Krummacher, Friedrich Wilhelm - Modernes Christenthum.
Predigt, gehalten den 9. Mai 1852.
Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er ihm dienen lasse, sondern daß er diene, und gebe sein Leben zum Lösegeld für Viele.
Matth. 20,28.
Geliebte in dem Herrn! Oft verlautet in unsern Tagen die tröstliche Behauptung: „Es wird besser!“ Walt’s Gott! Es wäre wohl Zeit, daß es besser würde. Aber ein erfahrener Jäger traut der sanften Miene der Hyäne nicht so bald, der er glücklich seine eherne Schlinge um den Hals geworfen; und ein kundiger Arzt spricht noch nicht sofort von Besserung, wenn der Ausschlag von der Haupt seines Patienten wich, um vielleicht nur um so verderblicher auf die innern Theile zurückzuschlagen. Offenbar dunkelt die Schattenseite unsres Jahrhunderts immer tiefer aus dem Grauen in’s Schwarze hinüber. Daß an demselben aber je länger je mehr auch eine Lichtseite dämmernd sich hervorthut, ist ebenso wenig zu verkennen. Neben dem augenfällig mit Riesenschritten seiner dämonischen Vollendung entgegenreifenden Abfall von Gott und seinem Worte macht sich hin und wieder auch eine Rückbewegung zu Glauben und Kirchlichkeit bemerkbar. Wir freuen uns derselben sehr. Dürfte unsere Freude nur eine ganz ungetrübte und unvermengte sein! Aber nicht überall gibt sich jene Rückbewegung als eine gesunde und wirklich Heil gebährende kund. Vielmehr begegnen uns in wachsender Anzahl, namentlich auch bei uns, der Menschen gar viele, die zur Parthei der Gläubigen zählen, jedoch von unserm heutigen Textesspruche entschieden als Solche gerichtet werden, welche beim schönsten Schein den göttlich vorgezeichneten Heils- und Gnadenweg durchaus verfehlten, und in religiösen Gleisen sich bewegen, in denen sie nimmermehr das Ziel ihrer himmlischen Berufung erreichen werden. Allerlei falsches Christenthum droht unter uns sich einzubürgern. Heißen wir darum dankbar einen Ausspruch aus dem Munde des Königes der Wahrheit selbst willkommen, der uns dasselbe einmal allseitig und scharf beleuchtet, und uns zugleich die rechte und allein seligmachende Heilsordnung auf’s neue zum Bewußtsein bringt.
Ueber ein dreifaches Afterchristenthum ergeht in unserm Texte das Gericht. Ich bezeichne das erste als ein Christenthum verirrter Andacht; das andre als ein Christenthum vorzeitigen Dienens; das dritte als ein Christenthum unbefugten Nehmens und Aneignens.
Laßt uns diese nichtigen Spielarten christlichen Sinnes und Lebens eine nach der andern näher in’s Auge fassen, und den Herrn bitten, daß er uns das Auge schärfe, die Wahrheit zu erkennen, und das Herz bereite, sie zu lieben.
1.
Unser Texteswort enthält ein Zeugniß des Herrn Christus von sich selbst. Die Aussprüche, die von seinem Munde gehen, sind fast alle gleicher Natur und Art. Schlaglichter sind sie, die verklärend auf Ihn selbst zurückgefallen; Reflexe und Strahlenbrechungen seiner persönlichen Schöne und Herrlichkeit. Das Central- und Generaldogma des ganzen Evangeliums ist Er; Er des Christenthums, dasselbe als Lehre oder als Leben aufgefaßt, lebendiger Mittelpunkt, Stern und Kern. Dies wird zunächst in unsern Tagen unzählige Male gänzlich verkannt. Es gibt eine Menge Menschen, die mit ihrer Andacht ich weiß nicht um was alles Christliche sich bewegen, aber zu Christo selbst jeder persönlichen Beziehung ermangeln.
