sinn erkannt? Wie wunderlich, wenn sich die Seele zum Guten neiget und nun wohl Widerstand auf Widerstand findet von außen und von innen, so daß man wohl erweckte Seelen sagen und klagen hört: Ach, wer bin ich, mein Erlöser? Täglich böser find' ich meiner Seele stand; oder auch:

Herzens-Jesu, mein Verderben
Ist ganz unergründlich tief;
Lange war ich nicht so böse,
Ehe mich die Gnade rief,
Als ich mich jetzund erkenne,
Da ich nach dem Kleinod renne.

Als jenes vom Teufel geplagte Knäblein zu Jesu gebracht wurde, so wurde es unter seinen heilenden Händen so arg mit ihm, daß etliche sagten: Er ist tot. Wenn die Güte jemanden demütigt, um ihn groß zu machen, und tötet, ihn lebendig zu machen, so ist das eine sehr wunderliche Güte. Als wunderlich gestaltet sich die Güte Gottes, wenn die ersehnte, verheißene und erbetene Hülfe lange und wohl so lange verzeucht, daß sie unmöglich geworden zu sein scheint, und dagegen das Übel so lange drückt, als ob gar kein Aufhören daran wäre. Wie das Herz durch solche Wege zerrissen, mit welchen schmerzhaften Empfindungen und schweren Gedanken es durchbohrt werden kann, drückt namentlich Assaph Psalm 77 mit erstaunlichen Worten aus, wenn er sagt: Wird denn der Herr ewiglich verstoßen und fortan keine Gnade mehr erzeigen? Ist's denn ganz und gar aus mit seiner Güte, und hat die Verheißung ein Ende? Wenn allerlei Heimsuchungen Stunden oder Tage dauern, möchte man sich noch darin fügen, wenn sie aber Monate und Jahre dauern, möchte man sich darüber wundern. Ein Hiob klagt: ich habe viele Monate hindurch vergeblich gearbeitet, und der betrübten Nächte sind mir viele geworden: Er sorgte gar, es sei noch mehr dahinter. Kaum war Gott mit Abraham in einen besondern Bund getreten, so wurde ihm auch ankündigt, seine Nachkommenschaft sollte in einem fremden Lande geplagt werden 400 Jahre. David mußte 10 Jahre ein Flüchtling sein und schrie oft: Ach Herr, wie lange? Jenes blutflüssige Weib war zwölf, jener Mann zu Bethesda 38 Jahre krank. Die Zeit, daß des Satans Engel den Apostel plagte, deuchte ihm viel zu lang. Es ist den Gläubigen, wie uns die Psalmen berichten, schon so vorgekommen, als sei Gott, der Hüter Israels, eingeschlafen, als müßten sie ihm sagen: Erwecke dich, Herr! Warum schläfst du? Wache auf und verstoß uns nicht so ganz und gar! Die Kirche hat wohl schon geklagt und wird vielleicht noch klagen: Der Herr hat mein vergessen, wiewohl der Herr antwortet: Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes, und ob sie sein vergäße, will ich doch dein nicht vergessen, siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet. Gewiß lauter Güte. Aber o wunderliche Güte! Zeigt sie sich wieder, wie die Sonne nach dem Regen, o, so ändert sich die Sprache, so heißt es dann: Den Abend lang währet das Weinen, aber des Morgens ist Freude. In seinem Zorn ist ein Augenblick, aber in seiner Güte ein Leben. In einem kleinen Augenblick meines Zorns habe ich dich verlassen, aber mit ewiger Gnade will ich dich sammeln. O Güte, o wunderliche Güte!

Ihr alle habt unzählige Beweise der Güte Gottes empfangen und genossen, mehr als wir wissen, verstehen, begreifen, Beweise der Güte gegen Undankbare. Aber habt ihr sie auch da erfahren, wo sie eigentlich gilt, der Seele nach erfahren in den allerunentbehrlichsten und herrlichsten Erweisungen, namentlich darin, daß sie euch zu bußfertigen Sündern, nach Gnade begierigen Sündern gemacht hat, in Vergebung aller euerer Sünden, in der Wiedergeburt? Ist sie euch so zu einer wunderlichen Güte geworden? O, wohl euch dann! Seine Gnade ist eine ewige Gnade. Erweiset sie sich als wunderlich an euch, sie wird sich auch als herrlich erweisen. Beweise dann deine wunderliche Güte, du Heiland derer, die dir vertrauen! Amen.

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