Lasset mich euch einige Klassen und Gruppen dieser modernen Gläubigen namhaft machen und näher in den Gesichtskreis rücken. Zuerst führe ich euch Leute vor, die euch nicht als Fremdlinge erscheinen werden, indem sie haufenweise namentlich unter den Bewohnern unsrer Stadt euch begegnen. Es sind Schwärmende für christliche Kunst, Musik und Poesie, deren ganzes Verhältniß zum Christenthume aber hiemit auch bezeichnet ist. Leute sind’s, die in einem gothischen Dom, vor einem heiligen Gemälde, bei einem liturgischen Gottesdienste, oder auch unter Lesung oder Anhörung eines alten, kernhaften und gesalbten Kirchenliedes in andächtiger Rührung zerfließen können. Aber wollt ihr wissen, wie mir diese Menschen erscheinen? Als Solche, die hoch von ihren Fenstern her den Herrn Christum in solemnem Festpomp bewegt an sich vorüberziehn sehn; deren ganze Andacht aber lediglich in dem Ergötzen aufgeht, welches ihnen der Anblick der künstlerisch prächtigen Tragsessel oder Triumphwagen gewährt, auf denen man den Herrn der Herrlichkeit daherführt. Vorüberziehn sehn sie ihn, und grüßen wohl auch mit einem begeistrungstrunkenen Blick aus der Höhe hinunter; aber Ihm ihre Thüren zu öffnen, und Ihn selbst, und nicht etwa nur die Festmarschälle: Poeten, Componisten und Künstler, zu sich hereinzuladen, daran kommt ihnen kein Gedanke. – Eine zweite Klasse verirrter Andächtigen bilden gewisse Enthusiasten sogar für das Wort Gottes selbst, und dessen ästetische Schönheiten und Weisheitstiefen. Vielleicht sind sie obendrein Meister in christlicher Erkenntniß, ja Dogmatiker ersten Ranges. Aber bei näherer Prüfung findet sich’s, daß sie eigentlich nur an den Hüllen und Windeln herumhandtiren, in denen Jesus eingewickelt ruht, während Er persönlich ihnen ein Fremdling bleibt. Ihnen gilt das zunächst an die Schriftgelehrten Israels gerichtete und meist falsch verstandene Herrenwort Joh. 5: „Ihr suchet in der Schrift, und meinet, (fälschlich) daß ihr darin“ (nemlich in euerm Bibelstudium) „das Leben habet; und sie ist es, die von mir zeuget“, (welchen ihr verwerfet, und der doch allein das Leben ist.) – Die dritte Klasse, auf die ich euer Augenmerk lenke, umfaßt bekannte Eiferer für den Buchstaben der kirchlichen Bekenntnißschriften. Es sind insonderheit diejenigen, welche die Titel “Augustana“, „Concordienformel“ u.s.w. als Partheidevisen in ihren Fähnlein und Schildern tragen. O sie thun wohl, diese werthen Freunde, daß sie mit unerschütterlicher Treue über diesen unschätzbaren Kleinodien unsrer evangelischen Kirche halten. Aber beleuchten wir ihren Standpunkt näher, so ergibt sich, daß sie nur vor dem confessionellen Sakrarium und Heiligenschrein, der Jesum umschlossen hält, aber nicht vor diesem selbst die Kniee beugen. O schenkten sie nur halb so viel Devotion der Person des Herrn Jesu selbst, als sie der kirchlichen Lehrformel von seiner Person beweisen, wahrlich sie ständen ganz anders da, als jetzt. Wie viel weniger störrig und aufgeblasen in fleischlicher Systemsucht und engherzigem Schulfanatismus würden sei sein, als sie zur Schmach des Evangeliums sich jetzt erzeigen; und wie viel reicher würden sie erfunden werden an Demuth, Liebe, Leutseligkeit und allen christlichen Tugenden! Denn mit dem Herrn selber kann man lebendig nicht verkehren, ohne von einer Klarheit zur andern in sein Bild verklärt zu werden. – Eine vierte Klasse besteht aus denen, deren ganze Christlichkeit lediglich auf das Interesse für die Verfassung und äußere Gestaltung der Kirche Christi auf Erden sich beschränkt. Immer sinnen sie darauf, und beeifern sich, Rathschläge zu ertheilen, wie dem Herrn ein recht bequemes Haus gebaut, und eine angemessene Wohnung bereitet und eingerichtet werden können, während sie mit dem Bewohner des Hauses selbst, als dessen dienstfertige Quartiermeister sie sich erweisen, in keinerlei Herzensberührung kommen. – Eine fünfte Klasse endlich umschließt warme Freunde der Mission, und namentlich Liebhaber der Missionsgeschichte. Diese Leute fehlen selten, wo die lieblichen Erzählungen von den Wundern in der Heidenwelt verlauten. Wie bewegt und begeistert kehren sie oft von solchen Stätten wieder heim! Wahrlich, in diesen sollte man ja meinen, die rechten Christen entdeckt zu haben; und doch sind sie in unzähligen Fällen dieses Namens nicht würdiger, als diejenigen, denen die Mission die gleichgültigste Sache von der Welt ist. Es bleibt auch ihnen der Herr jenseits der großen Wasser stehn; und wie viel sie auch von seinen Thaten auf dem fernen, großen Todtenfelde zu hören bekommen und zu berichten wissen, von Thaten, die Er an ihnen selbst verrichtet, wissen sie nichts, und begehren sie auch nicht einmal etwas zu erfahren.
Sagt mir nun aber, ob ihr wohl schon einem Menschen den Ehrennamen eines rechten Patrioten zugestehn würdet, dessen ganzer Patriotismus lediglich in dem Interesse aufginge, das er an den Schlössern nähme, in denen der König residirt, oder an den Gärten, die derselbe pflanzte, oder an den Kroninsignien, in deren Glanze er prangt, oder auch an der Verfassung, die er seinem Lande schenkte; dem aber jede Beziehung der Liebe, der Pietät und der Ergebenheit zu der Person des Königes selbst eine fremde Sache wäre? Gewiß schmücktet ihr einen Solchen nicht mit jenem schönen Namen. Wie viel weniger aber wird der Christenname Leuten gebühren, die nur Geschmack und Empfänglichkeit beweisen für dies und das, was, sei es als Gewand, oder als Wohnung, oder als Pflanzung, oder als was sonst, den Herrn Jesum nur umgibt, dagegen zu Jesu selbst keines persönlichen Verhältnisses sich bewußt sind! – O Brüder, unsre Andacht ist nichts werth, und wir fahren einmal mit ihr unfehlbar an der Himmelsthür vorüber, so lange sie nicht zuerst und vor Allem auf Christum selbst gerichtet ist. Mit ihm selber gilt es Umgang pflegen, und zwar Umgang nicht müßiger Beschauung und ideeller Reflexion nur, sondern einer lebenskräftigen Wechselbeziehung in Liebe geben und Liebe nehmen, in Hülfe suchen und in Hülfe finden u.s.w. Unser Kämmerlein muß zu seinem Tempel, unser Leben zu seinem Missionsfeld, unser Herz zu seiner Werkstatt werden, und unsre persönliche Erfahrung ein Jahrbuch sein, in welchem von Ihm und seinem Thun zu lesen ist. Was frommt es, daß wir Meister seien im Wissen von dem, was Jesus in weiter Welt gethan hat, oder thut, wenn wir nicht auch ein Gedenkbüchlein in unserm Innern bergen, in welchem, was wir mit Ihm erlebten und von Ihm erfuhren, verzeichnet steht? – Ach, man kann viel Christlichkeit um und an sich tragen, ohne darum noch mehr ein wirklicher Christ zu sein, als es der entchristlichste Weltmensch ist. So lange, - laßt mich’s noch einmal sagen, - der persönliche Christus nicht der lebendige Mittelpunkt all eures Liebens, Begehrens und Verkehrens ward, kann von wahrem Christenthum bei euch noch keine Rede sein. Paulus spricht: „Ich lebe nun; doch nicht ich, sondern Christus lebet in mir.“ Dies ist die Signatur der wahren Christen. „Christus ist mein Leben,“ spricht er an einem andern Orte. Merkt wohl, nicht sagt er “Christliches“, oder “Christo Angehöriges“, oder “durch Christum Gegründetes“, sondern “Christus“. Ruhen wir nicht, bis wir in voller innerer Wahrheit dasselbe sagen können; und seien wir nicht Kunst-, Schul- und Formelchristen u. dergl., sondern Schäflein des guten Hirten, die auf Ihn selbst ihre ganze Andacht und Liebe concentriren.
2.
Hören wir weiter! neben dem Christenthum verirrter Andacht begegnet uns in unsern Tagen ein anderes, das zwar dem wahren noch ähnlicher sieht, als jenes, das wir aber, auf des Herrn Wort in unserm Text gestützt, ebensowohl als ein falsches und nichtiges richten müssen. Ich nannte es ein Christenthum vorzeitigen Dienens. Dieser Ausdruck befremdet euch, stößt euch, macht euch stutzen. Nun, vorab allen Mißverstand bei Seite! Es versteht sich: Ihm zu dienen, sind wir da. Ja, der Beruf unsres Lebens geht in dem Einen auf, daß wir als willfährige Knechte und Mägde auf seiner Augen Wink und seine Hände schauen, und mit Allem, was wir sind und haben, Ihm rückhaltlos uns zur Verfügung stellen. So ist’s denn wohl gethan, daß ihr euch rührt in guten Werken, tapferen Bekenntnissen, lieblichen Gottesdiensten und christlichen Bethätigungen aller Art. Aber Alles fein zu seiner Zeit! Ueberstürzt euch nicht, mäßiget eure Hast, damit nicht selbst die heilige Straße, die ihr zieht, euch eine Straße zur Hölle und Verdammniß werde. „Was“, schreit ihr auf, „eine Straße zur Verdammnis!?“ – Ich rede wohl Ueberlegtes, lieben Freunde. Hört, der Herr ruft euch heute mitten in eure christliche Betriebsamkeit hinein ein nachdrucksvolles „Halt!“ O, welch ein Wort, das er euch zu beherzigen gibt! “Des Menschen Sohn“, spricht er, “ist nicht gekommen, daß er Ihm dienen lasse, sondern daß er diene.“ – „Wie“, entgegnet ihr betroffen, „er kam nicht, daß er sich dienen lasse?“ – Nun seht, da haben wir es ja! Unzählige selbst unsrer scheinbar besten Christen wissen nicht, was sie mit jenem Ausspruch ihres Meisters machen sollen. Sie dienen und dienen. Sie treiben äußere Mission und innere. Sie sind geschäftig in Kranken- und Armenvereinen. Sie thun Handreichung bei Errichtung von Privatanstalten und Kindergottesdiensten. Sie gründen Nähschulen und bauen Asyle für Verwahrloste. Ueberdieß ist ihres Dienstes kein Ende mit Kirchenbesuch, mit Nachtmahlsgang, mit Bücken und Knien vor dem großen Gott, mit frommen Liedesklängen, mit Abwartung liturgischer Andachten, und mit was Allem sonst noch. – „Und das wäre nicht löblich?“ – O, sehr, sehr, meine Lieben! Aber tausendmal lese ich’s diesen Leuten von der Stirn und aus ihrer ganzen Erscheinung heraus, daß sie von dem, was unser Text besagt, gar keinen Begriff, ja nicht einmal eine Ahnung haben. Ei, ist denn der Herr Christus zu uns gekommen als zu wohlstehenden und vermögenden Leuten, um sich einmal gütlich bei uns zu thun, und aus unsern Schätzen sich beschenken, mit unsern Blumengewinden sich kränzen zu lassen? So scheinen sich die Leute, von denen ich rede, in ihrem Dünkel die Sache vorzustellen. Aber sie mögen von ihm selber hören, wozu er kam. „Des Menschen Sohn“, spricht er, „ist nicht gekommen, daß er Ihm dienen lasse, sondern daß er diene, und gebe sein Leben zum Lösegeld für Viele.“ Hört, zum Lösegeld! Für wen wird Lösegeld gezahlt? Für Solche, die selbst von allen Mitteln entblößt sind; und dazu für Sklaven, für Gefangene, für Verhaftete, für Verurtheilte, für Todeskinder. Hier merkt, was für eine Anschauung Jesus von uns hegt. Fürwahr, ihr seid bei allem Schein der Christlichkeit der euch umgibt, nicht einmal dem Anfange nach vom Geist erleuchtet, sondern verdüstert durch und durch, die ihr Christo mit euern Weihrauchpfannen und Blumensträußen voranzieht, statt vor Allem und zuerst mit einem „Sohn Davids, erbarme dich unser!“ eure Bande ihm darzuhalten, daß er sie löse, und eure Wunden und Eiterbeulen vor ihm zu entblößen, daß er sie heile.
Wo aber sind die Stätten in eurem Leben, da ihr zerschmettert vom Gesetz zu seinen Füßen gelegen, und als arme Sünder um einen Gnadengroschen ihn angebettelt habt? Wo sind sie, da er euch verlorene Schafe auf seine Achseln nahm, und in seine Hürde euch hineintrug, und, nachdem er vollends euch den Staar gestochen, und von euerm Elend die letzte Decke der Verblendung weggehoben, den göttlichen Dienst einer Auferweckung vom geistigen Tode und einer durchgreifenden Herzenserneuerung euch erzeigte? Ach, dergleichen Stätten finden sich in euerm Leben nicht, wie auch in euerm Herzen kein Bedürfniß sich findet, daß er fortfahren möge, begnadigend, vergebend, tragend, belebend, durchhelfend und stärkend euch zu dienen. Aus diesem Grunde fehlt denn auch eurer Christlichkeit der Schmelz der Demuth und göttlichen Herzenseinfalt, so wie der anmuthsvolle Stempel der wahren, kindlichen und sich selbst vergessenden Liebe. Ja, eure Christlichkeit ist nur leerer Schein, und verhält sich zu der wahren wie Glas zum Diamant, wie die Papierblume zu der, die Gott gepflanzt hat. Spreu seid ihr in der Wage des Heiligthums. Wollt ihr vollwichtig werden, so gebet Ihm vor Allem Raum, daß, bevor ihr Ihm dient, Er euch dienen könne. Legt euch in seine Werkstatt hinein; befehlt euch als ein elender Thon seinen Bildnerhänden. Laßt euch von ihm erleuchten, absolviren, wiedergebähren und heiligen. Gönnet ihm, daß er euch wasche mit seinem Blute; und dann als die Gewaschenen tretet ein in die Dienste an seinem Heiligthum. Erfahrt Ihn erst als den Retter eurer Seelen; und als die Geretteten streut dann Ihm eure Palmen. Laßt Ihn sich erst als Arzt an euch erweisen, und als die Geheilten bringt Ihm eure Opfer. Werdet erst seiner als des Heilandes armer Sünder inne, und dann feiert Ihn huldigend als euern König! O wie so ganz anders werdet ihr alsdann Ihm dienen, als gegenwärtig; und wie wird das stille, anspruchslose, von Kindesliebe bewegte Dienen, zu welchem ihr nunmehr geschickt geworden, Seinem Herzen so angenehm und lieblich sein! Wisset ihr, was der Herr von euerm jetzigen Dienen urtheilt, von diesem Dienen ohne Armesünderschaft, und ohne Sehnsucht, daß Er euch seine Dienste erweisen möge; von diesem Dienen, mit welchem ihr genau besehn nur auf pharisäisch selbst erwähltem Wege euch mit Ihm abzufinden hofft? Aus seinem eignen Munde könnt ihr es vernehmen. Diesem euerm Dienen, wie es gleiße, wie es rausche, gilt das Wort des Herrn bei Jesaias: „Mich gelüstet eures Dienstes nicht;“ so wie dasjenige bei Amos: „Ob ihr mir gleich Brand- und Speisopfer opfert, so hab ich keinen Gefallen daran. Thuet nur auch hinweg von mir das Geplärr eurer Lieder; denn ich mag euer Psalterspiel nicht hören, und in eure Versammlungen nicht riechen!“ Wie schrecklich klingen diese Worte; aber in wie viele unsrer heutigen Christencirkel zucken sie wie vernichtende Blitze herein, und treffen zur Rechten und zur Linken.
Ich nenne eine dritte Art falschen Christenthums, oder laßt mich lieber sagen, eine dritte bedenkliche Verirrung auf kirchlichem Gebiete. Ich bezeichnete sie als ein Christenthum unbefugten Nehmens und Aneignens; und ihr werdet schon ahnen, auf was ich hiemit ziele. Entsetzlich ist’s, wie viel Wahn und Selbstbetrug hinsichtlich der Berechtigung zur Aneignung der Gnadenschätze Christi in der heutigen Christenheit im Schwange geht. Nicht rede ich hier von den Verblendeten, deren ganzes Christenthum lediglich darin besteht, daß sie einmal die Wassertaufe empfangen haben, und die nichtsdestoweniger in diesem ihrem Getauftsein die unfehlbare Bürgschaft ihres einstigen Seligwerdens zu besitzen wähnen. Als ob ein Judas Ischarioth, ein Simon der Magier, ein Alexander der Schmidt nicht auch getauft gewesen wären; und doch waren sie Kinder des Teufels, zur Schlachtbank des Gerichts gezeichnet! Ich rede ebensowenig hier von denen, die sogar allein das seligmachende Christenthum und zwar darin inne zu haben glauben, daß sie einer, wie sie vorgeben, in Lehre, Cultus und Verfassung durchaus reinen, unverfälschten Kirche angehören. Aber haben sie weiter nichts, als dies ihr sogenanntes reines Kirchenthum, so mögen sie sich vorsehn, daß es ihnen nicht einst ergehe, wie jenen Menschen im Evangelio, die von sich, und zwar mit gutem Grunde, rühmen konnten: „Haben wir nicht in deinem Namen geweissagt, (d.i. die reine unverfälschte Lehre ausgebreitet)? Haben wir nicht vor dir gegessen und getrunken, (d.h. das heil. Abendmahl richtig aufgefaßt und vorschriftsmäßig verwaltet)? Haben wir nicht in deinem Namen Teufel ausgetrieben, (d.h. Irrthümer und Ketzereien aus unsrer Gemeinschaft gebannt)? und zu denen es doch heißen mußte: „Ich habe euch noch nie erkannt, weichet alle von mir, ihr Uebelthäter!“ Vielmehr rede ich hier vorzugsweise von denen, welchen ebenfalls deucht, die Vergebung der Sünden lasse sich nur so vom Zaune brechen, während sie doch nur gebrochen wird vom Baum des Lebens, zu welchem aber nicht anders, als durch eine sehr enge Pforte zu gelangen ist. Ich rede, - wie soll ich sie nennen? – von gewissen Kirchen-, Altar- und Formelchristen, deren Zahl in unsern Tagen Legion ist, und die, gut römisch, obwohl sie Protestanten heißen, ausschließlich auf das äußere Werk eines Abendmahlsganges, oder gar auf die vom Geistlichen bei der Vorbereitung ausgesprochene kirchlichen Absolution, und nebenher etwa auf eine festliche Stimmung hin, die sie empfanden, dem Bewußtsein bei sich Raum zu gestatten wagen, da ihnen ihre Sünden verziehen seien. Aber so mechanisch gelangt man zu dem Kleinod der Vergebung nicht. Das Christenthum, das diese Himmelsfrucht uns abwirft, ist gar ein anderes, als dasjenige, welches nur so äußerlich wie ein Feiertagskleid angelegt, und wie ein Hofceremonial vollzogen wird, und das so häufig als die rechte moderne Religiösität namentlich in unsren höheren Cirkeln, in den Kreisen unserer „christlichen“ Staatsmänner und Würdenträger uns begegnet. Aber der Herr Christus hat das Vorrecht, Sünden zu vergeben, an Niemanden abgetreten. Es wird die Vergebung nur von Ihm selbst ertheilt, und allein zu Seinen Füßen empfangen. Wer da noch niemals lag und um sie rang, bilde sich nicht ein, daß er sie besitze. Nur auf wahrhaft gebeugte und zerschlagene Herzen versiegelt er sie; und auch solche Herzen sind es nur, welche das Wort der kirchlichen Absolution sucht. O ja, der Herr spricht in diesem Worte nicht selten mit; aber denke Keiner, daß Er sich an dasselbe gebunden hätte. Gewiß vermischt er Seine Stimme mit demselben nicht, wo Leute Ihm gegenüber stehn, in denen der Hammer des Gesetzes die Höhen noch nicht niederschlug, und der Petrus-, Zöllner- und Magdalenenschmerz die Thränenquellen noch nicht öffnete. Für diese ist die Vergebung verkündende Kirchenform schlechthin bedeutungslos; ja bedeutungslos und inhaltsleer bleibt sie für Jeden, der nicht als armer zerknirschter Sünder zu Ihm selbst seine Zuflucht nahm, und von Ihm persönlich die Absolution erbettelt. – Nicht ohne Absicht sagt der Herr in unserm Texte, daß er sein Leben zum Lösegeld für “Viele gebe. Hätte er gesagt, “für Alle“, so könnte es den Anschein gewinnen, als habe er das Gnadencapital – ich möchte sagen: in Gestalt eines Fideicommisses – der Menschheit als einer unterschiedslosen Gesammtheit übertragen wollen. Aber Er will sich als den Heiland der einzelnen Individuen erzeigen, und erfinden lassen. Nur „wer persönlich zu Ihm kommt“, wird gesegnet und getröstet. Darum das Wörtlein “Viele“.
Welch ein Leben entfaltet sich aber da, wo der Vergebungstrost nicht vermittelst unbefugter Einbildung als angemaaßter Raub, sondern in rechtmäßigem Wesen als Gabe des Herrn in ein Herz kommt. Wie liebliche Blumen der Gottseligkeit knospen da empor, und welche holden Bächlein demüthiger und selbstverleugnungsvoller Liebesinnigkeit beginnen dort zu fließen. O das wahre Christenthum, das, in der Armsünderschaft wurzelnd, nicht ein Lehrsystem, sondern ein Leben ist, ist gar etwas Anderes, als ein neuer religiöser „Lappen“ auf ein „altes Kleid.“ Es ist ein Wundersaatkorn, aus dem sich eine „neue Kreatur“ entwickelt. „Das Alte ist vergangen; siehe, es ist Alles neu geworden!“ –
Hiermit genug! – Wir haben heute nur das Schwert entblößt, das wie in güldner Scheide in dem Worte unsres Textes verborgen ruht. Es umschließt das Wort aber auch, wie Niemandem entgehen kann, einen Palmzweig, der Frieden nur und Freude uns bedeutet. Wir betrachteten den Ausspruch lediglich, so fern er die falschen Christen kenntlich macht, und richtet. Laßt aber, ihr wirklich heilsbedürftigen Seelen, euch dadurch die unaussprechliche Trostesfülle nicht verkümmern, die er für euch in seinem Schooße trägt. Die ihr noch darum sorget, wie auch ihr Theil gewinnen möchtet am Reiche des Friedensfürsten, schreibt euch unser Texteswort über die Pforte eures Kämmerleins, und laßt es nicht mehr aus euern Augen kommen. – Es sagt euch, daß ihr, um euch Christo zu empfehlen, nicht erst selbst Etwas zu sein, noch mit Etwas ihm zuvorzukommen braucht, indem Er nicht gekommen sei, von euch sich aufwarten zu lassen, sondern daß Er euch diene. Haltet denn sein eigen Wort Ihm vor, und kommt getrosten Muthes zu Ihm, wie ihr seid. Legt euch nackt und blos zu seinen Füßen, und gebet Ihm nicht Ruhe, bis Er aus euch Etwas machte „zu Lobe seiner herrlichen Gnade!“ – Amen.